EARQUAKE – Wolfgang Voigt 1991-1999

Wolfgang Voigt: „Es war sehr demokratisch, sehr international und sehr unhierarchisch – der Spirit war sehr gut“

Wolfgang Voigt 1993 / 2019 (Copyright: Archiv Wolfgang Voigt, Unland)

Am heutigen 31. Oktober erhält Wolfgang Voigt den „Holger Czukay Preis für Popmusik“ der Stadt Köln, gestern erschien mit „EARQUAKE – Wolfgang Voigt 1991-1999“ ein monumentaler, 303 Tracks umfassender Rückblick auf sein nahezu gesamtes musikalisches Schaffen während der 1990er Jahre, im Kompakt-exklusiven Single-Download oder als Stick-Monolith in limitierter Auflage.

Thomas Venker hat den Godfather of Cologne Techno im Büro von Kompakt zu einem Gespräch getroffen.
Bilder: Archiv Wolfgang Voigt, Unland

Wolfgang, warum „EARQUAKE“?
Wolfgang Voigt: Warum EARQUAKE? Weil die Musik dieser Zeit, an der ich mich gerade wieder sehr erfreue, auch mit „Hören mit Schmerzen“ zu tun hat, um Blixa Bargeld zu zitieren. Earquake im Sinne von viel, massiv, hektisch, laut, schnell und bisweilen klanglich schmerzhaft – all das, was den Sound besonders der frühen 90en ausgemacht hat.
Earquake aber auch im Sinne von damals beinahe täglich steigenden BPM-Umdrehungen bis hin zum Gabber -Schleudertrauma. Ich mochte das alles, und ich habe mitgemacht. Habe selbst einige Gabber-Scheiben produziert, Anfang 93, kurz vor unserer damaligen Plattenladen-Eröffnung. Eine war besonders erfolgreich: Mike Ink & The Chain of Brotherhood: „Lovely Ugly Brutal World“. Eine wunderschöne, fette Pop-Gabber-Scheibe, unheimlich hart, brutal, erschienen auf dem Label meines alten Kumpels Dr. Walker. Die ist super gelaufen und wurde von Marusha rauf und runter gespielt.
Die habe ich bei ein paar Bier, unter dem Kopfhörer eingespielt, weil ich nicht laut machen konnte. Ich bin dann darüber eingeschlafen – und am anderen morgen hatte ich zwei Ergebnisse: eine wunderbare Platte, die überraschend gut klingt, und einen massiven Hörsturz, der mir einen Tinnitus eingebracht hat. So habe ich dann weiter produziert und eine Woche später ein paar Stücke eingespielt, in der ein Vokal-Sample enthalten ist, das „Earquake“ singt.
Das wirkte ironischer Weise wie ein Verweis, sowohl auf den krachigen Sound der Platte als auf das Klingeln in meinen Ohren. Da hört man den Hörsturz und den Tinnitus bis heute. Ein Ohrbeben, wenn du so möchtest. Das Ding kam bis heute nicht raus, weil es wirklich extrem anstrengend klingt, jetzt aber kommt es raus und auch deswegen heißt das Projekt „EARQUAKE“.

Eine schöne Erklärung. Und es gibt dem ganzen eine Signalwirkung in die Welt hinaus. Die Acid-/Gabber-Ära, über die wir heute sprechen, ist ja musikalisch zunächst einmal eine rein europäische gewesen. Bei Earquake denkt man natürlich aber sofort an Earthquake und – ich zumindest – dann gleich an San Francisco, an Japan, eben an all die Regionen, an denen die Erdplatten sich reiben.
Das ist was dran. Der Begriff ist nicht von mir, den gibt es bereits. Die Assoziation zwischen Erdbeben und Ohrbeben und Wellen, liegt nah. Man darf den Titel vielschichtig begreifen. Ich denke dabei auch an ein Festival des musikalischen Wahnsinns und der unbegrenzten Möglichkeiten, eine gewisse anarchische Freiheit des „einfach Machens.“

Wolfgang, mit „EARQUAKE – Wolfgang Voigt 1991-1999“ suchst du deine eigene Vergangenheit auf. Wie fühlt sich das an? Bei der Arbeit an der GAS-Box hast du das ja auch bereits gemacht, aber eben ästhetisch viel enger gesetzt und vor allem nicht mit Blick auf eine derart emotional besetzte frühe Phase deiner Karriere.
Auch wenn GAS seinen Ursprung ebenfalls Mitte der 90er hat, so ist der Blick darauf doch komplett anders. GAS war nie wirklich weg und hat besonders in den vergangenen drei Jahren einmal mehr einen Status – einen Zustand der Zeitlosigkeit im besten Sinne – erreicht. Dieses, ebenso wie die ungebrochene Lust an der geraden Bassdrum, machen mir das Fortsetzen meiner musikalischen Arbeit in der Gegenwart zur Zeit im Grunde sehr leicht. Ich bin da recht inspiriert. Dennoch fehlte mir dieser Tage irgendwie der Auslöser neue Musik rauszustellen. Ich hatte Lust auf was anderes. Auf einen anderen Blick auf die Musik.
So kam es, dass ich beim Surfen durch meine persönliche Musikhistorie, mit der gut gereiften Distanz von mehr als zwei Jahrzehnten, einen erneuten Ausflug in „meine“ 90er unternommen habe. Die Lebens- und Spielfreude, der Geist dieser Zeit, das Wilde, das Unbedachte und Unerschrockene, das Anarchische, diese gut gelaunte „Hauptsache Egal“-Haltung dieser Zeit, hat mich plötzlich wieder sehr – und irgendwie neu angesprochen.
Es hat ja über die Jahre immer wieder Stimmen gegeben, die sagten, leg doch mal dieses oder jenes Projekt aus der Vergangenheit wieder auf. „Es ist doch mal wieder an der Zeit für ein bisschen Mike Ink und Acid-Spaß, oder sowas“ – und meine Antwort war immer: Nein, ausdrücklich nicht, das braucht kein Mensch! So ging mir das zumindest die letzten 20 Jahre fast immer.
Warum also gerade jetzt? Weil der richtige Abstand da ist. Weil die Zeit reif ist. Weil es sich jetzt gut und richtig anfühlt einen neuen Retro-freien Blick auf das komplexe Schaffen dieser Zeit, als Ganzes zu werfen.

