50 Jahre Stunde Null: Die Geschichte von Kraftwerks „Autobahn“ von Jan Reetze

Zurück in die Zukunft – mit Kraftwerk auf der “Autobahn”

1974 schlug, so die bandeigene Saga, mit der Veröffentlichung des Albums “Autobahn” die  Stunde Null von Kraftwerk. Und zugleich die Stunde der Null der Elektronischen Populärmusik. So ist es zumindest immer wieder zu lesen in den Legenden der journalistischen und akademischen Pop-Historiographie sowie in den zahlreichen Foren der Fans oder auch in den Kommentarspalten von YouTube.

Und beides hört man doch immer wieder sehr gerne, zumal in Deutschland und Düsseldorf; allzu gerne.  Es ist vor allem das 1974 von Kraftwerk veröffentlichte Album “Autobahn”, welches im Zentrum oder Schnittpunkt mehrerer diesbezüglicher Mythen steht.

Der Musikautor Jan Reetze nahm das anstehende Jubiläum der Platte nunmehr zum Anlass einer persönlichen Betrachtung, die schon auf dem Umschlag seines bald erscheinenden Buches als „Liebeserklärung“ deklariert wird.

 

Quelle: https://halvmall.de/autobahn-buch/

Allerdings lässt Reetze sich, trotz nach wie vor gegebener Begeisterung für das, um was es ja eigentlich geht, die Musik, nicht zu einer nur huldigenden Hagiographie hinreißen. Vielmehr versteht der Verfasser es, wie schon in „Der Sound der Jahre“ (Reetze 2022), seine persönlichen Erinnerungen als Zeitzeuge mit seinem profunden Wissen als ehemaliger Tontechniker und sorgfältiger musikjournalistischer Recherche zu verbinden. Diese Mischung ist dann erneut ebenso kurzweilig wie informativ.

Aber, und auch das ist wichtig, ergeben sich immer wieder Punkte, an denen man sich reiben kann, zumal Jan Reetze die eigentlich stets gegebene persönliche Sichtweise betont. Ist “Autobahn” dann wirklich im Gesamten als erstes Konzeptalbum von Kraftwerk zu betrachten oder verweisen nicht vielmehr A- und B-Seite auf Zukunft und Vergangenheit der Band? Dies dann, wohlgemerkt, noch keinesfalls als Teil jenes nur noch oberflächlich retrofuturistischen Konzeptes des „Zurück in die Zukunft!“ zu dem mittlerweile auch „Autobahn“ in 3-D gehört.

 

 

Ohne sie explizit als solche zu benennen, aber eben auch ohne ihnen auf den Leim zu gehen, thematisiert Jan Reetze die erwähnten Mythen des popkulturellen Alltags, wiederholt, korrigiert, verwirft gelegentlich, ergänzt. Und er hört genau hin, seziert gekonnt das musikalische Material, die eingesetzten Instrumente und Effekte, die Schichtung der Spuren und deren Abmischung. Kurz, den gesamten Entstehungsprozess, darüber hinaus aber auch dessen ökomischen, politischen, gesellschaftlichen und popkulturellen Rahmenbedingungen. Da ist im Falle von Kraftwerk zunächst der Krautrock, die Musik einer gegenkulturell orientierten Szene, die keinesfalls nur aus Hippies bestand. Bekanntlich ist dieses musikalisch nicht näher definierte Genre in den letzten Jahren und Jahrzehnten gerade in der anglo-amerikanischen Rezeption über die Maßen gehypt worden und bei Discogs selbst in seinen obskursten Ausformungen, von denen es dann doch so einige gab, dementsprechend hoch gehandelt. Kraftwerk war Krautrock, allerdings zweifelsohne der besseren Sorte. Und dies, wie überhaupt sehr viel des besseren Krautrocks, war eng verbunden mit einem anderen Mythos, dem des Produzenten Conny Plank. “Die Geschichte von Kraftwerks „Autobahn“” geht dieser Vorgeschichte der angeblichen Stunde Null der Düsseldorfer Gruppe und den Verwerfungen mit Plank nach. Die begannen, so das vielleicht weniger bekannte Detail, von denen Jan Reetze einige weitere bietet, offensichtlich schon unmittelbar nach der Produktion des Albums “Ralf& Florian” (Kraftwerk 1973). Bereits dieses Album, das noch aus der in der offiziellen Bandgeschichte verbannten Frühphase der Gruppe stammt, wurde teilweise an einem mythischen Ort aufgenommen, dem bandeigenen Kling Klang Studio. Dazu bedurfte es allerdings der Technik von Conny Plank: Dieser hatte ein Teil seines Equipments so arrangiert, dass er als mobile Einheit mit dem VW-Bus verfrachtet werden konnte. Das Nachfolgealbum “Autobahn” (Kraftwerk 1974) wurde dann ebenso in Düsseldorf aufgenommen, aber an einem anderen mythischen Ort abgemischt, dem mittlerweile im bergischen Wolperath in einem altern Bauernhof eingerichteten eigenen Studio von Plank.

