“Dokumentarfilm kann andere Lebensrealitäten, die der eigenen völlig fremd sind, öffnen”
Die Dokumentale ist ein brandneues, internationales Dokumentarfilm- und Medienfestival in Berlin, das in diesem Jahr vom 10. bis zum 20. Oktober stattfindet. Kaput-Autor Lennart Brauwers unterhielt sich mit den beiden Festivalleiterinnen Anna Ramskogler-Witt und Vivian Schröder über das generelle Konzept des Festivals, Berlin als optimalen Austragungsort und die immense Bedeutung von Dokumentarfilmen.
Welche Rolle nehmt ihr im Team der Dokumentale ein?
Anna Ramskogler-Witt: Vivian ist Impact-Direktorin und damit für unser ganzes Fachprogramm verantwortlich, also den d’Hub und The Good Media Pitch.
Vivian Schröder: Und Anna kümmert sich als künstlerische Leiterin um das Programm aus Filmvorführungen, Lesungen, Gesprächen und Parties – mit ganz viel Unterstützung von unseren großartigen Kurator*innen.
Ich hatte gelesen, Vivian, dass du eine er ersten Impact-Producerinnen Deutschlands warst. Magst du das Konzept des Impact-Producing in eigenen Worten erklären?
Vivian: Es gibt sicherlich einige, die schon vorher als Impact-Producer*innen gearbeitet haben, aber da hatte das Kind noch keinen Namen. Jedenfalls geht es dabei um die Frage, wie man den Dokumentarfilm nutzen kann, um eine Diskussion in der Gesellschaft anzustoßen, also einen Call-To-Action rauszugeben und einen positiven Wandel ins Rollen zu bringen.
Anna: Man kennt ja das Gefühl, dass man in einem Dokumentarfilm sitzt und sich fragt: Ja cool – aber was kann ich jetzt selber machen? Und genau da geht dann die Impact-Kampagne rein und zeigt, wie Veränderung möglich ist.
Woher kommt der Wille, Dokumentarfilme einem größeren Publikum vorzustellen?
Vivian: Wir versuchen, Brücken zu schlagen zwischen Filmemacher*innen und zivilgesellschaftlichen Organisationen, um gemeinsam exzellentes Storytelling zu ermöglichen. Da braucht es Hilfe von außen. Im Rahmen des d‘Hubs schaffen wir ein Netzwerk aus Dokumentarfilmemacher*innen mit möglichen Partnern.
Anna: Es muss bei Dokumentationen auch nicht immer um schwierige, weltverbessernde Themen gehen. Der Dokumentarfilm kann ja auch von alltäglichen oder schönen Dingen erzählen – da gibt es Künstler*innen-Porträts, absurde Geschichten oder Filme, die Erklärungen dafür liefern, wie unsere Welt funktioniert. Wir haben zum Beispiel eine deutsche Produktion namens „Surfing Einstein“ im Programm. Wissenschaftler*innen tanzen darin mehr oder weniger die Relativitätstheorie! Dieser Film erlaubt einen damit einen anderen Zugang zum Thema Wissenschaft. Oder ein weiteres Thema: Für mich als Österreicherin war es keine Überraschung, dass Wolfgang Amadeus Mozart eine Schwester gehabt hat, die selber genauso talentiert war. In Deutschland wissen das die wenigsten, wie ich feststellen musste. Mit dem Film „Mozart’s Sister“ beschäftigen wir uns also mit der Darstellung von Frauen in der Geschichtsschreibung.
Ich wusste auch nicht, dass Mozart eine talentierte Schwester hatte, und ich hab sogar Musik studiert in Deutschland…
Anna: Höchstwahrscheinlich hat sie die frühen Werke von ihm sogar mitgeschrieben! Der Film ist ein klassische Dokumentation, aber er macht das Thema Klassische Musik leichter zugänglich.
Was kann ein Dokumentarfilm, was ein Spielfilm eben nicht kann?
Anna: Er kann einen Zugang zu anderen Lebensrealitäten schaffen – auf eine unmittelbare Weise. In Spielfilmprojekten gibt es einen größeren Spielraum, Realitäten zu erfinden. Mit Dokumentarfilmen kann man auch den Wissensdurst und die Neugierde der Menschen ganz anders befriedigen oder füttern. Das Schöne an unserem Job ist, dass wir unseren Horizont ständig erweitern dürfen und ständig etwas Neues lernen. Das wollen wir unseren Besucher*innen auch ermöglichen.
Vivian: Die tollsten und bewegendsten Geschichten – wie auch immer sie aussehen – werden eigentlich in der Wirklichkeit geschrieben. Da muss man sich gar nichts mehr ausdenken.
Vivian: Es gibt auch eine Studie von der University of Oxford und dem Reuters Institute, bei der herausgekommen ist, dass sich 37% der Menschen ihr Wissen rund ums Klima über Dokumentarfilme aneignen – also weitaus mehr als über Zeitungen, Fernsehen oder Bücher.
Anna: Aktuell erleben wir ja, dass gerade die Social-Media-Kanäle Informationen als unterkomplexe Snippets ausspucken, ist es manchmal sehr bereichernd, einen Film zu schauen, der dich wirklich durch ein Thema durchträgt, Sachen erklärt und dabei nichts runterbricht, sondern die Komplexität unserer Welt wiedergibt. Wir beide lieben sie auch privat, die dokumentarische Form. Man kann also sagen: Die Dokumentale ein Festival von und für non-fiction lovers!
Wie würdet ihr das Konzept der Dokumentale erklären?
Vivian: Wir haben eine komplett neue Spielwiese aufbauen dürfen!
