We Better Talk This Over #9: „Don Juan’s Reckless Daughter“ von Joni Mitchell (1977)
„WE BETTER TALK THIS OVER” IST DIE KAPUT-KOLUMNE VON LENNART BRAUWERS, IN DER UNTERBEWERTETE, OFT ÜBERSEHENE (ODER GAR VERHASSTE) ALBEN GEFEIERTER BERÜHMTHEITEN BESPROCHEN UND NEU EINGEORDNET WERDEN. SCHLIESSLICH KANN SICH DER BLICK AUF MUSIK VERÄNDERN, JE ÄLTER SIE WIRD. ALSO: EXTREM VIEL GROSSARTIGES FINDET ZU UNRECHT KAUM BEACHTUNG – DARÜBER SOLLTEN WIR NOCHMAL REDEN.

„I am a poor wayfaring stranger, traveling through all these highs and lows“
– Joni Mitchell in „The Silky Veils of Ardor“
Es ist, als würde Joni Mitchell ihre Melodien in Echtzeit schreiben. Während wir zuhören. Sie sind derart eigenwillig, dass sie nicht vorkomponiert sein können; und gleichzeitig so perfekt, dass sie nicht improvisiert sein können. Joni Mitchell ist die begabteste aller Singer-Songwriter*innen, weil sie ihr Format von Anfang an transzendiert hat. Niemand sonst hat solch freie Popmusik gemacht. Mitchell betrachtet sich selbst ebenso sehr als Malerin wie als Songwriterin, wie sie oftmals erwähnt hat. Deshalb wollen wir’s so ausdrücken: Seventies-Ikonen wie jene von Crosby, Stills, Nash & Young – in ihrem Dunstkreis bewegte Mitchell sich zeitweise – sind auf ihre Weisen talentiert, betreiben im Vergleich zu Joni Mitchell jedoch „Malen nach Zahlen“. Sie selbst hingegen folgt keinerlei Schablone, Mitchells Songs jagen melodisch/harmonisch/textlich einem eigenwilligen Lichtpunkt hinterher, sind völlig unbenommen von jeglicher Tradition. Das Singer-Songwriter-Konzept hat sie nicht nur geprägt und weitergedacht, sondern relativ schnell durchgespielt.
Joni Mitchell ist zwar einflussreich und inspiriert Singer-Songwriter*innen jeglicher Art, doch es ist gewissermaßen unmöglich, den Stil von Joni Mitchell tatsächlich zu kopieren. Klar, man kann ähnlich ungewöhnliche Akkordstrukturen verwenden – wie Adrianne Lenker (von Big Thief) oder Joanna Newsom – und ihr warmes Soundgewebe aufgreifen – wie Weyes Blood oder (manchmal) Lana Del Rey –, doch letztendlich konnte nie wieder jemand ihre spezifische Handhabung musikalischer Parameter imitieren.
Einen wichtigen Anteil daran hat Mitchells Art, Gitarre zu spielen. Oft nutzt sie alternative Stimmweisen, durch welche sie klassischen Akkordfolgen aus dem Weg gehen konnte; weil die selbe Anordnung der Finger plötzlich andere Sounds kreiert und man sich wieder im unerforschten Gebiet befindet. Diese Tunings kann man natürlich kopieren (und wurden auch nicht von Joni erfunden), doch es ist vielmehr ihre Weise, mit ihnen umzugehen – wie das Schimmern der Leersaiten zur kuscheligen Grundatmosphäre und gleichzeitig zum rhythmischen Element wird.
Es existiert ein Video aus der Zeit von Bob Dylans „Rolling Thunder Revue“, das Martin Scorsese auch in seinem Dokumentarfilm zu dieser Tour eingebaut hat: Joni Mitchell spielt ihren frisch komponierten Song „Coyote“, Dylan und Roger McGuinn sitzen ebenfalls mit Gitarren daneben und schaffen es nichtmal ansatzweise, bei Mitchells unorthodoxen Akkordfolgen mitzuspielen. Etwas ähnliches geschieht in Scorseses großartigem Konzertfilm „The Last Waltz“, auch hier performt Mitchell ihren Meistersong „Coyote“: Meine Lieblingsband The Band macht einen wundervollen Job, sie zu begleiten – doch es ist offensichtlich, dass Joni Mitchell in ganz anderen Sphären unterwegs ist. Bassist Rick Danko hat seinen Blick anfangs auf Mitchells Griffbrett fixiert, um irgendwie mitzukommen.