Der Mythos Kraftwerk, an dessen Bildung die Bandgründer Ralf Hütter und Florian Schneider-Esleben schon früh kräftig mitgearbeitet hatten, beginnt dann 1974 mit “Autobahn”. Und er beginnt mit der geradezu symbolischen Trennung von Conny Plank. Die schon früh konzeptionell orientierten Kraftwerker verließen unmittelbar nach der Arbeit an dem Album den langjährigen und höchst versierten Mentor und zugleich das Feld des Krautrock (ein Umstand, der die Kraftwerk-Fanbase noch heute entzweit). Der Weg der Band führte dann Richtung Electro-Pop und wies dadurch zweifelsohne in Richtung Techno und was da sonst noch so kam, dies allerdings nur mittelbar. Denn auch bei dieser popmusikalischen Stunde Null gab es ein davor und ein daneben, in Deutschland (nicht alles Neu!, aber die ganz sicherlich auch), dann zunächst vor allem auch in Frankreich, und nochmals ganz anders, in der afro-amerikanischen Musik der USA. “Autobahn” führe Kraftwerk im Jahre 1975 dann tatsächlich in Form einer Tour erstmals in die Staaten. Und erst dort und in diesem Jahr wurde das Titelstück und damit auch das Album, zumindest vermutlich nicht nur meiner Einschätzung nach, zu dem gemacht, was seinen Erfolg und pophistorische Bedeutung eigentlich ausmacht. Eine, so Reetze der entsprechenden „Sage“ auch misstrauend, per Bargeldzahlung an Hütter und Schneider-Essleben genehmigte, aber künstlerisch nicht näher abgesprochene, im Nachhinein dann jedoch für gut befundene Kurzfassung des Titelstücks wurde zunächst für die Radiopromotion erstellt. Conny Plank war kurzfristig verhindert und wurde anschließend mit einem Teil des Geldes gleich komplett abgefunden und damit nicht mehr länger Teil des sich abzeichnenden Start-Up-Unternehmens von Hütter und Schneider-Esleben. Als Single wurde die gekürzte Version dann unter anderem in den USA und Großbritannien, den Mutterländern von Pop und Rock, erfolgreich. Mit der Kurzfassung von 3:27, so ließe sich durchaus argumentieren, wurde die poppige Essenz aus dem nahezu 23-minütigen Titelstück „Autobahn“ destilliert.

 

