Christmas Record of the Week

Aphex Twin “Music from the Merch Desk (2016-23)” (Warp)

Egg for Aphex (Photo: TV)

Aphex Twin
“Music from the Merch Desk (2016-23)”
(Warp)

Maschinen-Funk und Androiden-Techno vom Planeten Acid, Ecke Detroit, ein paar Lichtjahre vorbei an Düsseldorf als Weihnachts-Präsent? Warum nicht! Digitale Substitute für enttäuschte Vinyl-Junkies von unserem Lieblings-Mensch-Maschinisten für die festtäglichen Grabbel-bzw Gaben-Tische.

 

Ja, genau. Es ist Weihnachtszeit und der Jahreswechsel steht bevor, es herrscht für rund zwei Wochen die Zeit der Feiertagseuphorie und/oder Benommenheit. Menschen mit Familien beschenken sich mit Wertgegenständen und emotionalen Annäherungsversuchen (im Idealfall), es gibt jede Menge Essen bei dem, der hat, und viele wollen bewusst abstumpfen vorm TV oder dem bevorzugten Streaming-Dienst. Die Krisen einfach mal hinter sich lassen und wegdämmern.

Passend zum Anlass “beschenken” uns Aphex Twin und Warp mit einer sehr umfassenden, beinah überwältigenden Compilation, die bisher wahrscheinlich nur die beinhart-Fans von Aphex’ als limitierte Einzel-Vinyl-Scheiben in ihren Regalen stehen haben. Da ich weder der absolute Vinyl-Sammler bin, noch generell eine ausgeprägte Sammel-Leidenschaft in mir trage, sind diese Releases auch bisher an mir vorbeigegangen, ohne, dass ich groß Notiz davon genommen hätte. Ich bin generell nicht undankbar dafür, dass ich scheinbar (relativ) unempfänglich für Sammler-Editionen, Re-Issue-Boxen (die ja momentan so ein wenig vermarktet werden) und sonstige Musik von der Promo und Merchandise-Ecke bin.

Jetzt aber kommt -ohne große Promo- die 38 Stück starke Compilation “Music from the Merch Desk” von live-Mitschnitten aus Houston, Texas, Manchester, London und Barcelona als digitales Biest auf bandcamp und Co zum weniger Sammel-leidenschaftlichen Fan nach Hause oder in die Cloud. Eins vorab, eines meiner absoluten Lieblingsstücke der Compilation ist ein Remix von Legende Luke Vibert namens “Spiral staircase (AFX remix)”, aufgeführt 2019 bei einem Auftritt in London, im Rahmen des dortigen Red Bull Music Festivals. Nicht das einzige Stück von diesem Event btw. Dieses Stück ist wahrscheinlich auch eines der “klassischsten” Aphex-Stücke auf “Music from the Merch Desk”, also es gemahnt stark an die 90er und Nullerjahre Warp-Musik aus Zeiten von “RDJ” und “Drukqs”. Apropos Drukqs, Freunde des präparierten Piano-Spiels, welches Aphex Twin auf eben jenem ebenfalls legendären Doppel-Album von 2001 zum Besten gab, werden zumindest ein wenig Tränen in den Augen haben bei dem herrlichen “em2500M253X”, live aufgezeichnet aus dem Jahre 2017 in London. Generell schafft es die Zusammenstellung das (eigentlich eher aktuellere) Aphex’sche Schaffen gut zusammenzufassen. Irgendwo zwischen Kraftwerk 2.0 und stark modifiziertem Detroit-Techno, irgendwo zwischen dem Planeten AFX/Acid Techno a la Analords und den neueren Releases wie dem starken Syro (2014) und der Collapse EP (2018) pendelt sich der Vibe hier ein.

Sensible Hörer sollten es jedoch vermeiden gleich in abgedunkelten Räumen psychedelische Substanzen zu konsumieren und das “Album” chronologisch anzuhören. Denn die ersten 20 Minuten, live Mitschnitte aus Houston, Texas, bestehen aus ganz schön düsteren wie minimalen Electro/Techno-Brettern mit nervöser IDM- Kick-Drum, die keine Gefangenen machen will, kombiniert mit einer neonschwarz-flirrenden Synth-Sound-Wand samt passendem, später einsetzendem Acid-Gezwitscher. Diese reduzierten Elemente erzeugen zusammen eine herrlich bekloppt-klaustrophobische Grundstimmung, mit der wir Hörer konfrontiert werden und mit der wir als Einstieg ins “neue” live-Album erstmal klarkommen müssen.

