Aufbruch, Abenteuer, Neugier und Begeisterung
“Horizonterweiterung, Zusammenkommen, Verlaufen, Verwirrung, Neugier, Inspiration, Entgrenzung, Vielstimmigkeit, Fülle, Mutprobe, Abenteuerspielplatz, Ohne Sitzplatzreservierung, Wildwuchs, Experiment, Aufbruch, Erschöpfung, Begegnung, Eintritt frei“ – diese Aneinanderreihung von Zuständen und Auswirkungen stellen der gastgebende Stadtgarten und das Night of Surprise-Team aus Reconstructing Song, Cologne Sessions und Sounds Wrong, Feels Right selbst für die Nacht in den Raum. Und sie liegen damit nicht falsch: „Night Of Surprise” ist in der Tat eine Nacht der positiven Überforderungen.
Im Vorfeld der fünften Auflage sprach Kaput mit Thomas Gläßer von Reconstructing Song, der das Festival konzipiert hat.
Thomas, die erste “Night Of Surprise“ fand, wenn mich nicht alles trügt, 2014 statt. Damals unter anderem mit Baustelle Kalk Dj-Team, Don´t Dj, Niobe, Scope, Rashad Becker und The Nest. Sag doch bitte ein paar Worte, wie es zu dem ungewöhnlichen Konzept kam.
Thomas Gläßer: Genau, das war am 10. Oktober 2014. Für die Idee gab es mehrere Zündfunken: Etliche Jahre früher hatte mich Reiner Michalke, der künstlerische Leiter des Stadtgarten, gebeten, mir im Amsterdamer Paradiso die “Night of the Unexpected” des holländischen Kurators Roland Spekle anzuschauen, ein wunderschöner und wirklich gut klingender Spielort mitten in Amsterdam mit mehreren Bühnen, wo damals Dälek, Pole, Peter Brötzmann/Paal Nilsen-Love/Michiyo Yagi, der Nederlands Kamerkoor mit ‘Lux Aeterna’ van György Ligeti, Toshimaru Nakamura, MoHa! und Errorsmith auftraten. Das entpuppte sich später als wichtiger Bezugspunkt für das Konzept der “Night of Surprise”, auch durch die Aspekte, die mich dort weniger überzeugt haben.
Zweitens haben wir im Stadtgarten bei kuratierten Veranstaltungen wie “Broken Sound” oder “Reconstructing Song” die wiederkehrende Erfahrung gemacht, dass oft nur eine kleine Schar Eingeweihter kommt, tolle Abende erlebt und wir nachher das Gefühl haben, die Musik hätte auch deutlich mehr Menschen erreichen können.
Und schließlich hatte sich durch die von Till Kniola beziehungsweise Ronnie Oliveras und Holger Adam (broken sound), Meryem Erkus und Nicole Wegner (Sounds Wrong, Feels Right) und mir (Reconstructing Song, Outskirts, Luftbrücke) organisierten Reihen eine schleichende Aktualisierung und Öffnung des Programms ergeben, die das Profil des Stadtgartens – wie vorher unter anderem schon die Klopothek und die White Noise Bar – neben dem tollen Jazzprogramm um andere spannende Spielarten aktueller Musik und experimentelle Nischen verschiedener Genres erweitert hat.
Angesichts einer Fördermöglichkeit (Landschaftsverband Rheinland) haben wir die Gelegenheut beim Schopf gepackt und sozusagen eine fette Party experimenteller Musik organisiert, um all diese Nischen zusammen mit einem großen Publikum und nicht nur mit den ´üblichen Verdächtigen´ zu feiern. Ursprünglich war das als einmalige Aktion gedacht und nebenbei auch als Programmvision für den Stadtgarten als ein vielfältiges und modernes “Fringe Center”, eine Plattform für hochqualitative künstlerische Musik verschiedener Genres und Nischenphänomene, progressive Experimente und randständige musikalische Schönheiten. Ein Abend, bei dem alles auf Aufbruch und Abenteuer orientiert ist und dieser toll aufgestellte Veranstaltungsort andere Träume von sich selbst träumen kann. Und dann hat alles so gut geklappt, dass wir weitermachen wollten, zumal ich im ersten Jahr wegen eines schweren Krankheitsfalls in der Familie selbst gar nicht dabei sein konnte.
Wie haben denn die Künstler_innen darauf reagiert, dass sie in einem derart umfangreichen und divergenten Set-Up auftreten sollten?