In seiner ursprünglichen Fassung könne man dieses, so Jan Reetze völlig zutreffend, wiederum durchaus in der Tradition der „sinfonischen Dichtung“ der Romantik sehen oder auch, etwas weniger auf hochkulturelle Meriten im Diskurs hoffend, als „akustisches Storytelling“. Näher erläutert werden die Musik und die damit einhergehende außermusikalische Programmatik, bzw. die Story einer Fahrt auf der Autobahn von Düsseldorf nach Hamburg, so zumindest der Kraftwerker Karl Bartos in seiner Autobiographie Der Klang der Maschine (Bartos 2017), zusätzlich in einer Grafik in dem ausklappbaren Innencover von Reetzes Veröffentlichung. Dort lassen sich dann auch zwei weitere Schaubilder zum Album Autobahn und dessen Titelsong sowie weiteren Veröffentlichungen der Band Kraftwerk. Neben dem schönen Comicbild, das die Konterfeis der vier beteiligten Musiker und verwendetes Equipment in Form einer Montage zeigt, zeichnet sich das Cover des Buches dadurch aus, das in Lila und einem dunklem Pink gehalten ist. Denn schon durch diesen Verzicht auf das Blau der Wiederveröffentlichung, bzw. der britischen Erstveröffentlichung von  Autobahn (Kraftwerk 1974/ 2009) oder auch das Rot-Schwarz-Weiß, das seit Die Mensch-Maschine (Kraftwerk 1978) die Ikonographie der Band wesentlich prägt, wird deutlich, dass sich die persönliche Liebeserklärung von Jan Reetze zumindest dem allzu Vordergründigen des Mythos Kraftwerk zu entziehen sucht. Mehr geht auch nicht, da jede, selbst noch so kritische Veröffentlichung im wuchernden Kraftwerk-Diskurs letztendlich dann doch unweigerlich zum Teil des Mythos der Band wird, wie ich hier im kaput-Magazin bereits schon einmal an anderer Stelle mit Bezug auf Johannes Ullmaier angemerkt hatte.

Cover der britischen Veröffentlichung von 1974; Quelle https://www.discogs.com/release/6495789-Kraftwerk-Autobahn/image/SW1hZ2U6MjUwNjAxNDQ=

Offensichtlich gibt es auch in Sachen Kraftwerk und Krautrock keinen archimedischen Punkt außerhalb des Diskurses und der mittlerweile in Pittsburgh (USA) ansässige Autor Jan Reetze hat sich innerhalb desselbigen sehr bewusst positioniert und wohl auch, wenn ich ihn da richtig verstanden habe, sehr bewusst nicht mit akademischem Duktus. Gleichwohl wahrt er die wissenschaftliche Form der Quellenverweise, aber sein zumindest implizit mythenkritischer Ansatz sollte allein schon durch dessen kenntnisreiche Detailfülle unbedingt auch in diesem Bereich rezipiert werden. Erfreulich im Hinblick auf die erwähnte betont persönliche Positionierung von Reetze ist, dass der Bremer Halvmall-Verlag diese durch die erwähnte, wie mir scheint, bewusst entsagende Umschlagsgestaltung seiner aktuellen Veröffentlichung ebenso unterstreicht wie durch deren zunächst etwas sperrig wirkenden, aber dann eben doch auch sehr zutreffenden Titel.

Das relativ kleine (mehr der Worte bedarf es eben trotz völlig fraglos gegebener Relevanz des Albums nicht), aber sehr feine Buch von Jan Reetze, seine persönliche Liebeserklärung an “Autobahn”, sei allen ans Herz gelegt, die sich aus sachkundiger und kritisch reflektierter Quelle mit der Vorgeschichte heutiger elektronischer Musik beschäftigen möchten, ihr Wissen zu Kraftwerk und Krautrock vertiefen wollen oder es auch ganz einfach nur schätzen, wenn jemand gut über Musik zu schreiben weiß. Manchmal ist „old school“ eben richtig gut: „Don’t believe the hype!“. Von derartig gelagerten Veröffentlichungen werden wir, so steht zumindest zu befürchten, im Jubiläumsjahr von “Autobahn” (Kraftwerk, 1974) überhäuft werden. Schön, dass der sicherlich bald anstehende Reigen von Jan Reetze mit einem, inhaltlich nicht an weiteren Superlativen orientierten Close-Reading (bzw. Listening) von musikalischem Material und damit einhergehenden Sagen, Legenden und Diskursen eröffnet wurde. Das Ganze dann dankenswerterweise überdies auch noch in Lila und Pink verpackt und nicht in dem so verlockend, allzu verlockend nahe liegenden Blau.

 

Die Geschichte von Kraftwerks „Autobahn“: Jan Reetzes Liebeserklärung an ein 50 Jahre altes Album wird Anfang Februar im Halvmall-Verlag, Bremen erscheinen und kann bereits jetzt vorbestellt werden.
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