Daughter „Stereo Mind Game”

Daughter
„Stereo Mind Game”
(4AD/Beggars/Indigo)

Vor einigen Jahren war ich auf der Suche und fuhr fast spontan an einem Sonntag über Bremen nach Hamburg, um spazieren zu gehen. Auf der Zugfahrt im abgerockten Intercity, damals, als die Züge noch gemütlich-gammelig und leicht verspätet und die Fahrgäste zumeist und vor allem sonntags vormittags entschleunigt waren, hörte ich das damals sehr angesagte, melancholische „If You Leave“-Album (2013) mit dem traurigen Indie-Hit „Youth“. Ich war ein ganz bisschen in Liebe und dankbar für diese Entdeckung.

Elena Tonra, Igor Haefeli und Remi Aquilella tourten nicht umsonst mit The National, wurden selbst immer größer und gar nicht mehr so indie. Nicht zuletzt das britische Kultlabel 4AD (Cocteau Twins, This Mortal Coil, Pixies, The Birthday Party, Bauhaus) bleibt einfach ein Garant für sehr mitreißende Sounds und Acts, auch nach 40 Jahren.

Daughter lassen es mit „Intro“, „Be on Your WQay“ und „Party“ langsam und doch intensiv angehen auf ihrem Drittling „Stereo Mind Game“. Mit „Dandelion“ folgt dann unmittelbar ein so klassisch gitarren-waviger Tanzboden-Schlager, zu dem es sich zu betrinken und in Erinnerungen und Hoffnungen schwelgen lohnt. Mit Im-Kreis-Drehen, Schuheglotzen und genervt die Wangen einfallen lassen – wie einst Jim Reid, Siouxsie Sioux oder Andrew Eldritch, also ca. 1984/85 bitteschön.

Die in London, Portland und San Diego aufgenommenen Songs drehen sich um eine offenbar wichtige Figur, die hier Auslöser romantischer Stimmungen, Texte und Klänge scheint. Verlust- und Alleinseinsängste inklusive: „Isolation“ und „To Rage“, wo die Kurve weg von peinlichem U2-Pathos gerade noch gekratzt wird, wobei es billig ist, U2 zu bashen, so richtig gemocht habe ich sie aber nie.
Nicht nur aus zwingenden Corona-Distanzierungen scheinen hier bei Daughter thematisch diffuse und emotional doch ganz konkrete Sehnsüchte eine große Rolle zu spielen. Sie sind förmlich zu hören, mehr als luxusgarniert von Modularklängen und Streichorchester. Tonra singt leidend und doch stark wie einst Kristin Hersh, Liz Fraser oder Miki Berenyi, auf „Neputune“ mit gospelhaftem Chor und filmmusikartigen Sprengseln.

Wow. So triumphierend trübselig war ich zuletzt nur beim Wiederhören von Depeche Mode, Jacobites, John Foxx und Sigur Rós oder beim Neu-Genießen von Warpaint, Hope oder Dry Cleaning. Irgendwie beiläufig sogar hauntologisch wirken Daughter, wenn sie fokussiert auf „Missed Calls“ sind. Hat eigentlich schon jemand eine Studie gemacht über posthum archivierte Anrufbeantwortergrüße verstorbener Freunde? Mir sind die Ursachen für meine popmusikalische und ganzheitliche Empfänglichkeit schon ganz unhauntologisch sehr klar. Die Poren des Lebens wurden unerwartet und sehr sauschön geöffnet durch ein kleines Wunder. So wie sie es popmusikalisch in den Mittzehnern beim Live-Überwältigungserlebnis durch Daughter in Dortmund waren, wie es ähnlich bei Liz Harris (Grouper/Nivhek), Ben Frost oder Slowdive und dann mit Daughter aus der Konserve eben auf der erwähnten IC-Fahrt war. Gänsehaut, Schütteln und Tränendrüsendruck können luzid sein. Bereit(et) für sich, uns und Größeres. In ozeanischer Demut.

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