Der Zeitpunkt passt ja sehr gut, du bekommst am 31. Oktober den erstmals vergebenen „Holger Czukay Preis für Popmusik“ der Stadt Köln verliehen. Was bedeutet dir das?
Zunächst mal muss ich sagen, dass der Preis da reingeplatzt ist, das habe ich erst vor wenigen Wochen von offizieller Seite telefonisch erfahren. Das 90er-Projekt war bereits auf dem Weg. Aber das passt natürlich wie der Deckel auf den Topf. Da ich keine Ahnung von dem Preis hatte, musste ich zunächst Mal nachfragen wofür genau ich den bekomme. Wieder für GAS? – „nein, es geht um dein gesamtes musikalisches Schaffen, aber keine Angst, es ist kein Abgesang-Preis à la für’s Lebenswerk, du bist noch jung genug, dass wir da noch was erwarten” war die Antwort. Und: „Der Preis ist dafür, dass du dich mit deiner künstlerischen Arbeit um die Stadt verdient gemacht hast. Es geht unter anderem auch um den Sound of Cologne und eben den Kölnbezug.“ – Das kann man also annehmen.

Das freut dich schon, oder?
Klar freut mich das. Welcher Künstler freut sich nicht, wenn die Arbeit anerkannt wird? Aber ich werde deswegen keineswegs übermütig. Es geht um das popkulturelle Schaffen in der Stadt, aus der Stadt heraus und für die Stadt. Und wenn man meine Arbeit etwas kennt und sich hier bei Kompakt umschaut, dann passt das schon mit dem Stadtbezug.

Meine erste Reaktion war ja: „Das ist doch absurd! Wolfgang Voigt ist doch schon längst auf Augenhöhe mit den anderen großen musikalischen Gestalten der Stadt positioniert: Stockhausen, Nico und eben Czukay.“ Eigentlich müsste es doch den Wolfgang Voigt Preis geben!
Ich finde das sehr witzig. Ich sage immer scherzhaft, dass man irgendwann die Straße hier in Wolfgang Voigt Straße umbenennen sollte. Das ist aber Selbstironie. Ich spiel das Spiel immer gerne mit, das hält mein rheinischer Humor gut aus. Aber so ernst nehme ich mich dann auch wieder nicht. Wer sollte den Wolfgang Voigt Preis bekommen?

Das war mein Schwäbischer Realismus. Es ist ja auch schön, dass mal ein Lebender einen Preis bekommt.
Vielleicht haben die sich ja gedacht, „bevor es zu spät ist …“ Obwohl ich mich noch guter Gesundheit erfreue …

 

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Lass uns mal kurz die Richtung umdrehen: Gab es im Taumel der frühen Jahre denn sowas wie eine Langzeiterwartung? Dachtest du damals, dass du auch 2019 noch Techno hören und vor allem produzieren würdest?
Im Sinne meiner Sozialisation, mit Sicherheit ja, auch wenn ich nicht gedacht hätte, dass das dann immer noch Techno heißt.. Ich bin seit meinem zehnten Lebensjahr jedem normalen, traditionellen Werdegang abhanden gekommen, und habe mich ausschließlich der Pop-Subkultur, der Kunst und der Musik verschrieben. Techno war eine Etappe – ich hatte das Vergnügen, von Anfang an dabei zu sein Ich war allerdings sozialisiert mit einer Musikgeschichte, die auf der Chronologie aufeinander folgender Trends basierte, im Sinne von nach einem Trend folgt der nächste. Es war also nicht vorhersehbar in den frühen Tagen von Techno, dass diese Musik generell und damit auch unsere, über das hinausgehen würde, was sich damals im positiven Sinne als sehr schnelllebig angefühlt hat. Das zeichnete sich erst ein paar Jahre später ab, als wir uns plötzlich mit unserem eigenen Plattenladen an einen 8-Stunden-Selbstverwaltungstag im Auftrag der Vermarktung unserer eigenen Musik gewöhnt hatten – ab da war das schon auf Langfristigkeit hin ausgerichtet. Wir dachten nicht, dass wir die Firma nur für ein paar Jahre machen würden, das wollten wir dann schon auf lange Sicht durchziehen.
Was die kulturhistorische Betrachtung von Techno betrifft: es zeichnete sich irgendwann ab, dass die gerade Bassdrum gekommen war, um zu bleiben. Das fühlte man irgendwann. Als ich eben aus meinen Studio rausging, war sie jedenfalls immer noch da.

Ich bin optimistisch, dass sie auch gleich noch da sein wird, wenn du zurückkommst.
Wolfgang, so ein Preis, oder auch eine Aufarbeitung eines Projektes im Box-Format, das kann man als Institutionalisierung der eigenen Arbeit sehen. Die Anfangszeit hingegen war geprägt von einer großen Unübersichtlichkeit, alle hatten diverse Projekte und Namen, es herrschte eine Gesichtslosigkeit, man feierte dementsprechend in dunklen Kellerräumen mit Nebel und Strobo, man sah oft seine eigene Hand kaum.
War das eine Befreiung von den Erwartungen des Pop-Markts für dich – und hast du damals schon geahnt, dass das nur auf Zeit sein wird?