Irritation habe ich keine bemerkt, aber einen gewissen Abenteuersinn, zum Beispiel bei der herausragenden Sopranistin Donatienne Michel-Dansac, die 2014 die “Recitations” von George Aperghis man muss tatsächlich sagen performt hat – eine Serie von auch stimmtechnisch spektakulären musiktheatralen Miniaturen. Für sie war es spannend und ein echtes Anliegen, die Musik von Aperghis, der sie eng verbunden ist, in diesem jungen und vielfältigen Rahmen außerhalb der recht überschaubaren Blase der zeitgenössischen Musik zu zeigen. Und zu einigen Künstlern gab es aus anderen Zusammenhängen schon ein gewisses Vertrauensverhältnis, so dass bei den Reaktionen der Künstler Neugier und Begeisterung bislang insgesamt klar die Oberhand haben.
Nun können die Künstler_innen ja auch kein reguläres Set spielen wie bei einem normalen Auftritt, wie kam das an?
Das war bislang eigentlich noch kein Thema: Wir bieten den Künstlern in der Regel normale Festivalsetlängen von 40-45 Minuten an. Aber natürlich gibt es Musik, die sich durch den Platz und Umraum, den sie zum Atmen braucht, oder durch ihre schiere Dauer für so einen Abend weniger eignet. Zum Beispiel habe ich mich dagegen entschieden, die “Study into 21st Century Drone Acoustics” von Gonçalo Cardoso und Ruben Pater in diesem Rahmen zu zeigen, weil mir das Thema für diesen Abend zu ernst ist und ich befürchten würde, dass die Auseinandersetzung mit dem Thema moderner Kriegs- und Herrschaftstechnologien an so einem Abend von zu vielen anderen Eindrücken überlagert würde.
Am wichtigsten ist mir, dass unterm Strich kein Zirkus dabei herauskommt, der nur auf spektakuläre Schauwerte setzt, sondern dass tatsächlich Begegnungen und ein fokussiertes Erfassen der verschiedenen musikalischen Welten, ihrer Verkörperung und Performance, möglich wird. Und das funktioniert insgesant erstaunlich gut, vor allem im Konzertsaal, wenn ich zum Beispiel daran denke, wie einmütig positiv die Antwort eines ansonsten mucksmäuschenstillen Publikums auf Felix Kubins Frage ausfiel, ob er nicht doch eine längere Fassung seines Hörspiels “Paralektronoia” performen soll.
Wir staunen eigentlich jedes Jahr, dass es wirklich klappt, dass man mindestens in Konzertsaal und im Studio den Eventcharakter des Abends vergessen und einfach zuhören kann. Danke an das tolle Publikum!
Nutzen die Musiker_innen während der Nacht denn die Gelegenheit, sich die vielen anderen Musiker anzuschauen? Hast du da Feedback bekommen?
Mal so, mal so. Viele sind den Abend über da, manche versuchen viel mitzunehmen und freuen sich selber über neue Entdeckungen, andere sind ganz auf ihre Auftritte fokussiert und wollen danach Ruhe, wieder andere verbringen gerne Zeit im Backstage im Gespräch mit den Kollegen.
Wie ist das Feedback denn generell seitens der Künstler_innen?
Viele mögen den Abend sehr und sind von der Situation fasziniert, dass es eigentlich immer überall voll ist und die Leute wirklich zuhören. Wir holen oft Feedback ein und der Enthusiasmus ist insgesamt groß. Die allermeisten Musiker_innen haben das Gefühl, dass die Veranstaltung mit Sinn, Verstand und Liebe zur Sache gerahmt ist. Mein Eindruck ist, dass viele den dionysisch ausufernden Charakter des Abends genießen, auch wenn ich gut verstehen kann, wenn Musiker sich mit “ihrem” Spezialpublikum manchmal wohler fühlen, das ein differenzierteres Verständnis davon hat, was genau gerade gespielt wird und damit unter Umständen auch ein besserer Resonanzkörper und ein spannenderes Gegenüber für die Musik sein kann.
Warst du selbst denn vom Erfolg der Idee von vornherein überzeugt?
Ich hatte ehrlich gesagt gemischte Gefühle und vor allem die Sorge, dass der Abend zwar als Event funktionieren, der Fokus auf die Musik dabei aber verloren gehen könnte. Aber zum Glück entsteht ein solcher Eindruck nur ganz punktuell, was ich nach Erfahrungen auf manchen anderen Festivals immer noch erstaunlich und wirkich erfreulich finde. Und natürlich wussten wir auch nicht, wie viele Leute kommen und waren ein bisschen überrascht, wie gut das von Anfang an geklappt hat.
