Sir Richard Bishop „Oneiric Formulary“
Sir Richard Bishop
„Oneiric Formulary“
(Drag City Records)
Fast könnte man meinen, Sir Richard Bishop hätte geahnt, was da 2020 auf uns zukommen würde. Denn wo er für seine Vorgängeralben „The Frak of Araby“ und „Tangier Sessions“ die Inspiration auf Reisen suchte, entwickelt er „Oneiric Formulary“ aus imaginierten Traumstaaten heraus.
Die Musik changiert dementsprechend freier zwischen den Soundwelten: eben schwebt noch ein geisterhafter Hauch von britischen Folk-Traditionals durch den Raum mit den beiden ersten Stücken „Call to Order“ und „Celerity“, da macht sich mit „Mit’s Linctus Codeine Co.“ eine seltsame Mischung aus Bossa Nova und Surfmusik breit, die wiederum einem wunderschönen, in seiner Schlichtheit hochemotionalen Song namens „Renaissance Nod“ den Raum bereitet, der so klingt, als ob John Fahey ein Afghanisches Volkslied interpretieren würde.
Im Zentrum von Sir Richard Bishop Musik, dessen bekanntestes Projekt die gemeinsam mit seinem Bruder Alan Bishop betriebenen Sun City Girls sind, steht das Talent den inneren Kern seiner Songs zu fühlen. So braucht es nie viel ausschmückender Elemente, wo andere viel auftragen müssen, lässt er die einzelnen Noten lebendig vibrieren. Wobei aktuell diese Lebendigkeit ab der Mitte des Albums urplötzlich von einer bedrohlichen Dunkelheit erfasst wird – erst lassen uns die „Graveyard Wanderers“ ängstlich erschaudern, dann marschieren die „Dust Devils“ geradezu siegessicher und einschüchternd auf.
„Oneiric Formulary“ präsentiert Sir Richard Bishop als großen Storyteller ohne Worte, als stilsicheren Dramaturgie-Magier, der viele Zeiten und Regionen zitiert und doch seine eigene Geschichte zu schreiben vermag. Passend dazu „Vellum“, der hochdramatische Schlusspunkt des Albums, dessen Songtitel auf die Hochmittelalterliche Tradition verweist, für Bücher und Leinwände Vellum zu verwenden, eine Pergamentart, die aus der Haut von Kälbern und Kälberflören gewonnen wird, da es besonders lichtbeständig ist.
Die Besprechung ist ursprünglich in der Printausgabe der Stadtrevue Köln erschienen.