Es war eine absolute Befreiung. Das was Ende der 80er mit Acid und Anfang der 90er mit Techno passiert ist, war für mich das Beste, was der Popkultur dieser Zeit passieren konnte. Bis dahin ging es in der Popmusik der 80er, um das zum Teil sehr langatmige Verehren einzelner Bands, Sounds, Popstars, was sich zunehmend ausgereizt hatte. Es fehlt der Underground, die Bewegung, das Wilde, das Rotzige in der Musik – und dann kam Techno und hat das hergestellt. Man hat täglich diese Musik gemacht, man hat sie ohne wenn und aber rausgehauen. Man hat die Hörer entscheiden lassen. Es gab im allerbesten Sinne wenig zu zerplanen und zu zerdenken. Gerade die Anonymität, das im Dunkeln verborgen sein hinter den nicht etikettierten Platten, das war das Gebot der Stunde, das war, was diese Musik so frei gemacht hat. Man war nicht schöner und besser als die Anderen – aber eben auch nicht schlechter. Es war sehr demokratisch, sehr international und sehr unhierarchisch – der Spirit und die Reflektion von Musik war sehr gut und frei. Am Anfang von Techno war es aber natürlich keineswegs so, dass man über museale Box- oder Jubel-Editionen, nachgedacht hätte, es ging wirklich nur um „das Heute, um den Moment“.
Ein auf die Herausstellung und Popularisierung einzelner Personen und Projekte ausgerichtetes Denken war lange Zeit weg und das war gut so. Solange bis sich der positive Effekt von Anonymität und erklärungsfreiem Schaffen ausgereizt hatte. Irgendwann hat es wieder Sinn gemacht, der zunehmend unübersichtlichen Vielfalt die ein oder andere Trademark entgegen zu setzen, einzelne Projekte wieder herauszustellen und ihnen einen unverwechselbaren Wiederkennungswert zu verleihen.
Wie in meinem Fall zum Beispiel bei GAS oder Studio1, wofür sich auch zunehmend eine Hörerschaft jenseits des Techno-Undergrounds interessierte. Wobei ich auch heute noch gerne beides mache, und immer mal wieder eine spontane Idee einfach so „raushaue“. Der erste Gedanke gilt nie der Vermarktung, ich will zunächst mal einen Spirit-Effekt erzielen. Ich kann die Leute nur für was begeistern, wenn es mich selbst begeistert. Und das braucht Freiheit und Spontanität. Wunderschöne Sammler Boxen und Editionen kann man dann später machen.
Denn Sammeln macht Spaß und ist eine zeitlose Leidenschaft.

Der erste Impuls in Deinem Schaffen war ja auch oft das Serielle. Sowas wie Studio 1 oder auch Profan als Label war eine ästhetische Serienidee.
Ja, das Serielle kam vor den Sammler Boxen auf. Die Veröffentlichungsstrukturen hatten bei Techno ja von Anfang an etwas Serielles. Es ging oft nur um Nummern, es sah alles gleich und in eine Reihe gestellt immer super aus. Das hat mich als Warhol-Fan begeistert. Die Idee, auch über das optisch Serielle gewissermassen die Geschmacksorgane zu triggern – du hast Studio 1 genannt, da geht es um eine bestimmte Soundästhetik, mit hohem Wiedererkennungswert und wo die Cover nur durch Farben unterschieden sind. Das reduziert den Sprachgebrauch auf „Kennst du die Rote? Die Gelbe? Die Grüne?“ Das ist für mich ähnlich wie die rote, gelbe und grüne Marilyn von Warhol.

Warhol, der scheue Popstar, das passt ja ganz gut als Leitmotiv. Wenn ich mir die Mike Ink Fotos von früher anschaue, dann sehe ich einen schüchternen Jungen, aber zugleich auch einen Popstar. Eine magische Verbindung von zwei Strängen, dem Versprechen von Techno, dass man anonym bleiben kann – und trotzdem schafft Techno es, Pop und Popstars zu kreieren.
Ja, das stimmt: Mein ganzes Schaffen ist geprägt von einer gewissen Gleichzeitigkeit, von einem eher introvertierten, feinfühligen Künstlertum und dem selbstbewussten, eher lauten Pop(Star)-Image. Es entspricht dem Sein des Künstlers, die Realität zu verneinen und zu zweifeln, vor Allem an sich selbst. Um der viel zitierten Festlegung zu entgehen, erfindet man sich ständig neu. Man muss nicht David Bowie heissen, damit sowas zum Stilmittel bzw. zur Marke wird. DJ wollte ich nie sein und als Künstler war ich nie in erster Linie darauf aus, auf einer Bühne zu stehen. Aber ich begebe mich gerne an die Theke des Lebens und an die Fronten des Diskurses.

Wobei das ja nicht immer so war, dass man als DJ wirklich im Mittelpunkt stand. Wir leben ja aktuell in einer Ära, in der DJs permanent präsent sein müssen. Wie empfindest du denn den aktuellen Stand?
Es gibt DJs und DJs: Die stillen Charaktere, die ein solides Handwerk abliefern, die sich fachlich sehr gut mit der Musik auskennen und diese technisch gut auflegen können, aber eben zurückhaltende Typen sind und hinter ihrer Arbeit verschwinden. Es gibt aber auch die Rampensäue, die glamourösen Typen, die es auch braucht, die Stars, bei denen das Publikum die ganze Nacht mit Blick in Richtung DJ tanzt und wartet, bis er das nächste Mal zwischen zwei Platten oder zwei Files die Hände in Luft reißt. Der Tunnelblick in Richtung DJ hat sich über die Jahre auch hin zu einem ausufernden Starrummel entwickelt. Am Anfang, im dunklen Acid-Club, war alles sehr viel düsterer und die Fokussierung war nicht so sehr auf den DJ ausgerichtet, sondern mehr auf die Musik, die er gespielt hat.

Warst du selbst in den 1990er Jahren ein Tänzer?
Wenn man meine körperlichen Bewegungen im Nebel der Tanzfläche so nennen möchte, dann sage ich mal ja. Ich komme ja eher vom kopflastigen Diskurspop, ich hab in den 70ern Jazz, Krautrock und Avantgarde-Musik gehört, da ist man nicht unbedingt prädestinierter Tänzer. Auch wenn ich in der Zeit Disco und die Bee Gees ebenso liebte wie Miles Davis war ich kein Tänzer. Der Körper wurde erst wirklich Ende der 80er mit Acid House befreit. Heutzutage gehe ich per se weniger in Clubs, aber ich würde nie sagen, ich gehe da hin, um zu tanzen. Das kann passieren in entsprechender Laune. Aber Leute wie ich schauen sich gerne das Treiben von der Seite an.

