Talking Musikjournalismus: Julian Brimmers

Julian Brimmers “Es ist prekär, aber it’s fun!”

Julian Brimmers (Photo: Carys Huws)

Kannst du dich an den ersten musikjournalistischen Text erinnern, den du gelesen hast? 

Julian Brimmers: An einen ersten Text nicht direkt… aber ich kann mich erinnern, dass es im Hollandurlaub 1991 MTV Europe gab und die Top 5 (5 war ich übrigens auch) bestanden aus:
KISS – “God Gave Rock & Roll to You”
RHCP – “Under The Bridge”
Nirvana – “Smells Like Teen Spirit”
Guns N Roses – “November Rain” (oder “Don’t Cry”?)
Mr. Big – “To Be With You”

Offensichtlich hat das alles Eindruck hinterlassen.

Ansonsten erinnere ich mich gut an die Juice-Ausgabe mit Busta Rhymes auf dem Cover und das Backspin-Magazin mit dem New Yorker Sprüher BLADE (King of Trains).
In Letzterem gab es einen Gang Starr Artikel und dank meines großen Bruders liefen die zuhause rauf und runter. Hintergründe zu meiner Lieblingsmusik zu erfahren, fand ich superspannend. Vor allem die Interviews.
Magazine hatten damals eine andere Aufgabe, da sie popkulturelles Wissen nicht nur einordnen und veranschaulichen mussten, sie waren ja das Wissen. Entsprechend habe ich alles an deutschen, UK und US Magazinen gelesen, was ich in die Finger bekam.

Gibt es ein Schlüsselerlebnis, das in dir den Wunsch geweckt hat, selbst musikjournalistisch zu arbeiten?

Als Teenager in den 1990ern waren es vor allem Skatepunk und HipHop, die mich und mein ländliches Umfeld begeistert haben. Mitmachkulturen im weiteren Sinne.
Als ich bei meinem Freund Henrik AKA HADE – bis heute ein umtriebiger Producer und DJ – zum ersten Mal gesehen habe, wie tatsächliches musikalisches Talent in the flesh aussieht, war mir schnell klar, dass ich selbst irgendwie anders beitragen muss. Reviews schreiben und Acts interviewen war ein früher aber fern scheinender Wunsch.

Völlig random, aber fällt mir grade ein:
Als gerade-so-Teenager hat mein musikbegeisterter Vater über halbseidene Kontakte ins Brauereiwesen mich und meine Freunde immer mal wieder in den VIP-Bereich von Festivals (er selbst hatte da eigentlich auch nicht wirklich was zu suchen) geschleust. Besagter talentierter Freund fragte mich damals, ob ich ihm ein Autogramm vom Sänger der Band A (“Here we go again, naa naa…”) besorgen könne, weil ich ja ein bisschen Englisch kann. Mit dem haben wir uns dann voll nett unterhalten… und mein Vater hat derweil am Viva-2-Stand Henry Rollins gestalked, meine ich. Vielleicht hat das ja irgendwas ausgelöst?

Was reizt dich am Format Musikjournalismus? Was zeichnet für dich guten Musikjournalismus aus?

Das mag nicht der populärste Take sein… aber am Musikjournalismus hat mich immer die Ebene angesprochen, dass es sich eben NICHT SO WIRKLICH um Journalismus handelt. Eher um relativ prosaisch ausgearbeitete Meinungen über eine vermeintliche Nebensache.

So wie ich ihn verstehe, basiert der beste Musikjournalismus auf einem stillen Einverständnis zwischen Schreibenden und Lesenden, dass das Denken über Popkultur maximal subjektiv ist. Genau deshalb darf man auch über objektiv nicht lebenswichtige Dinge so schreiben, als hinge alles davon ab. Das ist ein fast schon spielerisches Abkommen, im Rahmen dessen man unheimlich viel Persönlichkeit einbringen und sich in alle möglichen Richtungen bewegen darf. Meiner Meinung nach ist dies das Erbe der Fanzine-Kultur und ich finde es romantisch, dass diese Konstante nie aufhört.

(Teilweise war dies – gerade im deutschsprachigen Raum – auch ein Nachteil des Pop-Schreibens, vor allem, als die Redaktionen noch zu 100% mit Bildungsbürger-MÄNNERN besetzt waren, die mit Proseminsarsblick anderen MÄNNERN die Welt erklären wollten.)

