Records of the Week

Die Nerven „Wir waren hier” / The Jesus Lizard „Rack”

Die Nerven
„Wir waren hier”
(Glitterhouse/Indigo)

The Jesus Lizard
„Rack”
(Ipecac/PIAS/Rough Trade)

Um mal ganz subjektiv und unsachlich zu sein, wie es durchaus für ausdrücklichen Popjournalismus ertragreich sein kann: Erstens fand ich von Anfang an meiner Nerven-Rezeption, dass Bassist und Sänger Julian Knoth irgendwie an Bob Weston (Shellac, Volcano Suns) und David Wm. Sims von The Jesus Lizard erinnert. Das sind Komplimente aus meiner Noise Rock-Autobiographie. Auch wenn beide Bands nicht so viel mit dieser Genrefizierung anfangen können. Ebenso waren Die Nerven für mich stets auch ein im positiven Sinn seltsames Trio. Knochiger als und ähnlich anti-hip angezogen wie die Goldenen Zitronen, wütender als Messer, straighter als Friends of Gas oder Candelilla und doch auch wieder verspielter als Karies oder Gewalt.

Noch seltsamer waren für mich vor allem in ihren Hochzeiten Anfang/Mitte der 1990er die US-amerikanischen wasserlaufenden Jesus-Eidechsen. So wurden sie auch zum unüberhörbaren Einfluss für jüngere Bands wie Idles, Squid, Shame oder Metz. Unvergessen, wie die kleine zappelige Superpsychogroup in den 1990ern im legendären Forum Enger featuring ihren irren Sänger David Yow, der vorher bei den wegweisenden Scratch Acid jaulte und schimpfte, die in der Ecke Psycho Noise Rock stets neben Butthole Surfers, Big Black, Killdozer und dann aber auch Sonic Youth standen und der als Jack Nicholson des kranken Punk Rock angekündigt wurde (vielleicht eher doch direkt der Jack Torrance aus „The Shining“), plötzlich auf unserem Rücken saß und uns ins Ohr brüllte. Während wir im Publikum diesen Yow suchten. Jahrzehnte später latschte Yow als Zentrum des Trios Qui in einem anderen wichtigen Club (Gleis 22 Münster) neben mir an die Bar und war derselbe und doch auch ein anderer und sehr viel gelassener. Ich ja auch. Er hatte aber (leider) auch keine köchelnde Menge (mehr) vor sich. Dann tauchten The Jesus Lizard auf einer Programmkinoleinwand 2022 unvermutet wieder auf als T-Shirt in Jordan Peeles grandiosem SciFi-Horror-Western „Nope“. Wow.

Es ist schon kurios, dass Die Nerven und The Jesus Lizard, auch wenn erstere altersmäßig die Söhne zweiterer sein könnten, was sie ja irgendwie auch zu sein scheinen, am selben Tag ihre neuen Alben veröffentlichen.

Die Nerven bleiben weiterhin total emphatisch wütend-zurückgezogen-aggressiv in Sachen Zeitgeist, Lebenswirklichkeit und auch Politik im weiten Sinn. „Wir waren hier“ schließt für mich fast mehr an Bands wie Kristof Schreufs Kolossale Jugend an, das mag auch an den Lyrics liegen, die sich bei Yow und Jesus Lizard doch gerne vorwiegend um schräge Typen drehen. Nach dem Indie Hit „Europa“ vom selbst betitelten letzten, fünften Nerven-Album 2022, folgen nun quasi zwei Alben, denn neben „Wir waren hier“ gibt es hier auch die rohe Version als „Pre-Production“ zu hören. Die Nerven scheinen einen Neustart zu wollen, der für mich auf der Pre-Production-Version fast noch klarer erklingt. Dort, auf den zirbenholzumräumten Stuttgarter Sessions, knallt nämliche die defensive Aggression umso unvermittelter. Ähnliches kennt man von den reduzierten Demos von P.J. Harvey. Das schmälert das Hauptalbum keinesfalls. Beides macht ganz großen ‚Spaß‘. „Als ich davonlief“ schreit die Flucht aus der Wirklichkeit heraus, und selbst das nur heiser. Irgendwann mal sagte ich einer Ex nach der echt harten Trennung, sie habe alles falsch gemacht, selbst das Falschmachen. Da war ich noch schlanker und lebensdümmer. Puh. Die Nerven reißen mit mit ihrer Anti-Haltung-Haltung. Das dann wahnsinnig konzentriert und auf den Punkt. Gegenüber einer eher chaotischen und gleichzeitig gemein konsequenten Aggression bei Yow und Co., die zwar im Rhythmus, im guten alten, von ihnen mit begründeten und nicht ganz unabhängig von Steve Albini zu verstehenden Laut-Leise-Schema. Absolut mathematisch, drumherum aber grell, jaulend und stolpernd. Aber, wie gesagt, Achtung, Yow könnte plötzlich auf Deinem Rücken hängen. Die neuen Nerven knüpfen an den alten an und sind doch irgendwie noch schneller, pompöser und gleichzeitig resignativer geworden: „Warum habe ich Angst, aber Du nicht – das Glas zerbricht und ich gleich mit“. Das ist bei aller schlechten Laune und allen Anti-Posen-Posen eine Art letztes Aufbäumen. Immer wieder. Und dann die großen Taten, auf denen sich hier wütend ironisch ausgeruht wird: „Hab ich Dir schon gesagt, dass ich Dich gar nicht mag“. Ich liebe das. Was für ein fulminanter Auftakt des Albums. Da bist Du gleich positiv bedient. „Wie man es nennt“ lässt eine/n dann in scheinbare Ruhe verfallen mit tollen wavigen Anklängen – höre auch Max Riegers Soloprojekt All Diese Gewalt. Da sind Die Nerven schon komplexer, weiter und emotionaler als die weitgehend wieder fokussiert durchknallenden Jesus Lizard. Da unterscheiden sich diese beiden Acts total. Und doch auch wieder nicht. Denn beide baden auch ein Stückweit in ihrer skeptischen Aufgeregtheit. Eskapismus kann so schön im Hier und Jetzt und damit wohltuend gefangen bleiben.

