“Schreiben gegen die Verschlagzeilung menschlicher Schicksale”
Musiker schreiben Bücher. Sänger und Songtexter wie Frank Spilker, Jochen Distelmeyer und Dirk von Lowtzow haben in den letzten sieben Jahren ihre zwangsläufg viel beachteten literarischen Debüts vorgelegt. Weithin übersehen wird, dass sich parallel ein Musiker aus der zweiten Reihe als bemerkenswerter Autor erwies. Frank Behnke, der soundprägende Gitarrist der Bands Campingsex und Mutter, hat nach seinem ersten Roman „Ich, Medea“ die Perspektive gewechselt und erzählt in „Natürliche Auslese“ von Außenseitern, die ihre „5 Minuten Ruhm“ mit dem Leben bezahlen. „Natürliche Auslese“ ist gerade in der zweiten Auflage erschienen und landet im Schatten der sich anbahnenden Ampelkoalition auch eine Punktlandung wider den Zeitgeist.
Ralf Krämer über “Natürliche Auslese” von Frank Behnke, erschienen im Quiqueg Verlag
Als Aki seinem Freund Pirrka die zündende Idee pitcht, fühlen sich beide als Helden der Innovation. Trotz ihrer jahrzehntelangen Erfahrung und ihrer etwas angeberischen Ausrüstung, erscheint es den passionierten Anglern sehr sinnvoll, mittels Dynamit ein Loch in die Eisdecke eines Sees zu sprengen. Normalerweise hätten sie sich den Weg zu den ersehnten Forellen mit Spitzhacken mühsam freigeklopft. Nun winkt ihnen Fast Food, man käme viel schneller ran und hätte als Mitnahmeeffekt auch noch Spaß dabei. Doch die beiden Bewohner der nordfinnischen Ortschaft Inari machen ihre Rechnung ohne Akis deutschen Schäferhund Horst. „Deutsche hinterlassen immer nur Trümmer“, auch diese Mahnung der Kriegesgeneration im Ohr, hindert Herrchen nicht daran, seine erste Stange Dynamit anzuzünden und wegzuwerfen, wie ein Stöckchen, das es zu apportieren gilt…
Zehn solcher Unfall-Geschichten hat Frank Behnke kurzen Zeitungsmeldungen realer Ereignisse entnommen und sie zu ausführlicheren Fallbeschreibungen und prägnanten Porträts ihrer ProtagonistInnen weitergesponnen. Alle spielen in Europa, im Jahr 1999, durchmessen dabei den Kontinent vom Polarkreis bis zum spanischen Toledo, von den Karpaten bis zum englischen Gravesend. Das ist zunächst ein Schreiben gegen die Verschlagzeilung menschlicher Schicksale, aber natürlich auch eine Lust an der Absurdität, am Abgründigen und steht in der Tradition schwarzhumorigen Entertainments. Was zum Beispiel am 16. Oktober in Thun dazu führte, dass ein gewisser Victor Spötli sich mit heruntergelassener Hose an einem Baum gepinnt wiederfand, den Kopf von einem Pfeil durchbohrt, erinnert auch an TV-Serien wie „Happy Tree Friends“ und „Jackass“. Hier geht es um Menschen, die sich, in der Regel angeheitert, von der eigenen fixen Idee in den Bann schlagen ließen und sie in die Tat umsetzten. Als fiktionalisierte Figuren dringen sie auf spezielle Art zum Wesentlichen vor, zum ernsthaften Versuch, der das eigene Scheitern in Kauf nimmt.
Der Zwang des Rezipienten, etwa „Otis“, das literarische Debüt von Jochen Distelmeyer, mit dessen Liedtexten abzugleichen, führt beim Autor Frank Behnke dazu, auf dessen sonstiges Werk zurückzuschließen. Im Falle des Gitarristen erscheint das zunächst vage. Als Gründungsmitglied verlieh Behnke der Band Mutter einen Sound, in dem sowohl der Noise-Pionier Glenn Branca als auch die Melodik eines George Harrison widerhallen. (Funfact nebenbei: Auf „Hauptsache Musik“, dem geschmeidigsten Mutter-Album von 1994, ist Jochen Distelmeyer bei einigen Stücken Gast-Gitarrist. Behnke verließ die Band sieben Jahre später, nach dem epochalen Album „Europa gegen Amerika“) Mit anderen Worten: Gegniedel, das breitbeinige Solo war Behnkes Sache nie – und so ist er in der Tat auch als Erzähler nicht ausschweifend, sondern pointiert und präzise. Er beweist ein sicheres Gefühl für Rhythmus und Atmosphäre, was wiederum zu seinem zweiten Betätigungsfeld passt. Als Filmemacher doziert Behnke heute dort, wo er in den früheren 80ern studierte, an der Berliner Filmhochschule dffb. Zumindest seine Beiträge zum Tondepartement (als Assistent bei David Lynchs „Blue Velvet“, als Tonmeister bei Tom Tykwers „Lola Rennt“) dürften den allermeisten zu Ohren gekommen sein. Ins Visuelle hinein lenkt Behnke zudem seine Geschichten in „Natürliche Auslese“, indem er ihnen eine schwarz-weiß-Abbildung historischer Postkarten des jeweiligen Handlungsortes und somit deren für sich werbende Oberflächendarstellung voranstellt. Das reibt sich mit dem folgenden Texten und verleiht dem in ihnen herrschenden Irrsinn zum einen auf fast magische Weise Bodenhaftung. Zum anderen scheint hier auch Behnkes Sinn fürs Ironische durch, ohne den man einem Titel wie „Natürliche Auslese“ und dessem Assozitationsrahmen zwischen Weinanbau und Sozialdarwinismus auch mindestens Sarkasmus unterstellen könnte.
Relevanz gewinnen Behnkes „beautiful loser“ indes angesichts der sich derzeit konstituierenden neuen politischen Machtverhältnisse. Nachhaltigkeit, die sich sowohl die Grünen als auch die FDP groß in die Wahlprogramm geschrieben haben, kommt in den Gedankenwelten, die „Natürliche Auslese“ beschreibt, am allerwenigsten vor – sehr wohl aber der liberale Spirit, der eine Fahrt auf der abwärts gerichteten Spirale nicht mit Verboten einschränken, sondern mit kreativen Ideen möglichst effizient und selbst abfeiernd abfedern will. Um Kreativität schon in den Schulklassen abmelken zu können, fantasierte das jüngste FDP-Wahlprogramm ja vom „Experimentellen Lernen und Kreativzonen“, die in 1000 Pilotschulen eingerichtet werden sollen, sogenannte „MakerSpaces“. Ein Wort, das auch jenen gedanklichen Raum gut beschreibt, der in „Natürliche Auslese“ in der Regel nur durch den tödlichem Ausgang wieder verlassen wird. Da das Gros von Behnkes Personal männlich ist, wäre hier kalauernd auch der Begriff „MackerSpace“ wohl ebenfalls zutreffend. So wirkt dieser schmale, feine Erzählband nun als Kommentar zum derzeitigen Wachstumsschub grün-liberaler Kräfte. Man merke: Blanker Fortschrittsglaube endet einerseits oft tödlich. In einer allzu regulierten, auf Sicherheit und Nachhaltigkeit eingeschossenen Realität, werden Stoffe für unterhaltsame Pulp-Storys andererseits schnell Mangelware.