Anna: Die Dokumentale ist für uns ein Experimentierfeld. Wie kann man mit dokumentarischen Formen umgehen und diese auch miteinander sinnvoll kombinieren? Wir haben uns vorgenommen, ein möglichst breites Publikum anzusprechen. Das spiegelt unser Programm auch wider. Wir wollen verschiedene Eintrittspunkte in das Universum dokumentarischer Erzählweisen über die jeweiligen Formen finden – sei es Film, Buch, Podcast oder VX – aber auch über die Orte, an denen diese Formen präsentiert werden. Wir gehen mit sechs Screenings bewusst an Orte außerhalb der Kinos, vor allem in Clubs, aber auch ins Museum oder in Restaurants, das sind unsere d’Lounge-Formate. Mit den d’Salons verbinden wir wiederum Lesungen mit Gesprächen und Filmscreenings. Ganz besonders freue ich mich auch auf unsere VX-Ausstellung.
Internationalität scheint dabei eine große Rolle zu spielen, oder?
Anna: Ja, bei den Dokumentarfilmen haben wir ein sehr internationales Programm, fast alle Kontinente sind abgedeckt. Von Kunst über Pressefreiheit bis Nachhaltigkeit und Wissenschaft versuchen wir auch, die unterschiedlichsten Themen zu bespielen und dann probieren wir, für jeden Film den richtigen Rahmen zu finden und eine Atmosphäre rundherum zu kreieren.
Vivian: Wir haben einfach genau zugehört, was die Filmemacher*innen aus aller Welt brauchen, und wollen mit der Dokumentale eine Plattform bieten, wo es um Wissensaustausch, Neugierde und vor allem ums internationale Netzwerken geht. Am Ende soll man mit neuen Eindrücken und vor allem mit ganz vielen neuen Bekanntschaften, vielleicht sogar Freundschaften, nach Hause gehen können.
Anna: Wir legen auch gerade immer noch einen totalen Sprint hin, weil die Idee der Dokumentale noch gar nicht so alt ist. Wir haben erst ab Mai losgelegt! Wir probieren dieses Jahr sehr viel aus und wollen auch schauen, wie unser Publikum darauf reagiert. Was gefällt ihm, was eher nicht? Wie können wir das Festival im nächsten Jahr verbessern? Dieses erste Dokumentale-Jahr ist ein Experiment.
Warum ist Berlin der richtige Ort für dieses Experiment?
Vivian: Die ganze Stadt ist doch ein Experiment! Ich glaube, es liegt in der Natur von Berlin, ein Schmelztiegel zu sein und viele unterschiedliche Künstler*innen anzuziehen. Berlin ist einfach eine sehr lebendige und bunte Stadt – auch das wollen wir mit der Dokumentale widerspiegeln.
Anna: Das ist eine große Aufgabe, der wir hoffentlich gerecht werden. Außerdem hat man in Berlin ganz viele Menschen, die dokumentarisch arbeiten, und eine wahnsinnig große Community an Journalist*innen, Autor*innen, Podcaster*innen und Dokumentarfilmemacher*innen. Wir versuchen einfach, diesen Gedanken der Offenheit und des Zusammenbringens von Akteur*innen, die im nicht-fiktionalen Bereich arbeiten, aufzugreifen und dadurch auch die Neugier bei unseren Besucher*innen zu wecken. Da fällt mir auch noch eine ganz kurze Beschreibung für die Intention hinter unserem Festival ein: Uns zeichnet eine große Liebe für nicht-fiktionale Formate aus. Wir mögen auch Spielfilme, aber wir sind beide wirklich sehr fokussiert auf Sachbücher und Dokumentarfilme. Die Dokumentale ist also ein Festival von und für non-fiction lovers!
Auf welchem Film freut ihr euch ganz besonders?
Anna: Schwierige Frage, ich habe mich in alle 47 Filme verliebt…
Vivian: Dabei wollten wir ursprünglich nur 40 Filme programmieren!
Anna: Unser Eröffnungsfilm „Sisterqueens“ über ein Rap-Empowerment-Projekt für Mädchen aus dem Berliner Wedding ist natürlich großartig. Er macht gute Laune und zeigt, was Kunst und Kultur alles bewirken können. Dann gibt es eine ganze Reihe von Filmen, die sich aktuellen gesellschaftlichen Herausforderungen widmen. Aber wir zeigen auch viele Filme, die sich mit der Kunst- und Unterhaltungsbranche beschäftigen, zum Beispiel „The Life and Deaths of Christopher Lee“. Was viele vielleicht nicht wissen: Er ist der Stiefcousin vom James-Bond-Erfinder Ian Fleming – Christopher Lee war quasi die Vorlage für James Bond!
Vivian: „State of Silence“ ist auch toll. Darin geht es um Journalist*innen in Mexiko und die krassen Lebensrealitäten – und um die Menschen, die sich trotzdem nicht unterkriegen lassen und weiter an den freien Journalismus glauben, auch wenn sie sich der Gefahren bewusst sind. Ein anderes Highlight ist „I am the River, the River Is Me“. Darin geht es um einen Fluss in Neuseeland, dem als ersten Fluss – oder überhaupt als erstes Naturelement – die gleichen juristischen Rechte wie einem Menschen zugesprochen wurden. Damit wurde auch das Wertesystem der Maori gesetzlich verankert, aber es geht natürlich auch darum, wie man mit der Natur an sich wertschätzend umgehen sollte.
Anna: Die Filmemacher*innen beider Filme kommen auch nach Berlin. Wir haben uns überhaupt bemüht, so viele Filmemacher*innen und Protagonist*innen wie möglich hier vor Ort zu haben, mit denen man dann ins Gespräch kommen kann.