Wie jedoch schon angedeutet, danach öffnet sich der Kosmos aber. Am Horizont entsteht ein Silberstreifen aus minimalen Spuren von Ambient, Breakbeat und Jungle und einem teilweise sehr experimentellen und Genre-Grenzen überwindenden Acid Techno, im stolpernden und stotternden Jetzt-Zeit-Soundgewand des Richard D. James’schen Schaffens. Vom Titel her erinnert mich die Compilation an “26 Mixes for Cash”, inhaltlich haben die beiden Veröffentlichungen aber nicht viel gemein. Außer dem Humor, der sich in den jeweiligen Titeln verbirgt bzw eigentlich ja schon aufdrängt. Ja, wir sind die cash-cows und wir lassen uns gerne melken, wenn der Money-Bauer uns mit netten Geschenken wie diesen hier verwöhnen will. Aber: Geschenkt ist hier nichts, außer der Tatsache, dass man für lau reinhören kann auf bandcamp. Der download an sich kostet dennoch 20 britische Pfund derzeit.

Perlen wie “MT1T2 olpedroom” wären für mich Stücke, die mich direkt überzeugen könnten, mich an Weihnachten oder auch danach einfach mal mit diesem “Opus ex machina” selber zu beschenken. Die am Ende stark von Korg-Synths geprägte-Ästhetik (Syro und Co lassen grüßen) der live-Auftritte findet sich sowohl in den Titeln als auch in den Samples (Monologue!) wieder. Wahrscheinlich habe ich mir damals (2017) auch nur deswegen den Synth gekauft, weil Mr James ein wenig an der Entwicklung der analogen Einstiegs-Droge von Korg (damals für 279 Euro fabrikneu geholt) beteiligt war. Und letztlich nicht nur dort, auch bei der Firma Novation zum Beispiel hat Aphex (als auch andere Innovatoren des Sounddesigns wie z.B. Noisia) zuletzt so ein wenig seine Hände mit im Spiel gehabt bei der Entwicklung von Klangerzeugern und deren Soundbänken. Jetzt gerade habe ich tatsächlich den Korg monologue in meinem neuen Micro-Projekt-Studio wieder aufgebaut und stelle fest, dass hier Presets von der Maschine beim Auftritt verwendet wurden! Frech! Oder etwa nicht? Zumindest einige Puristen dürften sich aufregen (zeitgleich hat natürlich Aphex Twin selbst ein paar Presets und eine variable Microtuning-Funktion zur Maschine beigesteuert).

Man kann es auch einfach humorig finden, wie immer. Richard D. James war seit jeher auch ein Troll der Musikindustrie. Dafür sprechen nicht nur zahlreiche Interviews und Promo-Aktionen, sondern auch seine Musik an sich beizeiten oder beispielsweise die Gestaltung des “Syro”-Covers usw. Dafür lieben ihn viele. Viele verstehen es aber auch nicht. Oder bekommen es auch schlicht nicht mit, zum Teil wegen geschickter Verschleierung seitens des Künstlers. So wie zum Beispiel “under cover” Soundcloud-“Auftritte” bzw Uploads unter falschem User-Namen etc.

Die, die es verstehen und sich interessieren, werden sicherlich auch an dieser Veröffentlichung ihre wahre Freude haben. Zumal Richard D. James hier noch einmal zeigt, was er auch in live-Situationen zu liefern imstande ist. Bezieht man das mit ein, ist es sogar ein erstaunliches Release, ähnlich wie die Mammut-VÖ der epischen Autechre-Auftritte zuletzt auf Warp (momentan schreibe ich für Kaput über den Autechre-Katalog parallel und werde darauf noch später in einem anderen Text eingehen). Am Ende bleibt (eigentlich bei beiden live-Mitschnitten )festzuhalten, wie spannend der Mensch-Maschine-Ansatz der Warp-Künstler bis heute noch sein kann. Und vor allem wie kunstvoll und handwerklich perfekt das Ganze stets auf den Bühnen dieser Welt präsentiert wird. Sicherlich sind die Ansätze von Aphex und Autechre unterschiedlich im live Kontext. Beide liefern aber Live-Electronica auf aller höchstem Level. Das kann man meines Erachtens vor allem noch einmal sehr schön bei den beiden letzten Stücken auf “Music from the Merch Desk” nachhören, die -wie so Manches hier- ein wenig an die Analords-Reihe erinnern. Gerade das wunderbar melodische wie rhythmische “body pads” ist ein schöner Ausstieg, der vom eher düsteren wie abstrakten, aber pumpenden Elektrofunk des finalen 38. Stücks “dgitne tst1e” mit einer experimentellen und wechselhaften Killer-Bassline und viel Raum drum herum abgerundet wird.

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