Tracey Thorn „Solo Songs and Collaborations 1982-2015“
Tracey Thorn
„Solo Songs and Collaborations 1982-2015“
(Caroline / Universal)
Wenn ich mir die Welt so machen könnte, wie sie mir gefällt, würde ich in den nächsten Wochen – so ungefähr bis Mitte Januar – die Tür schließen, mich aufs Sofa legen, Tracey Thorns Album mit Soloaufnahmen hören und dazu nochmal ihre tolle Biografie „Bedsit Disco Queen“ lesen. Das klingt jetzt bestimmt ganz schön lame und misanthrop, aber so ist es gar nicht gemeint. Vielmehr möchte ich meinem Bedürfnis nach Kontemplation Ausdruck verleihen, und dafür kommt mir Tracey Thorn gerade sehr gelegen. Außerdem ja nur bis Mitte Januar, wie gesagt.
Bis dahin würde ich mir also alle 34 (!) Stücke der Compilation wieder und wieder anhören, zwischendurch ab und zu aufstehen und neuen Tee aufsetzen – vielleicht, wenn „Venceremos“ läuft, diese Gemeinschaftsarbeit mit Robert Wyatt und Claudia Figueroa ist nämlich ein bisschen arg weltmusik- und coffee-bar-mäßig geraten, das muss ich nicht ganz so oft hören.
Ganz bestimmt keinen frischen Tee hole ich mir, wenn „Oh, the Divorces“ dran ist, „Kentish Town“, „Hands up to the Ceiling“ oder „Sister Winter“, Tracey Thorns Coverversion eines Sufjan-Stevens-Stücks. Noch ein schönes Cover: „The Book of Love“, im Original von Stephen Merritt alias The Magnetic Fields. Wenn Tracey mit ihrer dunkelwarmen Stimme Merritts Worte rezitiert, „The book of love is long and boring / No one can lift the damn thing / It’s full of charts and facts and figures / And instructions for dancing / But I, I love it when you read to me / And you, you can read me anything“, dann lasse ich das Buch sinken. Thorn kann mir alles vorlesen/-singen, schon seit den Marine Girls, und später mit Everything But the Girl, die Mitte der 1980er die melancholischste, zarteste, schlaueste, schüchternste und dabei misfittigste Variante des damals so beliebten Barjazz-Pop-Revivals boten (remember frühe Sade, Working Week, Matt Bianco – und dazwischen das linkische Ehepaar Thorn/Ben Watt). Bis zum Über-Hit „Missing“ vom ’94er-Album „Amplified Heart“, der aus EGBT sowas wie Superstars machte, eine Rolle, mit der Thorn und Watt sympathischerweise überhaupt nicht zurecht kamen. Schon vor „Missing“ löste sich Tracey Thorn immer mal wieder aus Band-, Duo- und Paarverbindungen, um allein oder mit anderen Leuten zu singen.
Das tat sie ganz schön oft, wie man ja jetzt an dieser üppigen Doppel-CD sieht. CD 1 versammelt die meist akustischen Aufnahmen ihrer klassischen Solostücke, CD 2 ist den clubbigen Ausflügen Thorns gewidmet, „Protection“ mit Massive Attack ist da drauf, klar, und auch eine Menge Remixe von Songs wie „It’s all true“ und „Why Does the Wind?“ – und wie es immer so ist mit Remixen, nicht alle sind gut, nicht alle sind nötig, wobei ich Leuten wie Tiefschwarz, Ada und Hot Chip natürlich nicht an den Karren fahren will. Aber im Disco-Gewand / für den Dancefloor wirkt Tracey Thorns Art zu singen manchmal deplatziert, so als würde sie sich ein wenig unwohl fühlen, wenn es rings um sie herum zu doll glitzert und funkelt. Dieses Gefühl, nicht reinzupassen (schon allein wegen ihrer beachtlichen Körpergröße) beschreibt Tracey Thorn in „Bedsit Disco Queen“ übrigens ganz wunderbar – und ja, irgendwie ist sie beides, Bedsit und Disco, aber ohne Strobos.
Also ihr, bis in vier Wochen dann!
Christina Mohr
Was beim Anhören zunächst überrascht ist, dass einem viele Songs unbekannt vorkommen, auch wenn man sich, wie ich, eigentlich immer für einen guten Kenner des Werks von Tracey Thorn gehalten hat. Dieser Umstand mag damit zusammenhängen, dass hier teilweise Songs ausgewählt wurden, die im Rahmen der Originalalben als eher unscheinbar wahrgenommen wurden. Ein großer Fehler, wie sich jetzt herausstellt. Vielleicht entfalten die einzelnen Stücke aber auch erst ihre ganze Qualität, wenn man sie im Kontext der musikalischen Biographie von Tracey Thorns hört. Die einzelnen Teile erhellen sich so quasi vom Ganzen her.
Der Umstand, dass das Album nicht linear und chronologisch verfährt, trägt dabei dazu bei, dass der Eindruck vermieden wird, es gäbe in Thorns Schaffen einen Endpunkt. Die Compilation stellt den prozessualen Charakter ihres Werks heraus, weshalb der Werkbegriff hier im Grunde auch Quatsch ist, verweist er doch zu sehr auf Geschlossenheit. Gerade die Kollaborationen mit anderen Musikern (Style Council und Working Week auf CD 1) beziehungsweise Remixe ihrer Songs von anderen Künstlern (etwa Ada, Morgan Geist oder Hot Chip auf CD 2) zeigen Thorns Tendenz zur offenen Interaktion, die immer wieder die Bereitschaft zur produktiven Beeinflussung in den Vordergrund rückt.
Tracey Thorns Stücke sind vor allem auf der ersten CD, die in Relation zur eher „elektronisch“ orientierten zweiten CD „klassisches“ Songwriting präsentiert, stets angenehm durchlässig und ökonomisch instrumentiert. Anklänge an Folkpop sind hier allgegenwärtig. Die musikalische Reduktion mag auch damit im Zusammenhang stehen, dass der Raum, in dem sich die Texte entfalten, nicht allzu sehr von Musik dominiert werden soll. Thorns Texten ist immer eine gewisse Literarizität inhärent, die allerdings nicht eindeutig zu bestimmen ist. Die Welt, die sich in den Stücken darstellt, ist in realistischer Manier vom Leben durchdrungen, was durch die Einbeziehung von der Wirklichkeit entnommenen Orten („Kentish Town“, „By Picadilly Station I Sat Down And Wept“) illustriert wird. Auf diese Weise stellt Thorn eine angenehme Vertrautheit her: man kann sich in den Liedern wohlfühlen, ohne dass man sich in ihnen einrichten müsste. Ein zweiter Punkt bezüglich der Texte ist die Art, wie in ihnen potentielle Grenzüberschreitungen oder Momente des Kontrollverlusts angelegt sind, die dann aber doch nicht realisiert werden (vielleicht weil die Song-Protagonisten letztlich doch zu selbstbeherrscht sind).
Tracey Thorn macht Musik, die das Melodrama mitdenkt, ohne sich ihm zu ergeben. Was hier letztlich angestrebt wird, ist möglicherweise eine Form von Ausgeglichenheit. Irgendwie hatte das für mich immer etwas Therapeutisches.
Mario Lasar