Hans Nieswandt – Interview zum Album "Flower Hans"

Hans Nieswandt: “Ausgedehnte Aufenthalte in einer romantischen, popkulturellen Traumwelt”

Hans Nieswandt, Still aus „Sweet Algorithm“


Vor drei Jahren hat der Kölner DJ, Produzent und Pop-Magier Hans Nieswandt Deutschland gegen Südkorea eingetauscht. Den Neustart in Seoul hat er sich sicherlich anders vorgestellt, wie er dank Pandemie ausgefallen ist, davon abgehalten die Stadt mit Neugierde zu erkunden hat es ihn aber nicht. Das Ergebnis waren viele neue Eindrücke, festgehalten in Fotos und Texten über seine Social-Media-Kanäle – und schnell auch ein Netzwerk neuer Orte und Protagonisten um ihn herum. Man kann sicherlich sagen, dass er in Seoul heimisch geworden ist. Und so verwundert es nicht, dass sein neues Album “Flower Hans” diverse Musiker:innen aus Seoul, Köln und beyond zusammen bringt.

Heute erscheint der erste Song aus dem Album: “Sweet Algorithm“. Hans Nieswandt war so freundlich ein paar kapute Fragen zu beantworten.

Hans, wir müssen hier ja gar nicht erst versuchen, kritische Distanz und Professionalität vorzutäuschen, insofern gleich mal eine deep gefühlte Gratulation du dem fantastischen Album, ein echtes Family Affairs Projekt mit vielen Freund:innen aus unseren gemeinsamen Tagen am Institut für Pop-Musik der Folkwang Universität der Künste. War die Idee der vielen Zusammenarbeiten sozusagen der Nukleus für das Projekt?

Hans Nieswandt: Thomas, ich habe unsere gemeinsamen Tage dort am Institut immer sehr genossen! Aber Nukleus für das Projekt war das Institut im engeren Sinne eigentlich nicht. Das war eher meine viele, viele Jahre zurückreichende Vorliebe für das „Musik-aus-Musik-machen“, und das ist eng mit der DJ-Herangehensweise an Musik verbunden: wie und wo finde ich die Musik, die ich auflegen will? Musik, die nicht jeder hat? Was sind die verborgenen Pfade zu den speziellen Quellen?

Eine Antwort auf diese Frage: selbstgebackene Edits. Am besten Edits von Songs, die nicht so naheliegend sind, also keine Disco-Edits von Disco-Songs. Sondern Disco-Edits von Nicht-Disco-Songs, von Songs, die nie zum dancen gedacht waren. Und das ließ sich für mich immer sehr gut verknüpfen mit ausgedehnten Aufenthalten in einer Art romantischen, popkulturellen Traumwelt aus einer Zeit, als ich noch viel zu klein war, um mitmachen zu können – die Hippie-Ära. Wohlgemerkt verkläre und idealisiere ich diese Ära nicht, oder nur ein bisschen, es ist eher ein stetes Abklopfen von Material, ein Steine-Umdrehen, man könnte es auch ganz einfach Diggen nennen, immer auf der Suche nach tauglichen Songs, die plötzlich eine ganz andere Gestalt annehmen und Wirkung entfalten, wenn man einen Disco-Beat und -Bass darunter montiert. Es entstehen „andere“ Discostücke, solche, wie ich sie gerne auflege und wie man sie dann eigentlich auch nur in meinen Sets hören kann, weil solche Edits natürlich nicht einfach veröffentlicht werden können.
Es geht also zum einen darum, frisches und exklusives DJ-Material zu generieren, auf der anderen Seite liebe ich es eben, meine Zeit aktiv „in der Musik zu verbringen“ – das könnten natürlich auch eigene Kompositionen sein und sind es manchmal auch, aber als DJ und Musikjournalist usw. hat man nun mal ein notorisches Interesse daran, was die anderen so machen. Und was man damit so anstellen könnte.

