Record of the Week + Interview

Seoi Nage „The Gentle Way E.P.” 


Seoi Nage Foto: Helena Sydlik


Seoi Nage

„The Gentle Way E.P.” 

(Fin Dumonde/Eigenvertrieb)

Fast hätte ich bei meiner Mutter im Keller mal nach meinem alten Judo-Lehrbuch geschaut; die Namen der Würfe weiß ich wirklich nicht mehr, die Karriere endete jäh wegen eines Umzugs. War nur gelber Gürtel, was ja eigentlich nix ist. Respekt und Empathie ist mir von diesem Kampfsport in Erinnerung. Und dass ich in meiner Gewichtsklasse Ende der 1970er von einem kleinen Berliner Judoka beim Turnier schon nach Sekunden fulminant auf die Matte geworfen wurde und der Kampf beendet war.

Nun tauchen hier Begriffe wie eben der Schulterwurf Seoi Nage wieder auf. Das neue Münsteraner Musikprojekt von Pogo McCartney, der gerade mit seiner Gruppe Messer einen VUT-Preis für das beste Experiment gewonnen hat, Jakob Hersch (Der Ringer, Monako) und Anton Zimmermann (Francois Dillinger) ist seltsam verwoben mit persönlichen Erfahrungen der Ex-Judoka McCartney und Hersch, auch und insbesondere ästhetisch – so beschreibt es Hendrik Otremba im Release-Info.
Wobei: Für mich ist Seoi Nage schon absoluter Mainstream des Judo, der wohl bekannteste Schulterwurf. Das sind die vier instrumentalen Songtracks dieser neuen Band so gar nicht: Klar, funktional und ohrwürmig ja, aber eher gleichzeitig im wahrsten Sinn des Wortes vertrackt, schillernd und mehrfachbödig, der ganzheitliche, melancholisch-utopische Sport klingt am Deutlichsten in den Songtiteln durch (zum Beispiel „Grappling Me Softly“ oder „Falling For You“). Der gute, weil innovative Postrock (nicht stumpfer Instrumental-Metal oder -Crossover) à la UI oder Battles, Electronica-Anklänge (Plaid, Tomaga) und eine Prise Ambient (etwa auf dem sehr entspannt-frickelig über zehn Minuten ausufernden „Put On Your Best Suit“) mischen sich mit Kosmischer Musik ohne Esoterikfaktor und kultürlich hier-und-jetzigem Krautrock. Wieso ist letzterer eigentlich gerade so ausgeprägt wieder und neu (und irgendwie immer) da (siehe auch das neue Sterne-Album)? Und auch den Sternen nicht unähnlich klingen hier bei Seoi Nage für mich ganz konkret vor allem Projekte von Michael Rother (Harmonia, Neu!, frühe Kraftwerk) an, mit dem ich vor Jahren schon über die vielen neuen Postkrautrock-Phänomene diskutierte. Seoi Nage jedenfalls scheinen mir großen Spaß daran zu haben, auszuprobieren, auch mal auf „Falling For You“ einen funky Bass oder Filmmusikartiges einzustreuen, keine gängigen Erwartungen zu erfüllen, die sich aufgrund ihrer sonstigen Bands aufbauen könnten, sondern ganz für und bei sich zu sein. Es ruckelt fließend. Und das Wort „sphärisch“ sollte noch vorkommen. Mehr davon bitte.

Schnell mal bei Pogo unter Ex-Judokas in Münster um die Ecke angefragt:

Woher kommen die zahlreichen Judoanleihen?

Pogo: Ich finde, das Schwierigste am Schaffen von Musik ist immer die Namensfindung. Mir persönlich hilft immer ein Rahmen, ein Thema in welchen man sich austoben kann. Im Laufe der Zusammenarbeit ist Jakob und mir dann aufgefallen, dass wir beide in unserem früheren Leben Judoka waren. Ich glaube, ich habe das etwas intensiver und länger betrieben als Jakob. Für mich war das eine intensive Erfahrung in recht stürmischen Zeiten in meiner Biografie, weshalb der Bezug zu diesem Thema auch ein besonderer ist.
Unabhängig davon passt diese Metapher in meiner Wahrnehmung aber auch sehr gut zu den Tracks, was Hendrik in seinem netten Pressetext für uns bereits treffend und schmeichelhaft beschrieben hat: „Wie beim Judo greift hier alles ineinander, verschmilzt in der Bewegung, beschreibt wunderschöne Figuren.“

Was denkst du, woher diese große (Wieder-)Entdeckung von im weiten Sinn Krautrock und Kosmischer Musik aktuell generell und bei Euch kommt?

Pogo: Da kann ich natürlich nur für mich sprechen. Dieses Genre war eigentlich ein ständiger Begleiter. Abgesehen von den streng identitären Punkerjahren, wo alles, was auch nur einen Hauch einer bestimmten Codierung im Punk abwich, als ein Kardinalverbrechen galt. Aber eigentlich war der Zugang und das Interesse immer schon da. In meiner Kindheit gab es Platten in der väterlichen Sammlung von Kraftwerk und Tangerine Dream. Das Ganze wurde dann aber letztlich intensiver verfolgt, als Freunde und ich damals regelmäßige Plattenzirkel veranstalteten. Unter anderem waren Philipp und Hendrik von Messer auch in diesem Zirkel, was dann auch letztendlich zur Gründung der Gruppe Messer führte. Und bei Messer gab es immer mal wieder Schnittstellen zu alten Genregrößen. Zum Beispiel durften Philipp und ich mal Damo Suzuki in Tilburg begleiten. In großer Erinnerung bleibt auch ein Abend der Gruppe Messer mit Hans-Joachim Roedelius.

Was unterscheidet dein Wirken in Messer von dem in Seoi Nage?

Pogo: Das kann ich abschließend noch gar nicht so richtig beurteilen. Welcher Unterschied definitiv da ist, was aber unabhängig von den Bands so ist, ist die Frische in der Zusammenarbeit, welche jedes Erstwerk aller meiner bisherigen Bands besaß. Bei Messer stehen wir gerade vor unserem fünften Studioalbum. Das ist natürlich ein sehr großer Unterschied. Alles ist da viel abgeklärter, viel reflektierter, kritischer. Völlig zurecht natürlich, da wir für uns in Anspruch nehmen, dass jedes Album ein Schritt nach vorn bedeuten soll.
Spannender wird also die Zukunft sein. Wie das Wirken bei Seoi Nage nach der ersten großen Frische sein wird.

Wann hast du zuletzt mal auf dem Tanzboden gelegen?

Pogo: Oh je, das kann ich so ad hoc gar nicht sagen. Ich hoffe, heute Abend. Da spielt die alte Hardcoreband Ritual, von dem bereits erwähnten Philipp von Messer, eine Reunion Show in Münster.


Digital ist die E.P. nunmehr erhältlich, eine analoge Vinyl-10“ davon soll in Bälde folgen.

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