Record of the Week: „Working Class Woman“ von Marie Davidson

Marie Davidson: „Für die Qualität deines kreatitven Outputs spielt es keine Rolle, was du zwischen deinen zwei Beinen hast.“

Marie Davidson
„Working Class Woman“
(Ninja Tune)

Nach Veröffentlichungen auf Constellation, DFA und Cititrax ist Marie Davidson nun bei Ninja Tune gelandet. Das Label schätze sie sehr für die dort kultivierte Soundoffenheit, merkt sie im persönlichen Gespräch in ihrer Heimatstadt Montreal an. Dass zudem viele weitere Produzentinnen dort unter Vertrag sind – unter anderem Umfang, Abra, Helena Hauff, Kate Tempest, Peggy Gou und Kelis –, wäre zwar auch nicht von Nachteil bei der Entscheidungsfindung gewesen, die Quote sei aber generell nicht ihr Thema. „Ich möchte nicht gebucht werden, da ich eine Frau bin, sondern wegen meiner Musik“, merkt sie an. „Es ist zwar wichtig, dass diese Frage aufgeworfen wird, aber dennoch muss man es als Künstlerin alleine schaffen. Und ich glaube sagen zu dürfen, dass ich der beste Beweis dafür bin, dass es geht. Ich komme aus dem popkulturellen Nirgendwo Montral, bin eine frankokanadische Frau, die am Anfang weder einen Manager, ein Label, einen DJ-Typ noch irgendwelche anderen Musikbusiness-Kontakte besass. Ich habe alles alleine geschafft. Und ich glaube fest, dass es jede andere Frau auch schaffen kann. Für die Qualität deines kreatitven Outputs spielt es keine Rolle, was du zwischen deinen zwei Beinen hast.“

Passend zu diesen markanten Vorworten beginnt „Working Class Woman“mit „Your Biggest Fan“, einem aufwühlenden Song, der die Anspannung zu transportieren weiß, die das Leben als öffentliche Person jeden Tag von Marie Davidson abverlangt. Der Song hat seinen Ursprung in „Bullshit Threshold“, der intensiven, die eigenen Gefühlswelten und die des Publikums erforschenden Performance, die sie auf dem „Phenomena“ Festival im Herbst 2016 in Montreal uraufführte und im Sommer 2017 zur Verwirrung vieler Raver auf dem Sonar Festival wiederholte. Davidson gelingt es auf Platte wie auf der Bühne eindringlich, die eigene Ängste auf die Zuhörer_innen zu übertragen.

Ihr eigener Lösungsvorschlag für den Umgang mit dem daraus resulitierenden Unwohlgefühl: Arbeit. Über einem nervösen-monotonen Beatgerüst breitet sie in „Work It“ ihr Lebensmotto aus:
„You wanna know how I get away with everything?
I work, all the fucking time
From Monday to Friday, Friday to Sunday / I love it, I work
(…)
Work / Work it / Work / Work to be a winner“

So wichtig die textgetriebenen Songs auf „Working Class Woman“ sind, so repräsentieren sie es doch nur zur Hälfte und leben geradezu von den sie ergänzenden, mehr als Soundscape als als klassische Songs angelegten Tracks wie „Laura“ und „Workaholic Paranoid Bitch“. Hier erlebt man Davidson als brutalistische Klangarchtektin. Es ist sicherlich kein Zufall, dass diese Stücke in Berlin unter Kopfhörern entstanden sind (ganz simpel dem Fakt geschuldet, dass sie dort keine Boxen in ihrer temporären Wohnung zur Verfügung hatte). Diese Umstände haben sich nachhaltig in der Musik festgesetzt: „Ich fühle mich unter Kopfhörern schizophren. Man hört so viel intensiver und verliert den Kontakt zur Realität außerhalb der Musik – mit dem Ergebnis dass man sehr viel nachzudenken beginnt.“

Doch es ist nicht nur alles schwer und erdrückend auf „Working Class Woman“, das Album trägt auch eine humorvolle Komponente in sich, wobei man dazu sagen muss: Humor par Definition von Marie Davidson. Eine Bemerkung, die sie bei unserem Treffen kurz die Augenbraue heben lässt: Für mich ist es wichtig, dass meine Musik inklusiv ist“, antwortet sie schließlich. „Ich möchte keine Nischenkünstlerin sein, ich bin nicht und war auch nie Teil einer coolen Clique, einer Gang, warum auch, mir geht es nicht darum anders zu sein. Mit Humor findet man den Anschluss an alle, Humor macht einen zugänglich für die Menschen. Manche verstehen meinen Humor, andere nicht. Aber das soll nicht mein Problem sein. Ich bin nicht hier, um die Leute zu unterrichten, meine Musik ist nur ein Angebot an sie.“

„So Right“, den eingängigsten Track des Albums möchte Marie Davidson dementsprechend auch nicht als versöhnliche Geste veranstanden wissen. Es sei letztlich der Climax nach all dem, was in „Bullshit Treasure“ aufgewühlt worden ist, also eng damit verbunden. Das Stück erinnert in seiner ausladenen Dancefloorhaftigkeit an die Veröffentlichungen der New Yorker House-Institution Strictly Rhytm, man könnte sagen, es leuchtet neongelb in Abgrenzung zu den anderen neun, eher in dunklen Tönen gehaltenen Stücken auf „Working Class Woman“.

Doch bei aller performativen Stärke und Selbstbehauptung, die Marie Davidson in vielen Momenten des Gesprächs auch zu verkörpern weiß, es gibt derzeit leider viele andere, in denen sie nur noch alleine sein möchte. Davon erzählt „La chambre intérieure“, der von „The Heart Is A Lonely Hunter“ von Carson McCullers inspirierte letzten Song des Album. Eine der Hauptcharaktere des Buchs, ein junges Mädchen names Mick Kelly, kultiviert in ihrem Inneren einen Rückzugsraum, in dem sie die Welt nach ihren Wünschen gestalten kann.“ Man muss nicht groß interpretieren, um zu verstehen, wie stark sich Davidson damit identifizieren kann. „Wir alle brauchen solche Orte! Doch auf uns prasseln nur noch Information ein, der Freiraum für die eigenen Träumereien, er wird abgeknipst.“

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