Diedrich Diederichsen hat das ja in seinem Buch „Über Pop-Musik“ sinngemäß ungefähr so formuliert: Pop wird erst durch den aktiven Beitrag der Hörenden komplett, durch die Art und Weise, wie Hörende Pop in ihr Leben integrieren. Künstler können die Verwendungweise ihrer Kunst nun mal niemandem vorschreiben, auch wenn das viele bestimmt gerne würden – mein Math Metal darf nur abends in der Badewanne gehört werden, bei Kerzenlicht, Wassertemperatur 38 Grad, dazu gibt es Eiskonfekt, aber nur die roten…so läuft das nicht. Musik neigt zum freien Umherschweifen, sobald sie veröffentlicht ist, das ist Teil des Wunders. Und wie man mit Musik umgeht, wie passiv oder aktiv, wie invasiv, das entscheidet jeder Mensch für sich selbst.

DJs nun haben dabei natürlich eine vergleichsweise besonders intensive und invasive Art der Verwendung entwickelt, sie customizen Songs al gusto, so, wie andere Menschen vielleicht Designer-Klamotten oder -Möbel customizen, auch wenn die Designer das ursprünglich eigentlich nicht vorgesehen hatten und möglicherweise hassen. Ein Paradebeispiel dafür war vor ein paar Jahren dieses Album von Metallica mit Lou Reed, als es bei youtube dann plötzlich all diese selbst gemachten Versionen gab, bei denen „der schlimme, alte Mann“ rausgeschnitten war – hart für Lou, gleichzeitig aber auch nicht ohne Charme und mit einer eigenen Wahrheit.

Als das Institut ins Spiel, bzw. mein Leben kam, war es für mich zunächst mal einfach das Schönste, nach einem langen Tag in Bochum abends in Köln noch ein paar Stunden abzutauchen in die diversen Edit-Baustellen, die ich immer so am laufen habe. Es ist eine ziemlich autistische Tätigkeit, im starken Kontrast dazu, „etwas mit Menschen“ zu machen, wie es das Institut und insbesondere meine Arbeit als Direktor dort mit sich brachte. Schon toll, aber auch anstrengend!

Irgendwann in der frühen Phase meiner Arbeit dort kam die Einladung einer Musikzeitschrift, bei einer CD-Beilage mitzuwirken, und zwar einer mit Cover-Versionen von Songs von Simon & Garfunkel. „So Long Frank Lloyd Wright“ bin ich dann zunächst genau wie einen Edit angegangen, habe dann aber die Original-Bausteine nach und nach durch selbstprogrammierte Elemente ersetzt und schließlich den wunderbaren Sänger Kenji Kitahama, den ich durch einen Remix für seine ehemalige Band Friedrich Sunlight kannte, gebeten, den Gesang dafür aufzunehmen. So erkannte ich, dass man auf eine sehr praktikable, aber auch genussvolle Art Edits in Cover transformieren kann. Daraufhin reifte in mir die Idee, eine Auswahl meiner privaten Lieblingsedits in richtige Coverversionen umzustricken, um sie dann auch normal veröffentlichen zu können. Und dann lag es natürlich total nahe, meine talentierten und coolen Studierenden einzuladen, bei diesem Projekt mitzumachen. Die dazu auch durch die Bank große Lust hatten.

Es ist ja eigentlich eine klassische, popkulturelle Vorgehensweise: bis Mitte der 60er Jahre war es ziemlich unüblich, dass Pop-Künstler ihr Repertoire selbst schreiben, das wurde von Leuten wie Goffin und King im Brill Building oder sonst wo erledigt. Natürlich will das heute aus ökonomischen Gründen niemand mehr mitmachen, weil alle wissen, dass es um Copyrights geht, um Sync-Rechte, um Lizensierungen an Film, Fernsehen, Werbung und so weiter. Deswegen stehen hinter vielen Songs ja heute zehn und mehr Namen, die alle irgendwie daran mitgeschrieben haben und alle Teil der Verwertungskette sein wollen. Einige Labels haben auch aus genau diesem Grund abgewunken, die Platte zu veröffentlichen: wenn die Autorenrechte der Songs woanders liegen, bei irgendwelchen US-Verlagen, sind die Monetarisierungs-Perspektiven zu klein. Von der Wirtschaftslogik her nachvollziehbar, deswegen gibt es ja heutzutage auch all diese würdelosen Soundalikes und penibel modifizierten Melodien, damit man den Originalautor:innen auch ja keinen Credit geben muss.