Auf dieser Grundlage bietet Popjournalismus ein großes Spektrum an Möglichkeiten: man kann politisch werden, kulturhistorisch, sehr ernst oder albern. Den Dichter & Pop-Essayist Hanif Adburraqib zum Beispiel schätze ich sehr, weil er es immer wieder schafft, ausgehend von oft harmlos wirkenden Songs eine ganze Welt an Emotionen auszuloten.

Der ebenfalls großartige Blogger Andrew Noz twitterte mal, er wünsche sich ein Magazin wie The Wire mit dem Humor und der Lässigkeit von EgoTrip. Dem Wunsch kann ich mich nur anschließen.

Gibt es einen Lieblingsbeitrag (von anderen Musikjournalist:innen)?

Das Buch “Dance Your Way Home” von Emma Warren. Eine Kulturgeschichte des Amateurtanzens / Clubbings – von irischen Volkstänzen über Chicago House, Jungle und Dubstep, bis hin zu Tanzabenden im Seniorenheim. All das wird zusammengehalten von ihrer eigenen kulturellen und somatischen Dancefloor-Erfahrung. Fantastisch.

Dieselbe Frage auch für dich selbst: welchen Beitrag aus deinem Werkskatalog ordnest du aktuell als deinen wichtigsten ein?

Nur im entfernteren Sinne eine journalistische, aber eine sehr erfüllende, Arbeit war “We Almost Lost Bochum”, ein Film über die Geschichte der 90er Deutschrap-Band RAG, den mein Freund Ben Westermann und ich 2020 ins Kino gebracht haben.
Dieses Projekt haben wir alleine umsetzen können, niemand hatte uns darum gebeten oder hing finanziell mit drin, und es hat ein viel größeres Publikum gefunden, als wir es uns erhofft hatten. Das hat mich sehr darin bestärkt, dass man gewisse Sachen wirklich einfach machen muss, wenn sie einem nicht aus dem Kopf gehen.

Ansonsten vielleicht dieses Interview mit Hua Hsu vom New Yorker, für The Creative Independent. Ich fragte ihn nach der schwierigsten Story, an der er je gearbeitet hat. Er meinte, dass es genau eine Geschichte gäbe, an die er sich nie rangetraut hat: die Ermordung seines besten Freundes zu Collegezeiten, und die Musik, die ihn und seine Freunde damals geprägt hat. Glücklicherweise hat er sich wenig später dann doch an den Stoff getraut und ihn zu einem Buch verarbeitet, “Stay True”. 2023 bekam er dafür den Pulitzerpreis. Das würde ich auch wirklich gern empfehlen.

Gibt es einen unveröffentlichten Beitrag von dir, den du schon immer gerne mal publizieren wolltest, es sich aber nicht ergeben hat? Kaput bietet sich im Rahmen der Serie gerne dafür an. 😊

Eine Geschichte, für die ich bereits einen Auftrag und mehrere Interviews im Kasten hatte, ist die amerikanisch-deutsche Biografie der Avantgarde-Jazz Sängerin Jeanne Lee. Das hat damals aus verschiedenen Gründen nicht geklappt – und mittlerweile denke ich, dass die Story einen besseren Doku-Film als ein geschriebenes Feature hergibt. (Ich denke auch, dass es an der Zeit ist, dieses Vorhaben endlich umzusetzen.)

Deine 3 Lieblings-Musikjournalist:innen?

Emma L. Warren (London)
Hanif Abdurraqib (Columbus, Ohio)
Jeff Weiss (Los Angeles)

Du bist selbst seit Mitte der 2000er Jahre als Autor aktiv. Was sind die einschneidendsten Veränderungen in deinem persönlichen Berufsprofil über diesen Zeitraum?

Ich habe angefangen bei der Juice Texte zu schreiben, als die Gehälter grade um die Hälfte gekürzt wurden. Jedes (deutsche) Printmedium, für das ich geschrieben habe ist tot… oder jedenfalls nicht mehr lebendig. Die wohl einschneidendste Veränderungen ist der komplette Zusammenbruch des Musikmarktes und die ständige Entwertung von Kunst (zum Beispiel. durch nicht profitable Streamingplattformen u.ä.). Damit einhergehend, dass musikjournalistische Arbeit finanziell in den allermeisten Fällen bloß ein Teil der monatlichen Mischkalkulation ist. Das ist alles sicher bejammernswert, bringt aber auch eine Menge Leute mit viel idealistischer Energie und Kreativität ins Spiel. Daran hat es aber ja eh nie gemangelt.