Die Eidechsen brauchten 26 Jahre, um sich wiederzufinden und ihr auch erst siebtes Studioalbum zu veröffentlichen. Dort stampft und rumpelt es gleich mächtig und punk-bluesig mit „Hide & Seek“ los. Yow schreit-singt von einer Hexe, die ihn aussaugt. Blut, Splatter, Tod, Schmerz und zwielichtige Gestalten waren immer großes Thema bei The Jesus Lizard, die einfach comic-hafter als Die Nerven wirken. Höre auch etwa das leiernd-marschierende „Lord Godiva“ oder „The Armistice Day“, zu deutsch der US-Veteranentag. Posttraumata im Klang und Song. Wundervoll kreischend und laut pulsierend. Ein anderer Krieg als auf „Europa“.

 

Nicht nur im bitterbunten Musikvideoclip (es gilt unbedingt, Beavis & Butthead wiederzuentdecken), vor allem in Sound, Stimme, Lyrics und Ausdruck ist The Jesus Lizards neues „Falling Down“ geradezu wegweisend für das neurotische Runtersegeln, um dann achterbahnartig hochzuschnellen: „He can rewrite the pages, he can rebreak all the rules, this is now, falling down…“. Diesen einmaligen jahrmarkthaften Schaukelschwung im strukturierten, pointierten Krach haben sie sich bewahrt. The Jesus Lizard in Originalbesetzung haben ihren Spleen für vierbuchstäbige Alben-Namen konsequent weitergeführt mit „Rack“. Und das bollert, scheppert und lässt die Durchhänger vergessen. Weit intensiver wirkt das hier als ihre letzten beiden Major-Alben Ende der 1990er. Wie so viele andere Bands haben sie offenbar über Reunion- und Special-Auftritte sowie einige Re-Releases wieder Geschmack gefunden. Alter heißt nicht, leise und weise zu sein. Alter bedeutet gleichwohl, Erfahrung im Gepäck zu haben. Und dieses Mal würde Yow selbst und uns Rückenschmerzen bereiten, wenn er mal wieder auf uns springt, während wir ihn suchen. Also spricht, ja flüstert er nahezu auf „What If“. Hier stimmt erfreulicherweise was nicht in den Psychopathen- und Mördergeschichten. Klingen tun jedenfalls beide Bands mit ihren offenen Enden, die sie uns hinschleudern bei allen Unterschieden nach (m)einer gemeinsamen Playlist. Halten wir fest, diese beiden Bands und ihre Musiker machen einem die analytische Unterscheidung zwischen Bühnenperson, Song-Charakter und Privatmensch weiterhin erfreulich schwer. Nochmal: Ich liebe das. Danke, Max, Julian, Kevin, extra-danke, David, David, Duane und Mac. Wollen wir nicht alle irgendwie nie mehr 18 sein? „Ein Hoch auf die Jugend, zum Glück ist sie vorbei“ („Achtzehn“).

So oder so. Bei aller großen Liebe. Here comes dystopia. Diese beiden Alben sind ganz großartig launisch, grumpy, unzufrieden und laden scharmützelnd ein zum Einstieg in den Ausstieg oder zum Ausstieg aus dem Einstieg.

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