Tocotronic “Nie wieder Krieg”
Tocotronic
“Nie Wieder Krieg”
Vertigo / Universal
So unmittelbar und warm wie auf dem neuen Album von Tocotronic ist man als geneigte Zuhörer:in wohl noch auf keinem vorherigen Album empfangen worden: „Nie wieder Krieg“ singt Dirk von Lowtzow gleich zu Beginn in dreifacher Wiederholung und ohne jegliche instrumentale Einführung, gefolgt von der Zeile „Keine Verletzung mehr“, die mehr flehender Wunsch als feste Überzeugung zu sein scheint. Zu fast Queen-artigem Bombast inklusive epischem Glockengeläut und Stadion-Rock-Gitarrensolo von Rick McPhail entwickelt sich der Song dann in seinen gut 5 Minuten, doch wird hier selbstredend – es sind schließlich immer noch Tocotronic! – nicht der Triumph über alles Schwache à la We Are The Champions, sondern im Gegenteil die Abwendung des eigenen Untergangs und damit die Passivität zelebriert.
Ziemlich genau vier Jahre mussten die Tocotronix nun auf ein neues Album warten, nachdem im Jahr 2018 Die Unendlichkeit veröffentlicht worden war. Eine selbst für Toco-Verhältnisse ungewöhnlich lange Zeit, die zuvorderst der pandemischen Situation geschuldet war, die die kulturellen Produktionsprozesse aller Orten merklich verlangsamt und nicht selten zum Stillstand gebracht hat. Nie wieder Krieg schließt dabei inhaltlich relativ nahtlos an seinen stark autofiktional geprägten Vorgänger an, der nach der bereits vorgenommenen Neuorientierung auf dem Roten Album von 2015 eine endgültige Abkehr von der stark diskursiven und intellektualistischen Phase der 2000er Jahre darstellte.
Auch musikalisch erinnert auf dem neuen Album vieles an seinen Vorgänger – insbesondere, was die Breite der musikalischen Ausdrucksformen angeht. Das wird bereits beim zweiten Song „Komme mit in meine freie Welt“ deutlich, der mit seinen punkigen, Sonic-Youth-artigen Feedback-Gitarrenschleifen ein maximales Kontrastprogramm zum getragenen und eher cleanen Eröffnungstrack darstellt. Auf Sonic Youth respektive ihren Hit Youth Against Facism verweist dann auch eine Hälfte des dritten Stücks, das bereits vorab ausgekoppelte Jugend ohne Gott gegen Faschismus, das trotz der mannigfaltigen stilistischen Neuorientierungen innerhalb ihres fast 30 jährigen Bestehens das Faible für griffige, ebenso plakative wie zutiefst schöne Slogans unterstreicht, das sich wie ein dunkelroter Faden durch die Bandgeschichte zieht. Die andere Hälfte des Titels verweist dabei wiederum auf Ödön von Horvaths antifaschistische Novelle Jugend ohne Gott, womit die Gültigkeit der in diesem Text wie auch anderorts vertretene These von der Abkehr diskursiver Verweise eigentlich auch schon wieder mindestens abgeschwächt wird. Keine These ohne Gegenthese.
Das Denken und Leben in Gegensätzen ist eben integraler Bestandteil im Tocotronic-Universum. So ist es kein Zufall, dass auf den Untergang (Ich gehe unter) die unmittelbare Wiederauflebung (Ich tauche auf) folgt. In letzterem singt von Lowtzow ein im Tocotronic-Kontext bisher selten zu hörendes und überaus schönes Duett mit der Österreichischen Künstlerin Soap&Skin, zu dem im Oktober bereits ein sehenswertes Musikvideo veröffentlicht wurde. Im Stück wird ein:e imaginierte:r und sehnsuchtsvoll erwartete:r Lebenspartner:in besungen, die konkret („Gelesen hab ich von dir“) und zugleich abstrakt („Ich habe dich noch nie gesehen“) ist.
Insgesamt präsentieren Tocotronic sich auf ihrem neuen Album überaus zugänglich und poppig. Alle 12 Songs gleichen einer warmen und überschwänglichen Umarmung, die man nach zwei Jahren pandemischer Isolation sehnsuchtsvoll erwartet und ganz sicher auch verdient hat. So ist es kein Zufall, dass das Album mit dem bereits vor zwei Jahren veröffentlichen Hoffnung und dem darauf folgenden Liebe beschlossen wird. „Die Liebe setzt dich auf Null“, singt von Lowtzow darin und erteilt damit allen inneren wie äußeren Kontrollzwängen eine Absage. Kann es in Zeiten von allerorten witternder Sachzwänge und aufs gröbste beschnittener subjektiver Handlungsoptionen ein schöneres und zugleich tröstenderes Versprechen geben? Wohl kaum.
Text: Luca Glenzer