Mura Masa “R.Y.C.”
Mura Masa
“R.Y.C.”
(Anchor Point / Universal Music)
“R.Y.C.” ist nicht leicht zu fassen. Kein Pop, kein Techno, kein HipHop, kein Indie – und doch alles auf einmal. Mura Masa liefert die logische Fortführung dessen, was er auf seinem Debüt im Sommer 2017 begann und setzt damit zum ganz großen Wurf an.
Sengo Muramasa, geboren um 1500, ist selbst im heutigen Japan noch Kult. Der Schwertschmied gilt als einer der Besten seiner Zunft, jedoch auch als leicht reizbarer und gewalttätiger Egomane. Der Legende nach waren seine Klingen aufgrund dieser Charakterzüge ihres Schöpfers verflucht und forderten zahllose Opfer. Muramasa prägt gleichermaßen den Samurai-Mythos vergangener Tage wie auch die Mangas der modernen japanischen Pop-Kultur und vereint so die Gegensätze von Tradition und Moderne, Präzision und Fantasie. Manch Popstar hat sich schon ein schlechteres Pseudonym gegeben.
Die Jugendjahre in irgendeinem gottverlassenen Kaff zu verbringen erfordert bekanntlich eine gewisse Leidensfähigkeit. Wenn dieses Kaff auf allen Seiten von Wasser umgeben und die weite Welt leider auch weit weg ist, verschärft das die Lage. Der Eine flüchtet sich ins Kiffen auf dem Schulklo, der Andere in die Musik. Alex Crossan, Jahrgang 1996, stammt aus Castel, einem 8000 Seelen Nest auf der Insel Guernsey im Ärmelkanal und hat sich dankenswerterweise für Letzteres entschieden. Inklusive Deathcore Band und Gospel Chor.
Am Laptop bastelt er erste Tracks zusammen und stellt sie online. Zeitraffer: Die Klicks häufen sich, Jakarta Records schlägt zu, die BBC vergibt einen Platz auf der Hotlist, A$AP Rocky schaut vorbei und der erste Welthit steht. Bei “Love$ick” ist Crossan 19 und seine Insel längst zu klein für ihn.
Mura Masa ist nur im Kontext zu verstehen. Er ist Teil der Generation Z, jener Jugend zwischen Instagram und FfF, im Nihilismus ebenso daheim wie im Hedonismus, aufgewachsen im Web. Keine Generation zuvor war je so frei und so gut vernetzt – und “R.Y.C.” ist ihr Soundtrack.
Crossan kümmert sich einen Scheiß um Regeln und Grenzen, weder inhaltlich noch formal. Er stürzt sich kopfüber in die Musikgeschichte, wildert bei Mark Ronson (“Live like we’re dancing”), The Stranglers (“Deal wiv it”) und Billy Idol (“Vicarious Living Anthem”), bedient sich bei allem von Punk bis House und schraubt die Versatzstücke neu zusammen. Was dabei entsteht ist so verführerisch, dass die Kollegen Schlange stehen: Damon Albarn, Charli XCX, Jamie Lidell, Bonzai, Nao, Christine and The Queens, wenn Mura Masa ruft kommen sie alle.
Auch für die neuen Songs gab es wieder hochkarätige Unterstützung, von Clairo, Tirzah und Wolf Alice-Frontfrau Ellie Rowsell beispielsweise – und natürlich von Slowthai, dessen lässig hingerotze Performance auf dem Überhit “Deal wiv it” die Gallaghers aussehen lässt wie Messdiener.
Diesmal ist Alex’ eigene Stimme erstaunlich präsent – und ganz viel Gitarre. Denn bei aller Elektronik kann dieses Album Crossans musikalische Wurzeln in Schrammelkapellen nicht verleugnen, flirtet aber deutlich mehr mit dem Pop als sein Vorgänger. Geschadet hat dieses Techtelmechtel weder der Qualität noch der Credibility, im Gegenteil. Entstanden ist ein verwegener, frischer Sound der kaum zeitgemäßer sein könnte.
“R.Y.C.” ist nicht die Neuerfindung des Rades. Aber es zeigt denen, die es vergessen hatten, wie unfassbar viel Spaß das Fahren machen kann. “R.Y.C.” steht für “Raw Youth Collage” und drin ist, was drauf steht: Eine Sammlung von Eindrücken, Erinnerungen und Hoffnungen, ohne roten Faden lose miteinander verwoben. Es ist die Bestandsaufnahme der jungen Generation und ein in jeder Hinsicht großartiger Auftakt für das neue Jahrzehnt. Mehr Morgen im Heute geht nicht.