Im Rückblick verklärt man ja vieles gerne, zumal angesichts eines Status Quo, der doch oft sehr nach Business as usual anmutet. Wie willenlos waren denn die frühen Jahre wirklich? Waren alle nur verpeilt?
Es war schon ekstatisch. Man wurde zunehmend enthemmter. Die Musik war sehr viel körperlicher als das Zeug, was man vorher gehört hat. Zumindest hat man sich körperlicher dazu benommen. Die ganze Drei-Tage-wach-Kultur, das Durchtanzen-bis-zum-geht-nicht-mehr, da war man eine Zeit lang mitten drin.

Eine große Rolle haben damals ja auch Drogen für die Genese der Szene gespielt.
Ja, ich hörte davon … 🙂

Wolfgang Voigt (Copyright: Archiv Wolfgang Voigt, Unland)

Wie war das für dich als Produzent?
Natürlich ist es so, dass man, auch schon lange vor Techno, seine einschlägigen psychedelischen Erfahrungen gemacht hat. Die Verweise im Zusammenhang mit meinem GAS Projekt und einem bestimmten Blick in den Wald – „Das ist Hänsel und Gretel auf Acid” – erklären da ja einiges. Im Party-Kontext präferiere ich eher das Bier-Techno Gefühl, das enthemmt. Die ganze in Techno-Kreisen übliche Chemie, – man sollte sie kennen, um mitreden zu können, – aber das ist nicht meins – und Musikmachen auf Drogen, das ist eine Sache für sich und auch nur relevant, wenn das Ergebnis nüchtern auch noch funktioniert.

Ich meinte die Frage nicht in dem Sinne, dass du auch was genommen hättest, mir geht es um das Wissen darüber, dass es die Leute tun, die die Musik hören und was das für einen als Produzenten bedeutet.
Auf mich als Produzent hat das im Grunde keinen Einfluss. Musik und Rausch haben schon immer auf vielfältige Weise korrespondiert. Auch habe ich nichts dagegen, wenn Leute meine Musik als Drogen-Musik bezeichnen. Ich persönlich bevorzuge aber eher Musik als Rausch, statt Musik im Rausch. Hypnotische, minimalistische Musik , Trance-haftes, Klaus Schulze, Can, psychedelisches … das hat mich immer begeistert. Ich hab ein Faible für solche Musik, im Sinne der Wirkung, aber ich brauch keine Drogen dazu. Dennoch habe ich über die Jahrzehnte immer wieder auch langfristig festgestellt, das es in Bezug auf die Kreativität, die Wahrnehmung und bewusstseinserweiternde Vertiefung, Unterschiede zwischen Leuten mit und ohne LSD-Erfahrung gibt – ich habe LSD-Erfahrung und bin sicher, es hat meine künstlerische Fantasie befördert und erweitert, aber eben nur das.

Wolfgang, ab welchem Zeitpunkt bekam das Ganze denn eine ökonomische Ausrichtung? Ab wann dachte man, das kann auch eine bezahlte Arbeit werden und ab wann wurde es das?
Ich musste anfangs wie alle „brotlosen Künstler“ durch die Schule des „realen“ Lebens und durch diverse Jobs, um die Miete zu zahlen. Aber das hat mich nie groß berührt, weil ich immer wusste, dass es eine Sache auf Zeit ist, ich wusste, ich werde Musiker. Mein Freund Jörg Burger und ich haben uns in den 80ern, in unseren Zwanzigern, sehr stark an angloamerikanischer Popmusik abgearbeitet. Wir haben versucht so etwas zu werden wie Culture Club, die Pet Shop Boys oder ABC, hat so nicht geklappt, aber es waren gute Lehrjahre. Damals hatten wir noch keine wirklichen ökonomische Erfolge – aus heutiger Sicht kann man sagen: aus guten Gründen.
Ökonomische Relevanz kam Ende der 80er, Anfang der 90er Jahre, mit der geraden Bassdrum. 1991 fing mein Alter Ego Mike Ink mit seiner Idee von „Crossover-Acid“ an erfolgreich zu werden. Mit der Eröffnung unseres Plattenladen 1993 setzte sehr schnell eine gewisse wirtschaftliche Vernunft ein. Wir waren ja schon Anfang 30 und sagten uns, wir müssen nicht nur an der Theke des Lebens rumhängen, mit einem Plattenladen kann man ja sehr gut das Angenehme mit dem Nützlichen verbinden.
Man konnte spät aufmachen, seine eigene Musik spielen, mit den Kumpels abhängen, ein Bier dazu trinken – und wenn es dann auch noch ein bisschen Geld eingespielt hat, ging man mit allen danach Pizza essen, bevor es wieder in den Club ging. Das stellte sich schnell als ein gar nicht so schlechtes Konzept heraus.

Wobei das “erst 1991” ja in Anführungszeichen zu sehen ist. Das ist sehr nah am Urknall.
Ja, aber ab da ging alles sehr schnell. Wir waren gerade durch mit den 80ern, in denen man in schöner Regelmäßigkeit seine mehr oder weniger aufwendig produzierten Demos bei irgendwelchen Majors eingereicht hat, um dann abgelehnt zu werden. Mit Techno ging eine radikale Demokratisierung der Produktionsmittel einher. Mit einfachen Maschinen – 303, 909, Atari 1040 – war man in der Lage, Musik zu produzieren. Man konnte selbst Platten pressen, ein Label gründen, alternative Vertriebe halfen, unabhängig von der Musikindustrie zu werden.