Ihr Talent wurde von Männern wie den besagten Crosby, Still, Nash & Young anerkannt und respektiert, doch es hat ihnen auch Angst gemacht, wie Ann Powers in ihrem essenziellen Buch „Traveling: On the Path of Joni Mitchell“ schreibt. „Crosby, Nash and the rest recognized almost immediately that to be near Joni Mitchell was to make music in her shadow.“, schreibt Powers. Ob man sie bewundern oder lieber klein halten soll, schien die Frage zu sein. Sie in unsere Supergroup aufnehmen? Never! Power schreibt: „Yet has anyone ever asked why, when Crosby, Stills and Nash sat in her kitchen that day and first sang together, she wasn’t asked to join the band?“ Dieser Sexismus ist es weiterhin, die dafür sorgt, dass Joni Mitchell immer noch nicht zu den Allerbesten der Allerbesten gezählt wird. Selbstverständlich gelten viele ihrer Alben als hochgelobte Klassiker – doch wird Mitchell wirklich als ebenbürtige Zeitgenossin eines Bob Dylan wahrgenommen? Sollte sie jedenfalls…
Nicht ausschließlich, doch besonders Joni Mitchells Serie fantastischer Alben in den Siebzigerjahren ist unerreicht und legendär; von „Ladies of the Canyon“ (1970) bis „Hejira“ (1976) würden die meisten Musikfans ihre Hochphase einordnen. Allen voran steht natürlich „Blue“ (1971), das heizerreißende Breakup-Album. Hierauf hat Mitchell die Idee perfektioniert, ultrapersönliche Gedanken in sentimentalen Akustikballaden preiszugeben: „I’m so hard to handle, I’m selfish and I’m sad/Now I’ve gone and lost the best baby that I ever had“, singt sie im wunderschönen Highlight „River“. Sowas war im Folk, aus dem Joni Mitchell ursprünglich entsprungen ist, nicht zwingend üblich und ist eher ein Merkmal der Songwriter-Songwriter-Welle, die Anfang der Siebzigerjahre populär wurde. Selbst Bob Dylan schrieb zuvor nicht explizit autobiografische Gefühlslieder und tat dies erst 1975 auf „Blood on the Tracks“ – also in einer Popwelt, die bereits von Joni geprägt wurde. Was Swifties heute an ihrer Taylor lieben, hat Joni Mitchell quasi erfunden. „Oh, I am a lonely painter, I live in a box of paints/I’m frightened by the devil and I’m drawn to those ones that ain’t afraid“, heißt es in Mitchells Klassiker „A Case of You“. Das sind Worte, die sie direkt aus ihrem Herz gerissen und ungefiltert in unsere Ohren gefeuert hat.
Womit wir zu „Don Juan’s Reckless Daughter“ aus dem Jahr 1977 kommen, der ersten Platte nach Joni Mitchells Hochphase von „Ladies of the Canyon“ (1970) bis „Hejira“ (1976). Extrem unterschätzt wird dieses Doppelalbum und sollte definitiv in diese Reihe künstlerischer Erfolge integriert werden, doch dazu später mehr. Vorerst zur schockierenden, oft vergessenen Kontroverse, die das Album umgibt und verständlicherweise bzw. zu Recht für dessen Ruf mitverantwortlich ist: Joni Mitchell, die zuvor das emotionale Offenlegen der eigenen Person propagiert hat, nahm für das Frontcover von „Don Juan’s Reckes Daughter“ eine Rolle an, stellte sich also gegen ihre vorherige Persona der bekenntnishaften Autobiografin – und leider war es nicht irgendein Charakter, als den sie sich für’s Albumcover verkleidete, sondern Art Nouveau, ein schwarzer Mann. Ja, sie betrieb Blackfacing und ging damit nicht nur einen, sondern dreitausend Schritte zu weit. Ob diese verwerfliche Aktion nun als Wertschätzung oder Identifikation mit dem vermeintlichen Underdog-Status schwarzer Männer gemeint war, spielt keine Rolle. Blackfacing ist so ziemlich das Unpassendste, was man machen kann.
Merkwürdig sind auch die angesprochenen Gründe hinter der Aktion: Joni Mitchell erklärte, sie hätte die Seele eines schwarzen Mannes. In einem 2015 veröffentlichten Interview im New York Magazine führte sie das Ganze aus: „When I see Black men sitting, I have a tendency to go—like I nod, like I’m a brother. I really feel an affinity because I have experienced being a Black guy on several occasions.” Die sonst so vorbildhafte Musikerin hatte in dieser Hinsicht eine verdrehte Logik und legte sich das vermutlich so zurecht, dass schwarze Menschen in ihrem Umfeld – z.B. Chaka Khan, die auf „Don Juan’s Reckes Daughter“ mitsang, oder Charles Mingus, mit dem sie zwei Jahre später ein Kollaborationsalbum aufnahm – scheinbar kein Problem damit hatten. Das ist natürlich zu kurz gedacht. Sie sah das radikale Verändern ihres Aussehens als Ausbruch aus den gegebenen Strukturen ihres Folkrock-Umfelds, doch Ann Powers bringt es in ihrem Buch „Traveling: On the Path of Joni Mitchell“ auf den Punkt: „Only a white person would have imagined that a brown or black body would render them freer“.