Das spannende an der „Night Of Surprise“ ist es ja unter anderem, dass die Musikstile sehr frei wechseln, sich mal nicht alles in einem Soundsegment abspielt, sondern – ich zitiere die Ankündigung – “Zeitgenössische Komposition, Elektronische Experimente, Radikale Tanzmusik, Trance-Rave aus Tunesien, Verspielte Improvisation, Noiseperformance, zeitgenössische Folk-Interpretationen, Afrofuturistische Dancefloor-Experimente, Avantgardistische Dudelsackmusik“ nebeneinander stehen können. Kannst du sagen welche Sequenz(en) aus 3,4 Auftritten dich bis jetzt am meisten gefesselt hat?
Das allererste Jahr im Konzertsaal hatte eine fantastische Strecke von der genannten Donatienne Michael-Dansac mit Aperghis´ “Recitations”, sehr klug konzipierte zeitgenössische Musik auf höchstem musikalischem und technischem Niveau, über das Warped Blues/Jazzrock Trio der New Yorker Gitarristin Ava Mendoza, die verbeulten Torch-Songs von Baby Dee zum Psych-Prog-Postminimal-Noise der Zs. Drum herum noch Nils Wograms Posaunenquartett und das schwelgerische norwegische Duo Space Monkay. Selbst den Technikern des Hauses hat sich diese Strecke als außergewöhnliches Highlight eingeprägt.
Auch an die Folge Audrey Chen/Phil Minton, Trumper Trumpet Synthesizer, Hieroglyphic Being und DJ Nigga Fox 2016 im Studio mit vielleicht 200 Leuten draußen, die erstmal nicht mehr reingekommen sind, erinnern wir uns sehr gerne.
Aber neben den direkten Sequenzen finde ich vor allem die Vergleiche und Querbezüge im Programm interessant, wie zum Beispiel 2014: wieder mit Donatienne Michel Dansac, von zeitgenössischer, jahrzehntelang trainierter Vokalkunst zu der “sophisticated regression” der Lautpoesie von Dylan Nyoukis (der übrigens dieses Jahr mit Blood Stereo dabei ist). Zweimal Stimme, zwei ganz verschiedene Bezüge zu den extremen Möglichkeiten der Stimme: zu Subjektivität, Zivilisation, Disziplin.
Wie wichtig ist denn der freie Eintritt für den Erfolg der Reihe?
Das ist eine gute Frage, die wir uns auch immer wieder stellen. Wir glauben tatsächlich, dass vielen das Kommen und Schnuppern leichter fällt, wenn es nichts kostet. Ein anderer Teil kommt wegen bestimmter Künstler und würde sicher auch bezahlen. Ohne Eintritt entsteht wahrscheinlich nicht nur ein größeres, sondern auch ein gemischteres Publikum. Wir flirten aber immer wieder mal damit, einen Eintritt von eher symbolischen 10€ auszuprobieren – aber der freie Eintritt ist toll und offenherzig, sehr passend zum entgrenzten Charakter des Abends, ganz ohne Schwelle – außer der Musik vielleicht, die teilweise wirklich herausfordernd sein kann, wie Thoma Ankersmits otoakustisch-lautstarkes Synthesizer-Soloset 2016.
Und beim Verkauf von Eintrittskarten müssten wir und das Publikum mit dem Problem umgehen, dass wir definitiv nicht garantieren können, dass man die Band oder die Musikerin sehen wird, wegen er man vielleicht die Karte gekauft hat. Der Andrang macht Einlassstops manchmal unumgänglich, meistens zur prime time zwischen 22 und 24 Uhr.
Darauf aufbauend die Anschlussfrage: Wie optimistisch bist du denn, dass Besucher_innen, die bei „Night Of Surprise“ mit ihnen unbekannter Musik erstmals in Kontakt kommen, danach weitere Konzerte besuchen? Sind da über die Jahre neue Gesichter zu Stammbesucher_innen im Stadtgarten geworden?
Das lässt sich nicht wirklich stichhaltig nachvollziehen und wenn es diesen Effekt geben sollte, dann ist er wahrscheinlich eher subtil. Ich glaube aber, dass ohnehin stark musikaffine Festivalbesucher_innen spannende Entdeckungen machen und die weniger musikaffinen oder -vertrauten Besucher_innen eher eine Idee vom atemberaubenden Spektrum aktueller Musik bekommen, was indirekt auch dem Stadtgarten als Veranstaltungsort und den Musikern zugute kommt.