Im Zentrum der damaligen Produktionen stehen die 303 und die 909 – weißt du noch deine jeweils erste Begegnung mit den Maschinen?
1988 kam Acid House aus Chicago und hat binnen weniger Tage mein Leben radikal verändert. Ich habe diese Musik intensiv verinnerlicht, wusste also theoretisch, wie das zu klingen hat, hatte aber zunächst keine Ahnung, womit das genau gemacht ist. Ich hatte nur gelesen, dass man so eine 303 braucht. Also haben mein Kumpel Jörg Burger und ich uns auf dem Second-Hand-Markt die entsprechenden Maschinen besorgt und somit war das Ding auf die Schiene gesetzt und wir zwitscherten uns langsam in Richtung erste Independent-Erfolge.

Wie empfindest du ihren jeweiligen Klang heute? Löst das irgendwelche Schlüsselgefühle bei Dir aus?
Im Moment gerade wieder sehr positive Gefühle, da ich mich wegen des „EARQUAKE“ Projektes gerade wieder mittendrin befinde. Und durch den langen Zeitabstand empfinde ich es auch im Sinne einer sehr positiven Neubetrachtung. Man weiß, es ist alles gesagt über das Zeug, aber man merkt die spezielle Energie, die da drin steckt, gerade bei den schnellen, minimalistischen Acid-Sachen, mit und ohne 303. Der Techno-Dancefloor dieser Tage hat sich geschwindigkeitsmäßig irgendwo bei housigen 122 bis 125 BPM eingegroovt. Aber es gibt auch wieder eine Menge junger DJs, die wieder Sachen um die 140 spielen. Das sind nicht nur alte Sachen, das sind auch neue Sachen, das heißt irgendwo kommt auch das wieder. Ich stehe sehr auf diese 130-140-BPM-Sachen. Insofern zu deiner Frage: es macht mir aktuell wieder sehr viel Spaß, mich mit dem Zeug zu vernetzen. Ich besitze auch meine alte 303 noch mit all den Original-Sequenzen aus dieser Zeit. Aber keine Angst, ich hole die jetzt nicht aus dem Schrank, um damit irgendwas neues anzuzetteln. Es hat aber großen Spaß gemacht, den ganzen 90er Katalog zu entstauben, klanglich ein bisschen aufzupolieren, wie eine Art Enzyklopädie.

Kommen durch den Sound auch Erinnerungen an Ereignisse hervor? Also dass du beispielsweise ein Stück hörst und plötzlich gefühlt in 1992 bist.
Absolut. Das geht mir jetzt seit drei Monaten praktisch dauernd so. Ich war ja nun wochenlang fast nonstop im Studio und habe mich durch meine gesamten 90er gearbeitet und dabei 303 Tracks für mein Projekt aufgemöbelt. Da gab es unheimlich viele Aha-Momente. Teilweise bin ich aus dem Lachen nicht mehr rausgekommen. Bei einigen lange verschollen Dingern habe ich mich gefragt, ob ich die überhaupt selbst gemacht habe, und was ich mir dabei gedacht habe – am Ende fand das alles einfach nur super und habe mich für ungebremste Veröffentlichung entschieden … 🙂

Ich hake mal kurz nach: 303 Tracks?
Ja, ich habe mich für 303 einzelne Tracks (plus einem experimentellen Bonus Album bestehend aus 33 Tracks) entschieden. Das sind nicht alle, aber der größte Teil. Das Projekt bringt alle Stücke zusammen, die ich unter allen möglichen Namen in den 90ern gemacht habe, in chronologischer Reihenfolge. Egal ob Mike Ink oder Love Inc., auf Force Inc. oder Profan, als Wassermann, M:I:5 oder Studio 1, das ist da alles drin – bis auf GAS, das gehört da nicht rein, und bis auf Remixe und Kollaborationen; und ein paar Sachen, wo es rechtlich nicht ganz so einfach ist …
Von den 303 Tracks sind 75 bislang unveröffentlicht. Das sind Stücke, die hat noch nie ein Mensch gehört, teilweise nicht mal ich selbst, da ich mich zunächst nicht erinnern konnte, dass ich sie gemacht habe.

Immerhin sind sie von dir – nicht wie bei Jeff Mills, der doch neulich ein Demo, das ihm jemand geschickt hat, als seinen eigenen Track empfunden und veröffentlicht hat.
Oh, das ist blöd. Aber pass auf, das kann einem echt sehr leicht passieren. Das waren sehr chaotische Zeiten und ist lange her. Man hat sehr schnell produziert, man hing mit Kumpels rum, man hat fröhlich drauflos produziert. Wenn man 18 Tracks auf so einer alten DAT findet, dann kann man schon mal denken, das ist dein Track und man vergisst eben, dass da Kumpel XY auch dabei war. Ich habe mich aber sehr bemüht, das genau hinzukriegen.

Das bedeutet: du hast ein super Archiv.
Ich habe ein super Archiv. Die meisten meiner Kollegen hier im Haus haben vieles irgendwann verschlampt. Ich hab mein Zeug ziemlich gut zusammengehalten. Dabei haben sich eben auch Remixe und Versionen gefunden, die unveröffentlicht sind. Beispielsweise waren auf einer Studio 1 Platte im Original drei Stücke drauf – auf dem DAT sind aber fünf! Heute finde ich die anderen beiden auch gut und bringe sie deswegen mit raus.

Wieso ist „EARQUAKE“ chronologisch angeordnet? Einfach weil es einfacher war, als sich nachträglich irgendwelche Gruppierungen auszudenken?
Ich wollte alles auf einen Schlag und ohne singuläre Hervorhebungen oder subjektive Wichtigkeiten rausstellen. Deshalb habe ich mich für die unhierarchische Chronologie entschieden. Mir war es wichtig, das Ganze auf einen (historischen) Gesamtblick zu betrachten. Man kann das auch ein bisschen als Kommentar auf den Wert von Musik und dessen Konsum in der Gegenwart verstanden wissen. Du kannst heute via Streaming flatrates die gesamte Musik des Planeten auf deinem Telefon hören, wozu du 3000 Leben bräuchtest. Ich wollte mit meinen 303-Tracks-auf-einen-Schlag-Offensive, auch irgendwie diese Realität kommentieren.
Es gibt das ganze Paket auf einem Stick mit 303 (AIFF) Files, Booklet, Covern, Tracklisting. Aber natürlich auch als Single-Downloads für alle, die sich nur für Teile davon interessieren mögen.