Immerhin endet diese Problematik bei der Covergestaltung; auf den meisten Streamingdiensten wurde das Albumcover mittlerweile ausgetauscht. Klar zu machen, wie Joni Mitchell in diesen Hinsicht versagt hat, das Ganze aber auch nicht in einem Vakuum zu betrachten und ihr Versagen als Grundlage des besseren Voranschreitens zu sehen, ist essenziell. Die großartige Musik auf „Don Juan’s Reckes Daughter“ für immer zu ignorieren, bringt nun wirklich gar nichts.
Eben dies zu tun, wurde mir aber beigebracht; auch unabhängig vom Albumcover-Reinfall. Als obsessiver Nerd der vergangenen und aktuellen Kanonisierung von Popmusik fällt einem schnell auf, dass „Don Juan’s Reckless Daughter“ als Enttäuschung wahrgenommen wurde und größtenteils noch wird. In der damaligen Review des US-amerikanischen Rolling Stone hieß es, „[that] she has been inexplicably inclined to let her music become shapeless as she tries to incorporate jazz and calypso rhythms that eventually overpower her“. Als einstündiges Doppelalbum sei „Don Juan’s Reckless Daughter“ viel zu lang, da Mitchells Kunst eher im kompakten Format funktionieren würde (Thema Sexismus). Die Platte sei frei von Emotion, voll von banalen Textzeilen und „ideas that should have remained whims, melodies that should have been riffs, songs that should have been fragments.“ Der Rolling Stone war damit nicht alleine: Der legendäre Musikkritiker Robert Christgau nannte die Platte langweilig, die kanadische Zeitung The Globe and Mail sprach von mangelnder Detailgenauigkeit.
Vom Rockkanon wurde mir „Don Juan’s Reckless Daughter“ als Ende einer glorreichen Ära vorgestellt, im Sinne von: 1977, als „The Last Waltz“ bereits das Ende einer musikalischen Epoche eingeläutet hatte, Punk endgültig die Bildfläche betrat und nichts mehr war wie zuvor, veröffentlichte sogar Joni Mitchell keine guten Platten mehr. Doch Veränderungen innerhalb der Popkultur war m.E. nicht der Grund für die negative Rezeption von „Don Juan’s Reckless Daughter“. Vielmehr sind wir wieder beim Stichwort Sexismus angekommen… Für die Männer aus Joni Mitchells Umfeld – und die Kritiker, die diese Männer abfeierten – war es vorher schon schwer genug, das immense Talent von Joni Mitchell zu akzeptieren. Und jetzt will sie auch was anders machen? Eine ewiglange Jazz/Fusion/Brazilian/WasAuchImmer-Platte? WTF?
Eigentlich hat Joni Mitchell auf „Don Juan’s Reckless Daughter“ jedoch nur Aspekte hervorgehoben, die ohnehin schon in ihrer Musik waren: Rhythmische Strukturen, die zumindest für Singer-Songwriter*innen ihrer Klasse untypisch sind, sowie extravagante Melodieführungen komplexer Art. Dementsprechend ist das Album kein Bruch, sondern eine logische Schlussfolgerung – das Produkt einer organischen Entwicklung.
Jazz-Elemente kann man in ihren Songs nicht erst seit offensichtlichen Genreexperimenten wie „The Hissing of Summer Lawns“ (1975) heraushören, nein: Die klassische Folk-Tradition wurde Joni Mitchell schon viel früher zu langweilig, sie war von Album zu Album weniger präsent. Bereits auf „Blue“ (1971) hat sie Wege gefunden, das klassische Singer-Songwriter-Konstrukt zu überschreiten, indem sie komplexe Harmonien und andere Einflüsse integrierte. Ganz subtil. Spätestens auf „Blue“ verlief ihre Musik – im harmonischen/melodischen Sinne – vielmehr wie jene von Jazz-Musikern als wie jene von Neil Young. Wozu Joni Mitchell von Außenstehenden gezählt wurde, ging nicht gerade Hand in Hand mit jenen Künstler*innen, zu denen sie sich verbunden fühlte. Komplizierte Sache, auch ohne das Thema Hautfarbe.
(Kurz am Rande: Der jazzy Sound von „Don Juan’s Reckless Daughter“ ergibt sich zu großen Teilen aus dem Fretless-Bass-Spiel von Jaco Pastorius. Über einzelne Instrumentalperformances zu schreiben ist ein schmaler Grad und kann beim Lesen schnell langweilig werden, doch was Pastorius auf diesem Album anstellt, wie er seinen Bass teilweise als Mitchells Duettpartner einsetzt, ist wundervoll – und toppt sogar das Fretless-Bass-Spiel von Fernando Saunders auf großartigen Lou-Reed-Alben wie „The Blue Mask“ oder „Ecstasy“.)