Wieviel Prozent der Besucher_innen denkst du, schauen sich alle Auftritte einer „Night Of Surprise“ an?
Vielleicht 10%? Ich glaube, nur wenige Menschen hätten überhaupt die Konstitution, alle Auftritte mit Genuss zu hören, zumal ja mehrere Bühnen simultan bespielt werden. Das ist aber auch nicht der spannendste Zugang. Alles zu wollen ist vielleicht ein vitaler Instinkt, aber in einer übervollen digitalen Wohlstandsgesellschaft kein optimales Rezept. Ich finde es naheliegender so einen Festivalbesuch als Experiment im Umgang mit Fülle und Überforderung zu sehen. Wie navigieren, auswählen, auswerten, wie Planung und Vorbereitung gegen Spontanität und Zufall gewichten, wie antizipieren, wann aufhören zu steuern, in welchen Zuständen bin ich am offensten, kann ich mich überraschen lassen, wieviel Anstrengung bin ich bereit zu investieren, um mir einen Zugang zu etwas Neuem zu erobern, wie lange halten Reize an, wie balanciere ich Verstehen und Erlebnis usw.
Ich wünsche mir, dass der Abend so vielschichtig und heterogen ist, dass man sich seinen eigene Zugang zurechtlegen muss, weil ein verbindliches Ritual fehlt und ohnehin nicht funktionieren wird. Vielleicht ergibt sich daraus ja ein von individuellen Pfaden und offenen Köpfen getragenes Meta-Ritual oder einfach ein interessantes Fest der “open-mindedness”.
Schaffst du immer alle?
Eigentlich ja. Aber als Gastgeber gehört sich das auch.
Der „Night of Surprise“ angedockt sind die „Cologne Sessions“, die regelmäßig im Studio 672 stattfindende Clubreihe, die gerade erst zehnjähriges gefeiert hat. Wie funktioniert denn das Scharnier zwischen oben (Stadtgarten) und unten (Studio)? Flanieren die Leute hin und her?
Das stimmt so nicht mehr ganz, weil die Cologne Sessions schon seit der zweiten Ausgabe nicht mehr nur assoziiert, sondern wie Sounds Wrong, Feels Right Co-Präsentatoren sind und sich auch in die Programmplanung einbringen, vor allem in Person von Magnus von Welck, der im Grunde zu einer Art Co-Pilot des Festivals geworden ist.
Aber zu Deiner Frage zu den beiden Räumen Stadtgarten/Konzertsaal und Studio 672: Die beiden Räume haben unterschiedliche Möglichkeiten und Akzente, oben eher sitzen, unten eher stehen zum Beispiel, oder oben mehr Konzentration, unten mehr Club. Das Publikum flaniert schon hin und her und bildet im Lauf des Abends verschiedene Schnittmengen, teilweise fluktuiert das Publikum im Laufe des Abends sehr schön in Wellen, weil nicht alle schon um 19 Uhr auf der Matte stehen und nicht alle, die schon früh gekommen sind, die Nacht im Club verbringen wollen. Die “Night of Surprise” ist zwar auch eine “Gesamtkomposition”, aber auch ein Labyrinth mit vielen Ein- und Ausgängen und ebenso eine Landschaft, in der man einfach dort verweilt, wo man sich am wohlsten fühlt oder wo es gerade am interessantesten ist. Für viele ist das dann über weite Strecken auch einfach Draußen, weil einfach viele tolle und richtig verschiedene Leute kommen.
Letzte Frage: Gibt es im 2018-Set-Up denn eine Sequenz-Konstellation (Abfolge von drei, vier Acts), auf die du dich besonders freust?
Eigentlich mehrere:
Mary Ocher – Mhysa – DJ Marcelle – Equiknoxx ft Shanique Marie (Studio)
Lolina – Sam Amiodn & Strings – Sonneurs – Ammar 808 (Konzertsaal)
Thomas, vielen Dank für deine Zeit.
Die “Night Of Surprise 2018“ findet am 19. Oktober ab 19 Uhr im Kölner Stadtgarten statt.
Es spielen Erwan Keravec & Sonneurs, Czajka & Puchacz,Sam Amidon & Strings, Emissatett, Mary Ocher, DJ Marcelle, Mhysa, Equiknoxx feat. Shanique Marie, Blood Stereo, Angelica Summer, Nasssau, Lolina, Ammar 808,ER & WE, Nidia, Sacred Harp Singing und Waltraud Blischke.
Der Eintritt ist frei.