… oder die eine Lücke füllen wollen.
Ja, klar…und auch um jüngeren Leuten, die sich dafür interessieren, ein ungefiltertes Angebot ohne Geschmacksvorgaben zu machen

Aber ein paar hast du ja auch nicht genommen.
Aber aus anderen Gründen. Nicht, weil mir was peinlich gewesen wäre. Ein paar Sachen waren einfach klanglich nicht zu retten. Da fragt man sich heute, warum man dafür damals nicht verhaftet wurde. Das ist zum Teil nur noch Krach. Faszinierend, aber da war nichts mehr zu machen.

Von Anfang an, oder weil die DATs sich auflösen?
Weil ich damals nach meinem persönlichen Earquake sehr wild und anarchistisch gearbeitet habe. Wohlklang, geile Produktion war noch nie in erster Linie mein Ding, das konnten andere deutlich besser. Mir waren die Inhalte wichtiger. Einige meiner 90er Jahre Hits – wenn man das so sagen will –, bei denen ich zum Beispiel. uralte Schlager gesampelt und eine Bassdrum untergelegt habe, sind klanglich objektiv echter Irrsinn. Aber der Underground macht’s möglich. Früher hieß es gerne mal, „klar, klingt scheiße, ist aber ein geiler Track“. Ein paar dieser Sachen mussten also durch das Raster fallen, weil das heute nicht mehr vermittelbar ist.

Aber die Bänder sind alle heile geblieben?
Ja, zum Glück! Man muss bei den DATs sehr sensibel sein, das ist als ob man Archäologie betreibt und alte Dino-Knochen ausgräbt. Das macht man ja auch nicht mit der Axt, da geht man mit dem Pinsel ran. Hat aber sehr viel Spaß gemacht.

Und der Stick kommt in einer 303er Auflage?
Im Moment ist das so angedacht. Die finale Auflage weiß ich noch gar nicht so genau, man kann ja noch gar nichts sagen … das ist ja auch ein ziemlich gewagtes Projekt.
Als ich den Text dazu geschrieben habe, fiel mir auf: „20 Jahre 99“ Damals, 1999, gab es schon mal ein – du wirst dich erinnern – ähnliches Himmelfahrtskommando mit Kreisel 99. Sozusagen als „vinyl countdown“ auf das Jahr 2000 kam jede Woche eine 7inch heraus. Die Reaktionen waren dementsprechend zwischen Faszination und fassungslosem Unverständnis. Aber Spaß muss sein.

Ich habe damals in Stuttgart alle bis auf eine oder zwei abbekommen.
Ich habe alle.

Das glaube ich.
Das war damals auch ein bisschen sowas wie heute EARQUAKE. Ein paar Sachen gibt es, die sich überschneiden, einfach weil sie da jetzt wieder hineingehören, auch wenn sie jetzt vielleicht anders kategorisiert und benannt sind. Das Ganze ist wie gesagt unhierarschich, chronologisch. Es beginnt früh, 1991, und endet im November 1999 mit „W.I.R.“ von Wassermann, was nochmal ein schöner Hit war. Danach gab es davon noch einen Remix von Sven Väth, der ist aber schon von 2000.

Das ist ja auch eine zu jenen Tagen des Aufbruchs passende Geste, dass man eben unhierarchisch sortiert, sondern eben den Fluss der Dinge zulässt.
Unhierarchisch ist hier eben ganz in meinem Sinne.

Du hast einige der Projektnamen, die es damals gab, bereits genannt: Love Inc., Mike Ink, Wassermann, M:I:5 … Gibt es in deinem Kopf Profile für diese Projekte? Ist das eine Clique? Eine Familie?
Mittlerweile ist es zur Familie geworden. Wenn man das zu der Zeit der Entstehung in den 90ern betrachtet hat, dann haben die Musikprojekte sich doch stark unterschieden und auch gegenseitig widersprochen. Ich habe damals eine Menge Musik gemacht innerhalb kürzester Zeit, die erstmal nicht demselben Künstler zuordenbar gewesen wäre: eine Gabber-Platte, etwas Ambientes, oder auch formaler Minimalismus à la Studio 1 oder abstrakte Sachen, Groove-Theorien wie M:I:5. Es gab damals auch schon die Wahrnehmung dieser idiosynkratischen „Sprunghaftigkeit“. Ein sehr amüsante Erinnerung aus dem Jahr 95 oder 96 ist zum Beispiel: Ich hatte ein paar sehr unterschiedliche Veröffentlichungen gleichzeitig draussen, die mir eine gewissermaßen ironische Platz 1 Platzierung in der damaligen Musikzeitschrift DE:Bug, unter der Nennung – „Mike Ink – Der Mensch“ eingebracht hat. DE:Bug Autor Sascha Kösch schrieb damals: “… Mike Ink, die wandelnde Sinnkrise …“
Hat mich sehr amüsiert …
Heute, mit all dem Abstand, stellt das ganze Zeug in all seinen Facetten vielmehr einen nachvollziehbaren Zusammenhang her, als es damals möglich gewesen wäre. Es hatte auch vieles damit zu tun, dass ich mich nicht festlegen lassen wollte, ich wollte diese Vielschichtigkeit, auch die Widersprüchlichkeit. Ich wollte vor allem meine Unberechenbarkeit und maximale künstlerische Freiheit behalten. Erwartungen zu erfüllen, war nicht mein oberstes Ziel.

Die radikalste Marktgeste: dem Markt das entziehen, was er haben möchte.
Später habe ich ähnliche Strategien auch als Handgriffe genutzt, ich hab das dann künstliche Verknappung genannt. Das kam aber erst viel später, in der Zeit ging es mir nicht darum, es war rein intuitiv. Ich habe Musik gemacht, sie rausgestellt und es hat funktioniert – weil die Zeiten so waren. Aber jede Art von Festlegung, das war nicht mein Ding. Wenn ich Dienstag was gemacht habe, musste ich Mittwoch etwas anderes machen, um mich davon zu befreien. Ich wollte den wahrhaftigen Kern der Musik greifen, den Spirit. Ich hatte keine Lust auf die Berechenbarkeit von Techno.

