“Man ist sich nie ganz sicher, wo man sich gerade befindet”
Non-fiction lovers aufgepasst: Die Dokumentale ist ein brandneues, internationales Dokumentarfilm- und Medienfestival in Berlin, das in diesem Jahr vom 10. bis zum 20. Oktober stattfindet. Lennart Brauwers durfte das Festival für drei Tage besuchen und hat für Kaput über seine fünf Highlights geschrieben.
Mehr Infos zur Dokumentale gibt’s in Lennarts Kaput-Interview mit den beiden Festivalleiterinnen Anna Ramskogler-Witt und Vivian Schröder. Darin sprachen sie über das generelle Konzept des Festivals, Berlin als optimalen Austragungsort und die immense Bedeutung von Dokumentarfilmen.
Die ultraunterhaltsame Dokumentation “The Life and Deaths of Christopher Lee” zeigt – wie der Name schon sagt – das beeindruckende Leben des Schauspielers Christopher Lee, der sich immer wieder in völlig neuen Lebensphasen zurechtfinden musste. So wurde er nach dem Zweiten Weltkrieg zum Nazijäger, prägte später mit legendären Rollen wie Frankenstein oder Dracula das Horrorgenre und wurde auch noch als Metal-Sänger bekannt. In diesem Leben wurde nichts ausgelassen, auch keine Rollen in zwei der größten Filmreihen aller Zeiten: “Der Herr der Ringe” und “Star Wars”. Letztendlich ist “The Life and Deaths of Christopher Lee” vor allem ein Film über das, was passiert, wenn man sich schlichtweg nimmt, was gerade halt kommt.
Bei “E.1027 – Eileen Gray and the House by the Sea”, der im Berlin Technoclub Tresor gezeigt wurde, handelt es sich um einen dieser Filme, in denen die Grenze zwischen Dokumentation und Spielfilm völlig verschwindet. Im Kern geht es um die ikonische Architektin/Künstlerin Eileen Gray und eines ihrer beeindruckendsten Projekte – ein wundervolles Traumhaus an der Küste –, aber auch um eine Beziehung bzw. den Beginn und Zerfall einer innigen Liebe. Der Film spielt auf überragende Weise mit Licht, wirft spannende Fragen über die Bedeutung von Kunst auf und liefert einen surrealen Blick auf die Vergangenheit; denn man ist sich nie ganz sicher, wo man sich gerade befindet. Auch sowas kann eine Dokumentation sein!
Von all den Filmen, die ich auf der Dokumentale 2024 sehen durfte, war “Fauna” mein absoluter Favorit – und das, obwohl ich das überhaupt nicht erwartet hätte! Schließlich klingt das Thema erstmal nach hartem Tobak: Ein spanischer Hirte kämpft in der Nähe von Barcelona um sein Überleben, hat mit gesundheitlichen Problemen zu kämpfen und merkt gleichzeitig, dass sein Job langsam zu aussterben beginnt, während in einem nahgelegen Labor Tierversuche gemacht werden, um einen Corona-Impfstoff zu finden. Die Gegenüberstellung dieser beiden Handlungsstränge ist äußerst interessant und macht deutlich, wie unterschiedlich Menschen mit ihren Problemen umgehen können. Der Hirte lebt mit ständigen Menschen und beschwert sich (wenn überhaupt) nur leise, doch im Labor drehen sofort alle durch, als ein unerwünschter Käfer gefunden wird. Am Ende wird das Ganze außerdem wundervoll zusammengeführt und lässt dich als Zuschauer nachdenkend zurück. Sehr gelungen.
Auch der Dokumentarfilm “New Wave”, der von einer vietnamesischen Musikszene – defacto eine Eurodisco-Variation, innerhalb der Szene wird das Ganze aber ‘New Wave’ genannt – sowie der herzerwärmenden/-zerreißenden Familiengeschichte der Filmemacherin Elizabeth Ai handelt, hat mir extrem gut gefallen (auch weil der Film in einem schnuckeligen, vietnamesischen Restaurant gezeigt wurde, inklusive einem anschließenden Gespräch mit der Filmemacherin).
Die Erforschung einer gesamten Subkultur und der dazugehörigen Personen gelingt Ai sehr gut, die Gegenüberstellung mit der tragischen Beziehung zu ihrer Mutter hat zwar kaum etwas damit zu tun und funktioniert deshalb nur bedingt als Ergänzung, bringt aber eine emotionale Note mit in den Film. Teilweise hatte man das Gefühl, dass man sich hier nicht so ganz entscheiden konnte, worüber man eigentlich einen Film machen will, doch der gesamte Stoff ist interessant, glitzernd und sentimental genug, dass man schnell darüber hinweg sehen kann.
An meinem letzten Tag auf der Dokumentale 2024 besuchte ich abschließend noch einen Talk zum Thema “From Journalism to XR”, in dem es unter anderen darum ging, wie ehemalige Journalist*innen irgendwann Filmemacher*innen geworden sind, was die gravierenden Unterschieden zwischen dieser beiden Jobs/Erzählformen sind und welche Möglichkeiten außerdem VR-Brillen bei der Weiterentwicklung dokumentarischen Erzählens haben können. Die Gäste – Gayatri Parameswaran, Felix Gaedtke, Juan Francisco Donoso – hatten nicht nur viel Spannendes zum (immersiven) Storytelling im Non-Fiction-Bereich sowie zu dem abenteuerlichen Arbeiten in diesem Feld zu erzählen, sondern waren auch extrem sympathisch. Wie auch die Moderation von Anna Ramskogler-Witt.
Letztendlich hätte ich gerne noch viel mehr gesehen, doch Berlin ist groß und die Kinos dementsprechend oft weit voneinander entfernt. Nächstes Jahr also gerne wieder. Denn ein so liebevolles Festival – von Menschen, die so sehr für ihre Sache (in diesem Fall non-fiction storytelling) brennen – findet man nur selten. Große Empfehlung!