Kettcar “Gute Laune ungerecht verteilt”
If we can’t change the world, let’s at least get the charts right.“ Das hat Eddie Argos von der Punk-Band Art Brut einmal gesungen. Manchmal klappt so etwas sogar in Deutschland: Im April ist die Hamburger Band Kettcar mit ihrem neuen Album „Gute Laune ungerecht verteilt“ auf Platz 1 der Album-Charts gelandet.
Spoiler: Große Überraschungen gibt es auf dem sechsten Studioalbum der Gruppe nicht. Und das ist auch nicht schlimm. Kettcar bleiben eine Konstante in Sachen Gitarren-Pop und Marcus Wiebusch schreibt noch immer tolle Texte. Allerdings hat sich etwas im Bandgefüge verschoben: Im Interview mit der VISIONS erfährt man, dass Bassist Reimer Bustorff sich mittlerweile zum „gleichwertigen Song- und Textschreiber“ entwickelt hat. Der Songtext von „München“ stammt etwa von ihm: Das Feature mit dem Sänger Chris Hell von der Post-Hardcore-Band FJØRT bietet musikalisches Kontrastprogramm und thematisiert Alltagsrassismus und rechte Gewalt. Nun ist die fünfköpfige Band bekanntlich „hetero und männlich, blass und arm“, sowie eben weiß. Doch Bustorff eignet sich hier keine Perspektive von Betroffenen an, die nicht seine eigene werden kann. In „München“ erzählt das lyrische Ich stattdessen von einem engen Jugendfreund aus München mit internationaler Geschichte. Dem griff man oft ungefragt ins Haar, ihm wurde schon der Eingang in einen Club verweigert und er musste sich immer wieder diese eine Frage anhören: „Wo bist Du eigentlich hergekommen?“
(Das Musikvideo zu „München“ wurde an NSU-Tatorten gedreht und erinnert im Abspann namentlich an die Menschen, die ermordet wurden)
Auch Wiebusch hat wieder geliefert: „Doug & Florence“ arbeitet sich an Neoliberalismus und an Chancenungleichheit ab. „All ihr Pflegerinnen of the world unite, unite and take over“, heißt es da. Eine Anspielung auf einen Klassiker der Smiths, der wiederum auf Marx und Engels anspielte. Ach ja, The Smiths. Kann man deren Musik noch genießen? Ihr Ex-Sänger Morrissey, der früher so empathisch für die Außenseiter:innen dieses Planeten sang, hat sich unter anderem mit Geschwurbel und Support für eine rechtsextreme und islamfeindliche Politikerin disqualifiziert. Zwei Lieder weiter, in „Kanye in Bayreuth“, zählt Wiebusch dann auch Songtitel von Morrissey und Michael Jackson auf. Das Lied dreht sich um die große Frage, ob man Kunstwerk und Künstler:in voneinander trennen kann.
Schon der Songtitel verrät, dass es hier ebenso um den antisemitischen Komponisten Richard Wagner geht. Das Lied kommt dabei auf ein spezifisches Ereignis zu sprechen, das die historische Tragweite der Thematik exemplifiziert. 2018 spielte ein Klassik-Radiosender in Tel Aviv plötzlich einen Ausschnitt aus Wagners „Götterdämmerung“. Mehrere Beschwerden haben den Sender damals erreicht, berichtete etwa die israelische Tageszeitung The Jerusalem Post. Der Sender entschuldigte sich. In einem Statement heißt es: Man versteht den Schmerz, den das Hören von Wagners Musik unter Holocaust-Überlebenden verursachen würde, die zur Hörer:innenschaft zählen. Wiebusch singt in der letzten Strophe: „Sie sagten „Nein“, weil zu viele den Schmerz noch kennen. Ein Volk hat sich entschieden, mal nicht zu trennen. Nein, Werk und Autor bleiben jetzt mal schön beisammen.“ Auch „Kanye in Bayreuth“ ist ein Lied, das zum Nachdenken und Recherchieren anregt (gefangene Menschen in einem Konzentrationslager mussten etwa Musik von Wagner spielen). Zwei Artikel der Jüdischen Allgemeinen seien in diesem Kontext empfohlen.
Mit dieser Thematik, sowie Kanye West und Wagner, hat sich zuletzt auch der kanadische Pianist Chilly Gonzales beschäftigt. Zwei Tage vor dem Erscheinen des neuen Kettcar-Albums veröffentlichte der Grammy-Gewinner das Rap-Stück „F*CK WAGNER“, eine unterhaltsame und referenzreiche Abrechnung mit dem Komponisten, die am Ende auch auf die antisemitischen Ausfälle von Kanye West zu sprechen kommt. Gonzales, der jüdische Wurzeln hat, bezeichnet sich selbst als Fan von Wagners Musik. Aber er weist dezidiert auf den Antisemitismus hin, den Wagner nicht nur in einem Buch klar zum Ausdruck brachte. Wagner, das hält Gonzales fest, war ein „scheußlicher Mensch.“ Weshalb regt man sich nicht darüber auf, dass Straßen nach dem von Hitler verehrten Komponisten benannt sind? Gonzales hat eine Petition initiiert, die eine nach dem Judenhasser Wagner benannte Straße in Köln in „Tina-Turner-Straße“ umbenennen will. Er plädiert für „die Trennung des Werks vom Künstler“ – so steht es im Aufruf. Es gehe nicht darum, Aufführungen der Opern zu stoppen. Aber der Wahlkölner empfindet Wut, wenn er durch jene Straße geht. Das betont Gonzales in einem Video auf Instagram. In einem Statement bringt er sein Anliegen auf den Punkt: „I am not saying „cancel Wagner“, I am saying something much simpler: „F*CK WAGNER“. Auch Wiebusch hat das Projekt bereits unterstützt.
Neben Diskurs-Pop gibt es von seiner Band Kettcar nun aber auch wieder „befindlichkeitsfixierte“ Songs, die sich privaten Momenten widmen: „Rügen“ gesteht zum Beispiel humorvoll, wie anstrengend und nervig ein Familienalltag nicht selten ist. Die Band verhandelt die Innen- und die Außenwelt, aber auch die Schnittstellen. Und weil es neben dem klangästhetisch eher hartem „München“ auch den schlichten Akustiksong „Zurück“ gibt, wirkt das Album wie eine gelungene Synthese von „Sylt“ und „Zwischen den Runden“.