Wie fühlte sich das bei der Sichtung des Materials an, hattest du das Gefühl, es damals in der schnellen Taktung immer richtig gedeutet und benannt zu haben? Oder gab es öfter den Moment, wo du dir dachtest, eigentlich hätte ich das auch unter dem anderen Projekt einsortieren können.
Ja, das hat es gegeben – und ich habe auch, frech wie ich bin, einige Sachen aktuell umgetauft. In der Eile wurde so einiges damals anders benannt, bei bis zu drei Dinger in der Woche erschien das sinnvoll.

Drei Dinger in der Woche heißt, für die jüngeren Leser_innen: drei Vinyl-Veröffentlichungen.
Ja! Ein Beispiel: Es gab da diese frühe, abstrakte M:I:5 Musik, inspiriert von dem ganzen Clicks & Cuts-Zeug, und in einer Woche hatte ich drei Veröffentlichungen davon, eine habe ich dann einfach „Digital“ genannt, weil ich dachte, ich kann jetzt nicht noch eine M:I:5 bringen. Und neue Namen erfinden hat Spaß gemacht. Den Namen Digital habe ich jetzt wegrationalisiert, das war nur ein Arbeitstitel. Profan 11 – Digital „Intoleratio“ heißt jetzt M:I:5 „Intoleratio“. Oder die allererste Mike Ink auf Structure 1992, „Structuralism“, die erschien damals als M:I:5, weil da so ein Stück gleichen Namens drauf ist, die habe ich aber jetzt einfach mal umbenannt in Mike Ink, weil das besser passt. Das klingt halt eher nach dem Projekt, dann nenn es doch auch so.

Wie empfindest du den Kontrast von deiner Musik der 1990er Jahre mit dem hier und jetzt von Techno?
Ich habe das Gefühl, dass es absolut richtig ist, die damaligen Sachen jetzt wieder herauszubringen. Das ist ein Zeichen: Ich teile damit explizit meinen aktuellen musikalischen Bewusstseins- und Gefühlszustand mit. Das was man da hört, ist exakt, wie ich diese Dinge gerade sehe. Ich möchte mich mit dieser Zeit vernetzen, auch um so auf die Gegenwart anders einwirken zu können. Ich möchte einladen, sich mit diesem Spirit zu verbinden. Wenn ich in unserem Plattenladen mal ein bisschen davon gespielt habe, dann fangen die Leute an zu lächeln. Diese Musik entlockt dir so ein „Mann, was für ein geiler Scheiß.“ Wenn ich aktuellen Techno höre oder selber mache, schwingt immer der Druck zeitkritischer Neuheitenbewertung mit, obwohl die Musik das in vielerlei Hinsicht so gar nicht mehr braucht und sich eventuell eines gewissen Mutes zum Wagnis, zur Übertreibung, zur Peinlichkeit beraubt. Sich in gewisser Hinsicht anpasst. Dem entgehe ich mit „EARQUAKE“ – diese Musik muss im guten Sinne, nichts mehr beweisen, oder geschweige denn erklären. Sie muss nur wirken.

Das ist soziologisch sehr interessant. Wir leben ja aktuell in einer Instagram-Künstler_innen-Ära. Die Leute haben ja nicht nur Musikprojekte, sondern sie schmeißen sich auch mit allem, was sie persönlich zu geben haben, rein in die Waagschale, ja, sie müssen es. Alle posten permament, man kommt eigentlich nicht mehr zum modulieren einer erschaffen Künstleridentität, sondern das sind ihre wahren Leben: Man sieht sie alle beim Schwimmen, vor dem Festival, nach dem Festival und und und …
Du aber sprichst hier von der Freiheit zu tun, wozu man Lust hat. Und wenn man es in der Ära der 90er, über die wir hier sprechen nicht gemacht hat, wie beispielsweise Richie Hawtin, an den ich vorhin während deiner Ausführungen denken musste, dann hat man es als Entscheidung gemacht und sich ganz bewusst auf die eine Identität festgelegt. Die jüngeren Künstler_innen heute kleben aber oft an der einen Identität mit der Hoffnung, dass irgendwelche Zahlen auf Facebook und Instagram und Twitter wachsen.
Was man heute hat, ist eine große Freiheit der Möglichkeiten – die aber auch einschränkend sein kann. So wie man das heute auf Instagram macht, indem man jeden Mist postet und sich permanent mitteilt auf die Art und Weise, wie junge Leute das eben tun, hat aber auch gewisse Parallelen zum seriellen Musikveröffentlichen von Früher in Form von Platten. Das war irgendwo auch wie ein öffentliches Tagebuch. Wenn man Musik macht, dann ist das immer eine Preisgabe von Herzblut und Personalität, das hat eine gewisse Intimität, aber es bleibt immer noch der Schutzwall der Platte als künstlerischer Entwurf.