Ein weiterer Grund, warum das Arbeiten mit meinen Studierenden, besonders den Singenden, mir plötzlich so einladend und naheliegend erschien, war lustigerweise das Thema Karaoke. Ich hatte irgendwann mal verkündet, dass wir bei der nächsten Instituts-Weihnachtsparty Karaoke singen würden, weil ich festgestellt hatte, dass es bei Youtube mittlerweile erstaunlich viele Karaoke-Versionen von Songs findet, von denen man es nicht unbedingt vermutet hätte, sagen wir sowas wie „Sexbeat“ von Gun Club und unzählige coole Sachen mehr, die zu singen Spaß bringt. Vor allem, wenn die Leute durch die Bank tatsächlich singen können.
Nach dem ich das angekündigt hatte, kam Dominik Otremba auf mich zu, einer meiner Studis (und nebenbei der kleine Bruder von Hendrik Otremba), mit seinen schwarzen Klamotten, langen Haaren und schweren Stiefeln und meinte zu mir mit finsterer Miene: „Sag mal ist das dein Ernst? Karaoke?“ Ich meinte: „Ja Dominik, das ist mein Ernst.“ Darauf er: „Dann bin ich dein Mann.“ Wie sich herausstellte, veranstaltete und moderierte er einmal im Monat eine Karaoke-Party im Autonomen Zentrum Recklinghausen, of all places. Er hat sich dann mit großer Hingabe auch unserer Karaoke-Party gewidmet und ich habe ein weiteres mal erkannt, dass man die Leute wirklich nicht nach ihrem Aussehen beurteilen kann.

Coverversionen herzustellen bedeutet also in gewisser Weise auch, Karaokeversionen zu basteln. Mittlerweile ist das natürlich noch viel komfortabler geworden, mit den neuen Apps, die Songs in wenigen Minuten in ihre Bestandteile zerlegen, so genannte Stems, also vier, fünf Spuren, Bass, Drums, Gesang, der ganze Rest, alles wie von Zauberhand bzw. einer AI mehr oder weniger sauber getrennt, so dass man plötzlich nicht nur Instrumentalversionen von, sagen wir, Bob-Dylan-Songs hat, die man dann selber interpretieren kann, sondern natürlich auch die freistehenden Dylan-Acapellas, die man dann wiederum in seinen DJ-Sets über irgendwelche Minimaltechno-Tracks oder was auch immer mixen kann. Ach es ist herrlich! Und es ist so sehr das Gegenteil von passivem Musikgenuss! Ich liebe es einfach, in Musik wie ein Delphin hineinzuspringen, darin Tunnel zu graben wie ein Maulwurf, und sie in die Luft zu werfen, dass sie mir auf die Glatze prasselt!

Spielte dein Umzug von Köln nach Seoul dafür auch eine große Rolle, also im Sinne von „wenn ich doch soweit weg wohne und meine Freund:innen so selten sehen kann, dann arbeite ich eben mit ihnen zusammen“?

Mein Umzug fiel ja mehr oder weniger mit dem Beginn der Corona-Pandemie zusammen, so dass es, abgesehen von der Zeitverschiebung, kaum einen Unterscheid gemacht hat, ob ich nun in Köln vor dem Rechner saß oder in Korea. So hat sich die Kommunikation von Anfang an eigentlich sehr umstandslos und selbstverständlich angefühlt, als wenn man gar nicht so weit weg ist. Außerdem ist es ja erfreulicherweise auch so, dass mittlerweile praktisch alle jungen Musikmachenden, ob sie singen, Gitarre spielen oder drummen, in der Lage sind, bei sich zu Hause professionell aufzunehmen. man muss also überhaupt nicht mehr in einem Studio zusammenkommen und gemeinsam „jammen“ o.ä. – das hat sicherlich auch seinen Reiz und führt zu Ergebnissen, die man nur auf diese latent unkontrollierbare Weise erzielen kann. Aber für die meisten Projekte ist es ja vollkommen okay, Files geschickt zu bekommen, die man dann halt in das entsprechende Projekt einbaut. Schön ist allerdings, dass man auf diese Weise trotzdem gemeinsame Sache macht und sich nicht nur einen erzählt. Man bleibt in einer Art passioniertem Kontakt und es entsteht etwas dabei.