Und über den eigenen Horizont hinaus: wie empfindest du den Status Quo des Biotops Musikjournalismus im Jahr 2024 im Vergleich zu früher?

Die Möglichkeiten, popjournalistisch tätig zu werden und Gehör zu finden, waren noch nie so groß und vielfältig. Ich bilde mir ein, es gibt weniger Gatekeeper’ei, und in der allgemeinen jahrelangen Katerstimmung empfinde ich zumindest eine größere Solidarität und weniger behämmertes Konkurrenzdenken unter den (jetzt auch nicht grade zahlreichen) Kolleginnen und Kollegen. Es ist prekär, aber it’s fun!

(Wie) kann man Musikjournalismus in das Storytelling von TikTok und Instagram überführen?

Mein Eindruck ist ehrlicherweise, dass das Besprechen und Vorstellen von Musik auf verschiedenen Kurzvideo-Plattformen schon sehr gut funktioniert.
Mein liebster Instagram Kanal ist @dametalmessiah, ein UK-Musik-Archiv, das vor allem Grime, Dubstep und Garage abbildet. Kritik ist dort nicht wirklich vorhanden, dafür eine tolle Sammlung und Einordnung. Prinzipiell finde ich die Umsetzung von ernsthafter Beschäftigung mit Musik auf allen neuen Plattformen erstaunlich gut. Auch wenn tiefergehende Analysen logischerweise in Büchern und Podcasts noch eher zu finden sind. Aber es ist doch lustig zu sehen, dass TikTok für viele (ältere) die Pest darstellt, sich dort aber gleichzeitig ein Kult um so etwas wie das Demenz-Album von The Caretaker bilden kann.

Stichwort Karriere. Ab wann war Musikjournalismus für dich eine Berufsoption?

2011 kam ich von einem Praktikum bei einem Plattenlabel in Brighton zurück nach Köln und fing dort an, als Redakteur bei Yadastar zu arbeiten. Das war die Agentur hinter der Red Bull Music Academy. Dank des ungewöhnlichen Brausen-Deals konnte man in diesem Rahmen von 1998–2018 popkulturelles Arbeiten ermöglichen, wie es in den 1990ern scheinbar “normal” gewesen war (zumindest haben das immer alle gesagt), das heißt mit okayen Gehältern und wahnsinnig tollen Erfahrungen und Begegnungen rund um den Erdball. Das spiegelte die Realität der Musikindustrie (und bezahlter Musikjournalismus stand ja nun immer in einem gewissen Abhängigkeitsverhältnis zur Industrie, mehr als in anderen Bereichen) der Jahre 2011 – 2017, in denen ich dort als freier und fester Redakteur beschäftigt war, keineswegs wider. In vieler Hinsicht war dieser Job also ein großes Glück, aber auch entsprechend realitätsfern.

Mich mit Popkultur zu beschäftigen war auch danach der Kern all meiner Arbeitsaufträge, aber das reine Schreiben über Musik und Interviewen von Musiker*innen nur noch ein Teil meines Arbeitsportfolios. Persönlich habe ich diesen Deal auch immer vorgezogen… die Vorstellung, aus beruflichen Gründen über Themen schreiben zu müssen, die mich nicht wirklich interessieren, fände ich nicht so schön. Dafür kann ich inhaltlich bei anderen Jobs weniger wählerisch sein, klar.

Mein größtes Glück war und ist, glaube ich, zu gleichen Teilen auf Deutsch und auf Englisch arbeiten zu können. Das hat die Möglichkeiten doch erheblich gesteigert.

Bereust du die Berufswahl manchmal?

Persönlich nicht, nein. Musikjournalistisches Arbeiten bildet nach wie vor das Fundament all meiner Projekte. Lohnerwerbsmäßig hat es sich ehrlicherweise in Richtung Redaktion, Film, Festivals, Copywriting, Übersetzung etc verlagert. Durch die Diversifizierung im Alltag hat sich meine Begeisterung für Popkultur sogar eher wieder verstärkt. Und die Erfahrungen, die ich in den letzten 15+ Jahren in diesem Job machen durfte, haben all meine Teenage-Erwartungen übertroffen. Tun sie immer noch.

Letzter musikjournalistische Beitrag, der dir so richtig gut gefallen hat.

Jeff Weiss als embedded Journalist auf der Abschiedstour von The Grateful Dead.

Oder Jeff Weiss über Andre 3000 für den Guardian.

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