Alvvays “Antisocialites”
Alvvays
Antisocialites
Transgressive / PIAS
Vor etwa zwei Jahren lief das Stück „Archie, Marry me“ von den Alvvays in einer von mir regelmäßig besuchten Kölner Kneipe rauf und runter. Musikalisch orientiert sich der Song an klassischen Twee-Pop-Tugenden, ragte aber dadurch aus formatierten Klischees heraus, dass er gleichzeitig aus dem Repertoire von Neil Young hätte stammen können. Wobei mir immer noch nicht ganz klar ist, warum das Stück so toll ist. Das Sujet mag eine Rolle spielen – der Name Archie scheint aus einem diffusen Grund nicht wirklich auf Heiratsmaterial zu verweisen, was womöglich Quatsch ist.
„In Undertow“ und „Dreams Tonite“, die ersten beiden Stücke auf dem neuen Alvvays-Album, erreichen das Niveau von „Archie, Marry me“. Zum erstgenannten Stück gibt es ein tolles Video, das von einer künstlichen, unwirklichen Ästhetik lebt, durch die sich die Mitglieder der in Toronto lebenden Band bewegen wie Luke Skywalker durch die evakuierte Wolkenstadt Bespin bevor er Darth Vader zum Duell trifft. Sängerin Molly Rankin wirkt im weißen Overall à la Pete Townshend (circa 1973) und mit auf die Kamera geheftetem Blick besonders cool, zumal sich in ihrer Mimik nicht der kleinste Anflug eines Lächelns abzeichnet. Wer dieses Video gesehen hat, wird nie wieder zu einer Frau sagen, sie solle mal lächeln (auch wenn das natürlich eh klar ist). Der Song selbst ist ein in fusselige Gitarren getauchter Ohrwurm, der ein hypothetisches Break-up-Szenario durchspielt und die Möglichkeiten benennt, wie man seine Zeit „after the fact“ verbringen könnte: „meditate, play Solitaire“. Völlig klar. Mir gefallen die kleinen Brüche und Besonderheiten im Text, die ein Spannungsfeld zwischen Abgeklärtheit, Apathie und Verletztheit zu beschreiben scheinen.
Das poppig balladeske „Dreams Tonite“ beginnt mit der Zeile „Rode here on a bus / now you’re one of us“, die mich sofort für den Song eingenommen hat. Ein sozialer Zirkel stellt sich über die Gemeinsamkeit des Orts her, der dabei immer auch die Anonymität behält, die den öffentlichen Raum, wie eben einen Bus, auszeichnet. Die Gegenläufigkeit aus Nähe und Distanz, die hier angelegt ist, bestimmt die gesamte Ausrichtung des Songs.
Über weite Strecken variiert das Album tendenziell einen schrammeligen C-86-Duktus, der mich an „Rock Legends: Volume 69“ von Talulah Gosh erinnert, wobei Alvvays vielschichtiger und „professioneller“ produziert klingen. Dafür steht exemplarisch „Lollipop (Ode to Jim)“ mit seinen multiplen Gitarrenspuren, die eine besondere Dynamik herstellen, ohne dabei den Sound zu verkleistern. Alvvays heben sich von anderen vergleichbaren Bands dadurch ab, dass sie weniger eindimensional agieren. Ihre Haltung verzichtet nicht auf Humor, ist aber natürlich auch nicht himmelschreiend albern. Immer wohnt den Songs ein zögerliches Element inne, das ihre grundsätzliche Fragilität betont. Dabei besteht keine Einsturzgefahr.
Mario Lasar
Alvvays live
12.09. Köln – Blue Shell
13.09. Hamburg – Molotow
14.09. Berlin – Musik & Frieden