Das rote Studiotelefon zwischen Seoul und Deutschland ist aber nur der eine Teil der formalen Hintergrundgeschichte zu „Flower Hans“, der andere sind die lokalen Kollaborationen in Seoul, wie beispielsweise für den hittigen Aufmacher-Track „Friends & Lovers“.

Nachdem ich hier angekommen war und es dann auch direkt mit Corona losging, war es natürlich gar nicht so einfach, unter Leute zu kommen, neue Menschen kennen zu lernen – ich hatte mich darauf eingestellt, dass ich zunächst mal viel für mich sein würde und auch mit DJing nicht viel laufen würde. Dass aber im selben Moment wie ich auch praktisch alle anderen DJs der Welt kaltgestellt werden würden, damit war nicht zu rechnen. Die – naheliegende – Lösung für mich waren natürlich Plattenläden.

In Seoul gibt es eine ganze Menge kleiner, toller, Inhaber-geführter Plattenläden, oft mit ganz erstaunlich kuratiertem Programm, sagen wir: Deep House, Krautrock und koreanische Schlager. Oder Lovers Rock, Detroit Techno und Neue Musik. Wunderbar. In diesen Läden habe ich viele Kontakte geknüpft, und in manchen standen sogar Platten, die ich gemacht hatte.
Die anderen Orte, die für Leute wie mich logische Magnete sind: Equipment-Shops. Und weil ich, wie viele Menschen während der Pandemie, Zeit dafür hatte, etwas Neues auszuprobieren, habe ich dann, anstatt Sauerteigbrot zu backen, beschlossen, mir einen modularen Synthesizer zu kaufen. So stieß ich auf den famosen „Ringo Shop“ und seinen Besitzer Hojin Lee, der auch ein großartiges Techno-Label hat, Kapture Records, Live-Modular-Gigs spielt usw. Im Ringo Shop arbeitete damals auch Abopf (kurz für A Bird Of Paradise Flower), eher eine ernste Elektronikerin und Klangkünstlerin wie Sonae oder Park Jiha oder so, die aber Lust dazu hatte, auf „Friends And Lovers“ zu singen, was dann bei Hojin im Studio aufgenommen wurde und super geworden ist.

Deine Linernotes nehmen mir den Job der Genreeinordnung ja angenehmerweise ab: „Flower Hans, A Disco Fantasy – Ten songs from the hippie era reimagined in disco fashion“. Nun sind ja viele deiner „Studio“-Partner:innen eher Kids der 90er oder fast schon Nullerjahre, musste du da erstmal Kaffee-Sessions mit Geschichtsexkurs einlegen, um den Grundvibe für das Album zu legen? Hast du analog zu den erwähnten Tapes, die Detlef Diederichsen für dich gemacht hat ihnen Playlisten zusammen gestellt?

Wie du schon ganz richtig gesagt hast, handelt es sich ja um Kids der 90er, und die ticken ja nun in mancherlei Hinsicht schon deutlich anders als die Kids der 60er und der 70er wie zum Beispiel wir. Insbesondere sind sie mehr oder weniger mit einer Gleichzeitigkeit aller Musikstile aufgewachsen, haben das nicht so stark als eine lineare Geschichte und Reihenfolge von Revolutionen erlebt, bei der Sachen „out“ werden und andere „in“, und wenn man da nicht Bescheid weiß, ist man sowieso out usw. Für sie war stets everything everywhere all at once, dank youtube.

Viele der Studierenden, die jetzt auf der Platte mitgemacht haben, haben sowieso ein großes Herz für Hippie-Attitüden, vielleicht auch, weil diese Ära, um nochmal Diedrich zu zitieren, eben zu der „heroischen Phase der Popkultur“ gehörte, die Mitte der 90er Jahre schon längst vorbei war. Dafür konnte man sich dann aber ab diesem Zeitpunkt hemmungslos in all diesen Mythen und Musiken aalen und eklektisch bedienen, wie es bis heute immer noch so ist. Das gilt nicht nur für Hippiemusik, das gilt für einfach alles seit es produzierte und konservierte Musik gibt.