Du sprichst da einen ganz wesentlicher Punkt an: all deine Energie ist damals in die Musik reingegangen und nicht in Postings, Stories 
Das war das Ausdrucksmittel. Die Musik spricht für sich. Das ist ja auch das, wo das originäre Talent liegt.
Musik sagt mehr als 1000 Worte! Ich habe beim Wiederhören sehr viel von meiner Denke und meinem damaligen Lebensgefühl wieder entdeckt. Das wirkt im guten Sinne noch oder wieder da steckt für mich eine Energie, ein Spirit drin den ich dieser Tage als positiv befreiend und inspirierend empfinde. Wenn das Leute von heute anstecken kann, umso besser …

Im Begleittext zur Veröffentlichung steht: „Voigt feiert die Freiheit der Kunst und seine ganz eigene Loveparade“ – was hatte deine Loveparade mit der einstigen Berliner Großveranstaltung gemeinsam und was trennte euch?
Ich fand das Phänomen Loveparade am Anfang schon toll – dass so unglaubliche viele Menschen auf die Straße gehen und die Bassdrum ekstatisch abfeiern, das fand ich gut. Bevor das Ganze so super kommerziell wurde fand ich das sehr gut und richtig.
Kompakt war zwar nie primär Loveparade-kompatibel, da haben wir nicht groß stattgefunden, aber der Spirit war auch in Köln präsent. Es gab ja viele, die sehr Anti-Loveparade waren, viele aus dem sogenannten Diskurs-Techno-Lager oder nennen wir es Akademiker-Techno, Abi-Techno – diese unversöhnliche Abgrenzung zum angeblichen Deppentechno, die fand ich immer bescheuert. Ich habe die Grenzen als fließend empfunden. Musik ist Musik, die spricht für sich, warum das Ganze diskreditieren? Ich finde es ja auch bescheuert, explizit den Kölner Karneval abzulehnen, das kann man nicht machen, denn wir haben immerhin das Bumm!Bumm!Bumm! gemeinsam. Da bin ich eher für’s Mitfeiern.

Wo wir gerade beim Thema sind: Wird es denn „EARQUAKE“-Auftritte geben, vielleicht gar eine Tournee wie zuletzt für GAS?
Nein , keine Angst. Es gibt keine Mike Ink bzw. EARQUAKE Auftritte.

Auch keinen hier bei der Weihnachtsfeier?
So ganz privat? Mal gucken. Wenn alle Sticks verkauft sind… Nein, Spass beiseite. Da sehe ich mich nicht.

Wann kamen dir denn auf dem zunächst so offen da liegenden Feld die ersten Gedanken, dass das Innovationspotential ausgereizt sein könnte?
Ich habe die erste Hälfte der 90er praktisch durchgearbeitet und durchveröffentlicht. Es ging ständig höher, schneller, weiter und wurde auch international zunehmend erfolgreicher. Bis dahin hat man mehr oder weniger reines Technopublikum, vom DJ oder Produzenten-Kumpel bis zum Zipfelmützenraver, die bei uns im Plattenladen feierten. Mitte der 90er entwickelte sich die Sache in die Breite. Da kam dann auch die Intelligenzia aus der SPEX-, Indie- und Kunstecke zunehmend dazu und begann sich für den Magic Bass Drum Sound zu begeistern.
Ich persönlich habe 1996 erstmalig die Reißleine gezogen, nachdem ich ein sehr erfolgreiches Jahr mit unterschiedlichsten Platten hatte. Mike Ink war ein Projekt von vielen, aber immer mehr Leute dachten, ich würde wirklich so heißen. Das wollte ich irgendwann nicht mehr haben. Deswegen habe ich Anfang 1997 das Projekt eingestellt. Ich wollte die Dinge wieder zu Wolfgang Voigt dem Künstler zurückführen. Also hieß es Studio1, Freiland, Wassermann, M:I:5 und natürlich GAS. Ab ca. 1998 habe ich mich zusammen mit meinen KOMPAKT Freunden zunehmend mehr um den Ausbau der Firma gekümmert. Wir sind damals sehr schnell gewachsen, so das mein persönlicher musikalischer Output, mein kreativer Dauerrausch, wenn man so will, zur Jahrtausendwende fliesßend in die Energie des Firma-Machens und der Nachwuchsförderung überging.

Der Begleittext zur “Earquake” Veröffentlichung endet mit dem Prince-Zitat „Tonight we’re gonna party like it’s 1999“. Fühlte sich der Jahrhundertwechsel damals für dich bereits wie das Ende einer musikalischen Epoche an? Oder ist diese kalendarische Zuschreibung nachträglich passiert?
Mit dem heutigen Abstand würde ich das mehr so sehen, dass da auch eine Ära irgendwo zu Ende ging, bzw. eine neue begann. Damals kam mir das nicht wirklich so vor. Weil die Energie, die man bis dahin vor allem für das eigene Musik Produzieren aufbrachte, nahtlos in die Energie für die Musik auf und für Kompakt und dessen Ausbau, überging. Aber klar hatte der Jahrtausendwechsel auf 2000 schon eine gewichtige und zumindest symbolische Bedeutung.

Das Prince Zitat ist ja aus den 80ern … das fand ich damals als Teenager, als ich das Tape in Nizza gekauft habe während eines Urlaubs, fantastisch, dass da jemand über das so weit entfernt anmutende Jahr 1999 gesungen hat.
Ja, das ging mir ähnlich. Aber bei dem Zitat ging es mir nicht um Prince, es passte einfach so gut, weil mein Projekt mit 1999 endet und zudem 1999 auch schon wieder 20 runde Jahre her ist.

Hast du in deinem persönlichen Partykeller nur den Sound wieder neu aufgesucht oder bist du dabei ins Foto stöbern und Video schauen verfallen?
Wir haben ja zum Glück gut isolierte Studios im Keller. Da kann man jederzeit Techno Party feiern. Man kann abhängen und Krach machen, wenn man will. Mein Bruder und ich nennen das gerne Popkino. Beim Musikmachen zappen wir gerne zwischen dem eigenen Zeug und ein bisschen Youtube Entertainment hin und her. Dann trinken wir ein Bier mit unseren Helden der 80er und 90er oder feiern die neuesten Deichkind Videos ab. Um auf deine Frage zurückzukommen: Beim Sichten des ganzen Sound-Dschungels geht man auch immer wieder ins Netz, stöbert nach Bildern, Videos, Dokumenten, und hilfreichen Release-Listen. Da dringt man natürlich immer tiefer vor in die Aura und den Spirit dieser Zeit. Popdokukino in eigener Sache.

Klingt super.
Ist auch so.

Sollten sich alle mal die Zeit dafür nehmen.
Unbedingt.

Wolfgang, vielen Dank für das spannende Gespräch.
Bitte, gern. Hat Spaß gemacht.

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