Tindersticks „Distractions”
Tindersticks
„Distractions”
(City Slang/Rough Trade)
Drumbox, Bass, Ohoho-woho – wir schreiben die erste Hälfte der 1990er Jahre, ich bin Praktikant im Plattenland, und Tortoise, Lambchop und die Tindersticks laufen auf Rotation. Wobei mir die Tindersticks fast etwas zu ‚very British‘ schienen. Mir waren damals die wilderen, swamp-bluesigen, australisch-berliner Acts wie Birthday Party und Bad Seeds, These Immortal Souls, Crime & The City Solution, The Fatal Shore oder Hugo Race & The True Spirit lieber. Die ebenso dreckigeren Gallon Drunk, deren Terry Edwards dann auch bei den Tindersticks anheuern sollte, gefielen mir als krachige, durchgeknallte UK-Ausgabe auch besser. Und Lydia Lunch, über allem schwebend aus New York herüber schimpfend und die ganzen coolen Jungs einvergemeindend (wie es später Polly Harvey anders und doch ähnlich tat).
Der Sänger der Tindersticks Stuart Staples übertrieb es mir mit dem Selbstmitleid im Anzug und dem samtweichen Crooning zwar etwas, sein Anzug schien nicht so prekär oder zerrissen wie die der anderen. Dennoch faszinierten die Tindersticks eben gerade wegen ihrer Orchestralität und ihres Pomps, die Songs und Arrangements und darunter und drum herum die selbstbehauptende Attitüde in all der Melancholie, die gefiel mir schon sehr. Ich begriff, wieso die Besucher:innen vom letzten Cave- oder Gallon Drunk-Konzert auch bei den Tindersticks auftauchten.
Nach längerem Abgelenktsein fielen mir die Herren mit ihren düsteren, kraftvollen späten Alben „The Waiting Room“ (2016) und „No Treasure but Hope“ (2019) wieder vor und auf die Füße. Nun legen sie genau dort nach: Mit „Distractions“ präsentierten sie sieben minimale, hypnotische Songs auf 47 Minuten, in ihrem experimentellen Gestus teilweise fast Track-artig. Staples wird endgültig zum ewig umherziehenden Geist, „Man Alone (Can’t Stop the Fadin‘)“ ist seine ganz große Hymne auf die nie endende Reise durch die Nacht und zum Selbst; siehe das tolle, ebenso minimalistisch-trostlose Musikvideo.
Mit einem Drone-Hauch von Suicide, Spacemen 3 und Funk, Soul und House schleift sich dieses dunkle und doch luzide Mantra des Verschwindens ein – selbst elf Minuten sind noch zu kurz. Wimmernder, sophisticated Swamp-Techno-Kraut mit wummernder Bassline, Hilferufen, Störgeräuschen, synthetischen Handclaps und „Joker“-Grinsen in Beerdigungskluft. Reduktion und Repetition überall. Schwitz. Der Song alleine hätte ja schon genügt für ein ganzes Album, stattdessen gibt es weitere sechs Hinlenkungen durch Ablenkungen. „I Imagine You“ im so typischen melancholischen, (aber auch nur) beinahe chilligen Laidback-Flüsterton. Die unverwüstlichen Television Personalities und Neil Young werden dann auch noch gecovert (das beschwingte „You’ll Have to Scream Louder“ beziehungsweise das epochale „A Man Needs a Maid“).
Es geht viel ums Dasein und Verschwinden auf “Distractions”. Was ist mit den Tindersticks los?
Sie haben zu sich gefunden – und sind für mich deswegen noch größer geworden. Keine Vergleiche mehr, außer mit sich selbst. Popmusik ist immer dann treffend, wenn sie einen Nerv berührt, und das tut das neue Tindersticks-Album bei mir: „Can’t stop the fadin‘…“