Mir gefällt, dass du die Disco-Hippie-Connection auch als explizit soziopolitische Mission erdest in deinen Linernotes: „Both came out of that era’s liberating spirit, along with the civil rights movement, anti- war activism, the fight for gay rights and a taste for mind expansion.“
In der Westlichen Musikproduktion und auch Musikrezeption hat das ja – zumindest im links-aufgeklärten Milieu – Tradition, wie sieht es damit denn in Südkorea aus, die dortige Musikszene ist ja eher für ihren immensen Geschäftssinn bekannt, Stichwort: K-Pop.

Man muss in Südkorea schon ein bisschen genauer hinsehen, um die gute Musik und die guten Leute jenseits von K-Pop zu finden. Die Szene ist klein, aber es gibt sie, und aus meiner Sicht wächst und entwickelt sie sich auch rasant. Bald wird man auf viele neue Namen stoßen, Leute wie Salamanda, Bela, Haepaary, Kisewa und viele andere, die stärker dem selbstbestimmtem Künstler:innen-Bild verpflichtet sind, wie es im Westen selbstverständlich ist. Die Pop-Geschichte von Südkorea ist nun mal deutlich kürzer und spezieller als die der USA, von UK, Deutschland oder auch Japan. Insofern ist es auch eine sehr spannende Zeit genau jetzt, weil sich eben „im Underground“ viele dazu anschicken, einen neuen, koreanischen Sound zu entwickeln, vielleicht einen Gegenentwurf zum alles dominierenden, extrem erfolgsorientierten K-Pop. Und da man sich hier immer enorm reinhängt, um dies oder jenes zu meistern, kann man sich auf hohe Qualität gefasst machen.

Apropo K-Pop. Ich will dem Genre ja nicht unrecht tun, es gibt da doch einiges zu entdecken. Insofern wär das ja auch eine Idee für ein „Ich-lebe-nun-in-Seoul“-Album gewesen: Hans goes K-Pop. Absurd? Oder next up?

Da sich K-Pop ja u.a. dadurch auszeichnet, dass die Protagonist:innen nicht nur sehr jung und wahnsinnig gutaussehend sind, und unfassbar präzise tanzen können, sondern auch gesellschaftliche Vorbilder in Sachen Moral, Anstand und Disziplin sein müssen, weiß ich nicht, ob ich in meinem Alter und mit meiner latent eher bohemistischen Attitüde da viele Blumentöpfe holen kann…darüberhinaus liegt mir auch das Prinzip der Song Machine nicht besonders, also das industrielle, arbeitsteilige Herstellen von Hits in großen Teams mit Spezialist:innen für jedes Detail, Intros, Beats, Toplines, Pre-Chorus und all dem, mit dem größtmöglichen kommerziellen Erfolg als Maxime. Mag sein, dass es heute nun mal so läuft, wenn man die Mit-Wettbewerber zerstören will. Aber man muss sich diese Logik ja nicht zu eigen machen. Abgesehen davon habe ich aber natürlich schon vor, hier noch mit einer Menge eher gleichgesinnter Leute Musik zu produzieren!

Wie nimmst du denn generell die Szene vor Ort in Südkorea war?

Als erstaunlich klein, wenn man die gigantische Größe der Stadt bedenkt. Der wichtigste Techno-Club der Stadt, Faust, ist etwa so groß wie das Kölner Gewölbe. Eher subkulturelle House- und Discomusik findet oft in kleinen Bars mit DJ-Pult und Mini-Tanzfläche statt. davon gibt es etliche, die auch alle sehr nice und cool sind. Dort trifft man immer wieder auf dieselben Gesichter, was aber natürlich auch sehr angenehm ist und an Köln erinnert.

Eine lokale Spezialität sind die Record Bars, eine alte Tradition noch aus der Zeit, als kein Mensch Geld für Platten oder Turntables hatte. Früher waren das einfach, kleine Läden, heute sind sie oft toll designed, mit den besten Vintage-HiFi-Anlagen und dem entsprechenden Mobiliar, und in einer weit aufgefächerten, musikalischen Bandbreite. Dort geht man aber nicht hin, um Party zu machen, sondern um konzentriert Musik zu hören. In einer meiner liebsten, Tiger Disco im Stadtteil Euljiro, kriegt man sogar vor der Getränkekarte eigens ein Clipboard mit Regeln, dass man etwa von „Loud Talking“ und „Excitement“ absehen soll, sondern das Prinzip des „Drinking“ und „Listening“ beherzigen. Es wird sehr gerne gesehen, wenn man dort alleine aufkreuzt, und auch bitte ohne „Food Smell“.

