Pet Shop Boys “Super”
Pet Shop Boys
“Super”
(X2 Recordings Ltd. )
Es wäre wahrscheinlich übertrieben, „Super“ als das Eurodance-Album der Pet Shop Boys zu bezeichnen. Dennoch ist dies ein Genre, auf das sich Neil Tennant und Chris Lowe hier immer wieder beziehen. Dies äußert sich in knalligen Keyboard-Akkorden, einem aufgeblasenen Großraumdiscosound sowie sich in schwindelerregende Höhen und dissonante, sirenenartige Intensitäten schraubenden Modulationen. Repräsentativ in dieser Hinsicht sind „Happiness“ und „Pazzo!“, die gleichzeitig zu den misslungeneren Stücken gehören. Musikalisch vermitteln diese Eurodance-Adaptionen mit textlicher Nullaussage eine statische Dynamik, die nur um sich selbst kreist. Auf einer Meta-Ebene kommen die Pet Shop Boys hier einer kontra-substanziellen Leere sehr nahe, die ihrem anti-rockistischen Grundethos auf perfekte Weise entspricht. Pragmatisch betrachtet, ist dieser Ansatz aber einfach nur boring, was sie ja nie sein wollten, wie wir wissen.
Als gelungener erweisen sich die Stücke, die der Eurodance-Stumpfheit auf der Textebene die klassische Pet-Shop-Boys-Cleverness entgegensetzen. Den Höhepunkt in diesem Zusammenhang bildet die Single „The Pop Kids“. Das Stück ist gleichzeitig euphorisch und melancholisch organisiert, weil das Pop-Moment in die Vergangenheit projiziert wird („the early 90s“). Daraus lässt sich der Schluss ziehen, dass selbst die Pet Shop Boys in ihrer Funktion als Verfechter von Gegenwärtigkeit eine regressive Phase durchleben. Die frühen 90er werden so zu Indikatoren einer sehnsuchtsvoll besetzten Zeit (warum eigentlich? War Pop in den frühen 90ern nicht schon halb tot?).
Oder ist es doch mehr als das?
Tatsächlich könnte „The Pop Kids“ auch als apodiktisches Statement zur Lage der Popmusik im Jahre 2016 verstanden werden. Im Sinne von: Pop ist tot, gekillt vom Kapitalismus, der die Orte zerstört, an denen Pop sich materialisieren kann (London, Clubs, Schallplatten, Zeitschriften). Im Text von „The Pop Kids“ studieren die Protagonisten in London, wo sie fünf Tage die Woche ausgehen. Heute, so hört man, kann man entweder in London leben oder fünf Tage die Woche ausgehen. Alles andere ist Börsen-Maklern, Bankern und anderen Menschenfeinden vorbehalten, also den Gegnern von Pop-Musik schlechthin. Das alles wird im Text von „The Pop Kids“ nicht explizit ausgesprochen, es ist als Subtext angelegt.
Die Pet Shop Boys nehmen diesen Faden wieder auf in „Twenty-Something“, dem Song, der sich unmittelbar an „Pop Kids“ anschließt. Vor dem Hintergrund einer überdreht-zickigen Melodie, die fast klassisch wirkt, singt Neil Tennant – dieses Mal explizit! – von einer „decadent city at a time of greed“. Hier formiert sich die auf die Negativität der Jetztzeit bezogene Anti-These zur in „Pop Kids“ zelebrierten / historisierten Zeit der Möglichkeiten und Chancen (natürlich war es auch der Kapitalismus, der diese Möglichkeiten einst erst generiert hat. Und die Pet Shop Boys haben das Spiel mitgespielt, weil es eine Pop-Parallelwelt etabliert hat, in der sich ästhetisch gefilterte Wahrheiten sagen ließen, die auf einer symbolischen Ebene wirksam waren). Gekoppelt ist der Verlust des Glaubens an Popmusik („I don’t know what pop music is anymore“ – Chris Lowe in einem Interview) an eine distanzierte Beobachtung der Jugend, von der man vielleicht auch nicht mehr weiß, wer sie ist. Dabei begehen Tennant / Lowe nicht den Fehler alternder Intellektueller, nur das als Jugend gelten zu lassen, was sie selbst als Nicht-Betroffene dafür halten.
Aber vielleicht ist das schon zu essenzialistisch gedacht, herrscht auf diesem Album doch ein Impuls vor, aus sich selbst herauszutreten, also die Pop-Idee der Anti-Substanz und wandelbaren Identität („I sometimes think I’m too many people“, sang Tennant einst) fortzuführen. Ganz deutlich wird dies im besten Song der Platte „The Dictator Decides“ – hier werden mehrere Grenzen überschritten, zum einen, indem die Musik sich zurücknimmt, zum anderen, indem auf einen Refrain verzichtet wird. Es gibt also einen formalen Bruch, sowohl mit der Eurodance-Konvention der Platte als auch mit dem Popsongformat an sich. Auf diese Weise wird die Idee negiert, der Musik der Pet Shop Boys wohne irgendeine Form von Essenz inne. Dieser Ansatz setzt sich inhaltlich im Text fort, der aus der Perspektive eines Diktators erzählt wird, der lebens- und amtsmüde geworden ist – er will nicht mehr repräsentieren: „If you get rid of me / we can all be free.“ Der Sprecher konstituiert sich über eine gebrochene Identität, die die Vorstellung einer wesentlichen Qualität, die einem Diktator inhärent wäre, verabschiedet. Daraus folgt die Option, sich von außen zu betrachten, also genau das zu realisieren, was Robert Wyatt in seinem grandiosen „Free Will & Testament“ als unmöglich erachtet: „What kind of spider understands arachnophobia?“
Die Idee der Selbstidentitätsabschaffung kulminiert im letzten Song des Albums, „Into Thin Air“, der die in der Popgeschichte hinlänglich kanonisierte Idee des Verschwindens variiert (vergleiche „Eine Art von Verschwinden“ aus „Ich – wie es wirklich war“, Blumfeld; „This Is How You Disappear“, aus „Rawhide“, Scott Walker; oder das gesamte dritte Album von Phantom Ghost), auch wenn die Pet Shop Boys ihre Dematerialisierung unter positiveren Vorzeichen, nämlich als Option auf einen Neuanfang inszenieren. Dabei haben alle Entwürfe miteinander gemein, dass sie auf dem Prinzip aufbauen, noch keine definitive Form gefunden zu haben. So wird der Sound des Kreisens um sich selbst, den ich weiter oben beschrieben habe, bei den Pet Shop Boys zu einer vorläufigen Identität, die stets im Zeichen des Zwiespalts zwischen Präsenz und Auflösung, Aktualität und Rückwärtsgewandtheit steht. Das hört sich dann manchmal nach musikalischer Orientierungslosigkeit an, die zwar durchaus reizvolle Momente hervorbringt, aber kaum noch identitätsstiftendes Potenzial aufweist. Vielleicht kann und soll Popmusik in ihrem heutigen Zustand der Irritation diese Aufgabe nicht mehr erfüllen. So ist es womöglich zu erklären, dass das letzte durchgängig schöne, in sich schlüssige Album der Pet Shop Boys „Release“ war, und das ist vierzehn Jahre her.
Mario Lasar