Doch die Platte besteht aus mehr als Jazz-Einflüssen. Deswegen lieb ich sie auch so. „Don Juan’s Reckless Daughter“ enthält orchestrale Instrumental-Kompositionen, intime Akustikballaden, perkussive Drum-Interludes wie „The Tenth World“. Solch ein lateinamerikanisch angehauchtes Percussion-Fest ist nicht unbedingt das, was man erwartet, wenn man ein Album von Joni Mitchell auflegt, funktioniert in seinem Durchbrechen von Erwartungen aber gut – und macht deutlich, wie frei dieses Album ist. Es funktioniert nach dem Motto, dass alles passieren kann, und ist damit sowohl ein Mikrokosmos für Mitchells Songs an sich (welcher Akkord kommt als Nächstes?!) sowie für den Verlauf ihrer eigenwilligen Karriere (was für ein Album macht sie als Nächstes?!). Die Platte verschiebt ständig ihren Fokus – eben wie die Harmonien der besten Joni-Songs und die Wendungen innerhalb ihrer Diskographie –, wodurch sie als essenzielle Ausstellung von Mitchells voranschreitender Identität funktioniert. „If you got no place special, well then you just go no place special“, singt sie im Opener „Overture – Cotton Avenue“. Egal, ob der Ort besonders ist oder nicht: Hauptsache du gehst irgendwo hin.
Musik kann verschiedene Anziehungskräfte haben, lass es Melodie oder Rhythmus oder Lyrics oder Instrumentalfähigkeit sein. Bemerkenswert ist, dass bei „Don Juan’s Reckless Daughter“ wirklich alle vier Aspekte zusammenkommen, mehr als auf jedem anderen Alben von Joni Mitchell: So liebe ich den gitarrenlosen Rhythmus-Groove in „Dreamland“ genauso wie den Diss-Track „Talk To Me“, den sie an Bob Dylan und dessen vermeintliche Pseudo-Rätselhaftigkeit gerichtet hat. Während „Blue“ oder „Hejira“ zwar Meisterwerke sind, aber größtenteils bei ihrer etablierten Grundstimmung bleiben, verändert „Don Juan’s Reckless Daughter“ immer wieder seine Form; kein Wunder, dass wenigstens Björk ein Riesenfan des Albums ist. Es hat eine beachtliche Vielseitigkeit – und ist damit das Werk der vielleicht prägendsten Künstlerin der 1970er Jahre, das den zersplitterten Vibe dieses Jahrzehnts am besten einfängt.
„Don Juan’s Reckless Daughter“ ist gewissermaßen ihr ALLES-Album, besteht aber – anders als andere Doppelalben dieser Art, wie das Weiße Album (The Beatles), „Tusk“ (Fleetwood Mac) oder „Sign o‘ the Times“ (Prince) – nicht aus extrem vielen, sondern schlichtweg aus zehn Songs. Dass sich die Platte trotzdem weitläufiger als andere 10-Track-Alben wie „Blue“ oder „The Hissing of Summer Lawns“, liegt selbstverständlich auch an der Länge der Lieder, so besteht die gesamte B-Seite lediglich aus dem 16-minütigen „Paprika Plains“, einer der bemerkenswertesten Errungenschaften aus Joni Mitchells gesamter Karriere. Noch nie wurde das Gefühl, sich selbst wegzuträumen, erfolgreicher eingefangen. Über seichte Klavierakkorde singt Mitchell, eher orchestrale Wellen über sie einbrechen: „I’m floating into dreams“ – ein thematisches Motiv, das am Ende der Platte aufgegriffen wird. „In my dreams, we fly“, lautet die letzte Zeile auf „Don Juan’s Reckless Daughter“. Das hat natürlich etwas von Magie, von unendlichen Möglichkeiten, erkennt aber auch die Limitierung der echten Welt an. Denn nur in meinen Träumen, da können wir fliegen – und wenn jedes Album von Joni Mitchell einen Traum darstellt, greife ich gerne zum vielseitigsten, zum kompliziertesten.
Zum Schluss erinnern wir uns an Joni Mitchells ersten Song für die Ewigkeit, den Klassiker „Both Sides Now“ aus dem Jahr 1969. Es ist ein Meisterstück zum Thema Perspektive und betrachtet den Facettenreichtum des Lebens mit beachtlicher Eleganz. Mitchell würde sich die Dinge – Wolken, Liebe, Leben – stets von zwei Seiten anschauen, erzählt sie uns. Also wollen wir das Ganze auf „Don Juan’s Reckless Daughter“ übertragen: Sie nimmt hier nicht nur zwei musikalische Perspektiven ein, sondern mehr als je zuvor. She looked at life from ALL sides now.