Was Musikproduktionen betrifft, jenseits von K-Pop, ist der technische Standard hoch, die eigenen Handschriften dagegen zum Teil noch etwas unausgeprägt. Das befindet sich aber, wie gesagt, in einer dynamischen Aufwärtsentwicklung. Das Selbstvertrauen im Land und auch in der eher subkulturellen Szene ist, nicht zuletzt durch die jetzt sehr große Popularität von allem, was ein K vorne dran hat, stark ausgeprägt, eine gute Voraussetzung, um nachzulegen, was die Originalität betrifft.

Für das Verständnis des Produzenten Hans Nieswandt ist der DJ Hans Nieswandt von großer Bedeutung. Das hört man auf „Flower Hans“ aus jedem Takt. Konnte „Flower Hans“ erst richtig Form annehmen als du endlich auch wieder als DJ aktiv sein konntest vor Ort oder hast du analog zu Obelix für immer genug Club im Blut und brauchst gar nicht mehr die Momente der Erneuerung?

Wie gesagt, alles fing mit Edits and, noch zu meiner Zeit in Köln und in vorpandemischer DJ-Herrlichkeit. Aber du hast schon recht, ich brauche nicht viel auszugehen, um Clubtracks zu machen. Wobei ich den Club wohl weniger im Blut als im Kopf, in meiner Fantasie habe.

Hans Nieswandt, Still aus „Sweet Algorithm“

Das Bashing des Internets und vor allem der Sozialen Medien ist ja State of the Communication heutzutage. Alle kleben dran, doch wirklich positive Gefühle kann keiner abrufen. Was hat deine Gefühle für den „Sweet Algorithm“ geweckt.

Also grundsätzlich liegt mir, obwohl ich ja auch Autor bin, nicht besonders viel am Texten von Songs, gerade im Kontext von Dancetracks – es ist mehr eine Textur, schon auch eine interessante Sprachebene, aber persönlich habe ich kein besonders ausgeprägtes, lyrisches Mitteilungsbedürfnis. Ich finde das irgendwie prätentiös und habe im Prinzip auch keine besondere Schwäche für Songtexte an sich, weil ich vor allem mit Texten aufgewachsen bin, bei denen ich kein Wort verstanden habe.

Natürlich gibt es auch Lyrics und Lyric People, die ich super finde, aber mein Hauptzugang ist bis heute sozusagen eher der gefühlte Inhalt als der reale. Vor Jahren hatte ich übrigens mal die Idee für ein Buch über „Dance Lyrics“ und all ihre verschiedenen Spielarten – die meisten Dance-Texte kommen ja in so einer Art Befehlston, man soll dies und das tun und fühlen und wollen – da knüpft „Sweet Algorithm“ teilweise an, wobei es für mich vor allem darum ging, eine gute Balance zwischen rhythmischer Passgenauigkeit und inhaltlicher, na sagen wir, relevanter Andersartigkeit zu erzeugen.

Ich kenne jedenfalls bis jetzt noch keinen Dancetrack mit dieser Art Inhalt, der allerdings auch über weite Strecken assoziativ ist und viel Interpretations-Spielraum lässt – um Erobique zu zitieren: „Aber ich weiß es doch auch nicht!“ Jedenfalls schien mir das als Vorschlag plausibel, dass in einer modernen Welt, die von Algorithmen getrieben immer mehr schismatisch auseinanderdriftet, freundliche Algorithmen ranmüssen, die diese Entwicklung positiv beeinflussen können.

