Record of the Week – Jochen Distelmeyer

Jochen Distelmeyer „Gefühlte Wahrheiten”


Jochen Distelmeyer
„Gefühlte Wahrheiten”
(Four Music Sony)

Die Welten von Jochen Distelmeyer sind heterogen und dynamisch. In seinen Kopf schauen können wir eh erfreulicherweise gar nicht. Aber lesen können wir seine Klänge und Texte. Und die changieren stets zwischen dem Politischen und Privaten, und das nicht nur getrennt, nein, sie bauen einen gemeinsamen Raum auf. Wie im ‚echten‘ Leben. Wozu wiederum Distelmeyers Musik gehört usw.

Der Wahrheitsbegriff wurde bekanntlich einst von Konstruktivist*innen und Dekonstruktionist*innen kritisch produktiv auseinandergenommen, um dann zum Schrecken jener von Fundamentalist*innen (offenbar meistens Männer) und Populist*innen (offenbar auch meistens Männer) regressiv und als reduktionistischer Pseudo-Fluchtpunkt wieder zusammengezimmert zu werden. Jochen Distelmeyers neues Album hat das eventuell auch im Hinterkopf, aber setzt woanders an.

Zwölf teilweise sehr lange, nicht langweilige, Songs bis hin zum elfeinhalbminütigen Epos „Nicht einsam genug“ lassen in oben genannten Sinn tief blicken. Distelmeyer klinkt sich ein in große Traditionen des Songwritings, Souls, Soft und Art Rocks, R’n‘B, Country und Folk. Indie, Alternative sowie postrockiger Diskurspostpunk à la Pavement, Kolossale Jugend oder alte Blumfeld sind zwar nicht gänzlich verschwunden, bleiben vielleicht noch irgendwo ganz hinten als verwaschen-abgerissene Kulisse, gleichwohl noch weit weniger bedeutend als zuvor.

Das verheißt nichts Schlechtes, aber bedarf einer gewissen Gewöhnung. Kann ich einfach mal meine Voraussetzungen über Bord werfen, mich von dieser sehr prägnanten Stimme und den Texten mitnehmen lassen? Ich meine, da ganz viel Bob Dylan, Robert Palmer, Hank Williams und Mike Scott zu erkennen (siehe auch die Clips zu den Songs) und, wenig überraschend, Jochen Distelmeyer, den Alten. „Nicht nur Nazis suchen Heil in der Zerstörung, kommt mir vor, als wär‘ sie Teil einer Verschwörung“ singt Distelmeyer auf „Zurück zu mir“ und scheint sich auf einer sehnsuchtsvollen Reise zu sich selbst zu befinden – setzt man Distelmeyer mit seinen Textfiguren hier gleich. Und verpackt durchaus schweren Stoff in vermeintlich leichte, üppig instrumentierte und schon auch dick produzierte Musik. Zu-Hören statt Nebenbei-Hören scheint hier zwangsläufig, das Gefällige keinesfalls glatt.

Dazu passt, dass Distelmeyer nun auch auf Englisch textet und singt – bisher meist eher in Mischformen oder als Coverversionen praktiziert. Musiker und Rezipierende entwickeln sich weiter, für sich und doch zusammen. Es scheint vielleicht zunächst leicht, dieses Pop-Album auch nicht zu mögen, doch mir fällt es nach intensivem Genuss eher immer schwerer, „Gefühlte Wahrheiten“ nicht zu schätzen. Zumal, wenn doch sowieso schon alles um eine/n herum ganz mächtig rauscht und ruckelt.

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