Ich sprach es bereits an, für „Flower Hans“ hast du mit mehr als einer Handvoll unserer Studierenden am Institut für Pop-Musik zusammen gearbeitet: Melissa Muther, Isabelle Pabst, Dominik Otremba, Lukas “Opek” Joachim, Ozan Tekin, Dennis Kresin. 
Jetzt wo alle Welt sich am Zucker von K-Pop nährt, wie sieht denn der Markt für die contemporary Popentwürfe der westlichen Produzent:innen in Südkorea aus?

Diese Frage ist für mich nicht so einfach zu beantworten, weil sich hier wie im Westen vieles in einer Parallelwelt der Charts abspielt, von der ich noch nie besonders viel mitgekriegt habe. Neulich gab es, ich meine in der SZ, einen Artikel über den Umstand, dass die Hits immer melancholischer werden, dazu eine Liste mit den 100 erfolgreichsten Songs des Jahres 2022. Ich kannte genau einen: „Running Up That Hill“ von Kate Bush. Und auch von den Künstlern war mir vielleicht ein Zehntel ein Begriff. Wer sind all diese Leute? Wie kann ich mich den lieben, langen Tag mit Musik beschäftigen, auch mit jeder Menge nagelneuer Musik, und trotzdem scheinbar gar nichts kennen?

In Korea gibt es zudem einen starken Impuls dafür, alles in koreanischen Varianten herzustellen: Naver App statt Google Maps, Papago statt Google Translator, Kakao Taxi statt Uber, Kakao Talk statt Messenger oder Whatsapp – alles wird in der koreanischen Variante benutzt (und funktioniert im allgemeinen besser als die US-Versionen).
Das gilt aus meiner Sicht auch für weite Teile der Popkultur – die Idee, etwas zu nehmen und zu verbessern oder zu customizen für die eigenen, in diesem Fall koreanischen Bedürfnisse hat enorme Bedeutung. Daher ist der Markt für westliche Produktionen und Produzent:innen eher klein, es sei denn, sie kommen aus Schweden und machen K-Pop.

Das Cover ist natürlich ein Knaller: ein Blumenladen namens Flower Hans, kann man nicht liegen lassen. Eigentlich hatte ich ja mit einem klassischen Seoul-Motiv gerechnet, wie du sie so oft auf deinen Entdeckungsreisen durch die Stadt entdeckst und postest. Aber ich hörte dafür gibt es einen echten K-Pop-inspirierten Videoclip mit Tänzer:innen und slicken Streetvibes. Was kannst du dazu verraten und gibt es denn Clip schon zu sehen?

Das Cover ist durchaus ein klassisches Seoul-Motiv, das ist ein real existierender Blumenladen in Itaewon, den wir mal beim Fahrradfahren entdeckt haben! Leider sieht man es nicht so richtig, dass das in Korea ist, aber das ist vielleicht auch nicht so wichtig. Es war auf jeden Fall für die Idee des Albums sehr nahliegend und passend, und die reizenden Besitzer haben sich auch sehr darüber gefreut, dass ihr Laden auf ein Plattencover kommt.

Die sagenhafte Ambiguous Dance Company, die im Video zu „Sweet Algorithm“ auftritt, ist im engeren Sinne nicht aus dem K-Pop-Kontext, eher an der Schnittstelle zwischen Street- und Contemporary Dance, aber mit wesentlich mehr Humor als im zeitgenössischen Tanz sonst meist zu sehen. Eine großartige Truppe, ich war sehr happy, als sie sich bereit erklärten, in meinem Clip mitzumachen. Der auch wirklich nicht besonders slick ist, eher eine Hommage an das alte, enge, kleinteilige Seoul der 70er, als Gangnam noch ein Acker war, stattdessen gedreht im Stadtteil Euljiro, dort ist noch viel von diesem Old-School-Vibe erhalten, wenn auch gefährdet und umkämpft.

Ich möchte noch mal kurz auf die soziopolitische Dimension der Musik zurück kommen, mit Tracktiteln wie „Tale In Hard Time“, „I saw An Angel Die“ und „Song For Insane Times“ gehst du auf die bedrückende Situation der letzten Jahre ein, wie sehr ist „Flower Hans“ am Ende für dich auch ein Manifest an die Musik als saving Zone?

Naja, es handelt sich ja sozusagen um den Versuch einer Verschränkung zweier kultureller Entwürfe, die in ihren jeweiligen Pioniertagen ja wirklich eine Menge miteinander zu tun hatten, insbesondere unter dem Gesichtspunkt der Gestaltung safer Spaces, in sozialer Hinsicht, in technologischer Hinsicht, und in den frühen Discos lief ja auch so mancher groovy Hippietrack, der sich dafür anbot, neben Soul und Funk. Und umgekehrt ist ja auch Rockmusik ohne afrikanisch-amerikanische Grooves nicht denkbar. Alles also Erfolgsmodelle voller Idealismus, Integration, Kommunikation, Fortschritt, Humanismus, Liberalismus, Liebe & Frieden usw.

Das hat sich dann natürlich innerhalb weniger Jahre u.a. unter dem Einfluss des Marktes, der Gier, der Drogen usw. in so manche Schrecklichkeit verwandelt. An diese frühe, offene Phase zu erinnern und diese als Anregung noch mal vorzuschlagen, war sicherlich eine Motivation während der Entstehungszeit. Es gab da ja plötzlich auch all diese großartigen Bücher, zum Beispiel von Tim Lawrence über Disco History, die viele Zusammenhänge aufzeigen und vor allem den sozialen Idealismus hervorheben. Und die sich auch sehr dafür anbieten, sich in diese Zeit hinein zu fantasieren.

Vor Ewigkeiten hatte ich mal ein Interview für die Spex gemacht mit Stephen Duffy, bei dem wir auch über die aller-allerersten Discos gesprochen haben. Ich meinte, dass damals die Musik noch überhaupt nicht gemixt wurde, sondern die Stücke ganz ausgespielt wurden. Er so: „Ja, mit dem ganze Fade-Out. Vielleicht haben die Leute wunderschöne Dinge zu einander gesagt während des Fade-Outs“. Das wünsche ich mir auch für meine Songs. Allerdings haben die keine Fade-Outs, sondern Mix-Beats. Aber egal!

Zum Schluss würde ich mich für deine aktuellen drei Musiktipps aus Südkorea (gerne mit Links) interessieren?

Ein tolles Duo ist Salamanda. Ihre freundliche Musik wird zwar auf den Plattformen meistens als Ambient gefiled, aber eigentlich ist es kein richtiger Ambient, dafür ist es zu rhythmisch, es tröpfelt und blubbert an allen Ecken und Enden, und dafür hat es auch zu viel hintergründigen Humor. Die beiden sind auch ein tolles DJ-Gespann und ich glaube, die werden bald weltbekannt. Ihre letzte LP ist schon in New York erschienen, bei dem guten Label Human Pitch von Tristan Arp.

Ihr Freund bela ist vor kurzem nach Berlin gezogen und man sollte ihn dort unbedingt auschecken. Sein Album „Guidelines“ ist schon von 2021, aber es ist der Hammer – eine elektronische Übersetzung des traditionellen, koreanischen Folk-Musikstils Nongak, ziemlich krass und hart, abstrakt und mit ungeraden Taktzahlen, aber völlig fesselnd und magnetisch.

Haepaary, ebenfalls ein weibliches Elektronik-Duo, aber mit mehr Text und Song als Salamanda. Sie nehmen in ihrer Musik auf eine andere traditionelle, koreanische Musikform Bezug, nämlich den Gesangsstil Pansori, aber auf einer elektronischen Basis, sehr modern, aber eben auch sehr koreanisch.


Wird es eigentlich Remixe geben? Auch von Südkoreanischen Musiker:innen?

Remixe sind aktuell keine geplant, erst mal sehen, wie die Songs für sich bestehen können!

Letzte Doppelfrage: Was ist der ideale Ort in Köln, um das Album zu hören? Und in Seoul?

Obwohl es praktisch durchgängig eine Danceplatte ist, kann man sie, glaube ich, sehr gut zu Hause hören und dazu tanzen, als wenn keiner zusieht 🙂 egal ob in Köln oder Seoul. In Seoul aber sicherlich auch nachts im Auto, obwohl da eigentlich für mein Empfinden Detroit Electro von Dopplereffekt am idealsten passt. Oder in einer Rooftop Bar mit Terrasse. In Köln ansonsten natürlich draußen, unten am Rhein!

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