Records of the Week

μ-Ziq / Tolouse Low Trax / Sleaford Mods 

μ-Ziq
“1977”
(Balmat)

Es ist selten, dass man bei der bloßen Ankündigung eines Albums eine Gänsehaut bekommt. Doch just eine solche hat die Nachricht eines Ambient-Albums von Mike Paradinas, auch bekannt unter seinem µ-Ziq Pseudonym, bei mir ausgelöst. Zum einen, da Paradinas generell in den letzten Jahren eher weniger veröffentlichte – die drastische Reduzierung seines Releasetempos teilt er mit seinem 90er-Rave-Buddy Aphex Twin, auf dessen Rephlex Label er neben dem eigenen Imprint Planet Mu den Großteil seines Katalog publizierte –, zum anderen da man ihn primär für wunderbar hektisch inszenierte Breakbeat-Opern kennt, die Raum und Zeit Ziehharmonikaartig zusammenziehen und auseinander reißen.

Mit „1977“, einem Titel, der auf ein für Paradinas bedeutendes Jahr seiner Adoleszenz verweist, taucht er – einem LSD-Trip gleich – in die Urmasse seiner eigenen Musik ein, befreit sie von jeglicher Dringlichkeit, schenkt ihr und sich und uns das ewige Momentum sozusagen. Wenn sich dann zwischendurch doch mal das Tor zum regulären Universum (was auch immer das sein soll) öffnet und Beats, Breaks und Flächen für schubartige Bewegungen sorgen, hat dies eine gerade kathartische Wirkung, ganz so, wie wenn in völliger Finsternis urplötzlich ein Lichtblitz die Welt überbelichtet, um sie sofort wieder in Dunkelheit zu hüllen – oder eben auf Ambient zu betten.

Diese Worte entstanden übrigens vor der Ansicht des tollen Albumcovers von José Quintanar, auf dem passenderweise die Skizzenartige Zeichnung eine Lampe mit einem eigenwillig breitflächigen Lichtkegel abgebildet ist. Man ahnt, dass sie auf dem Nachtisch des Teenagers Mike Paradinas gestandet hat und so manche Nacht für ihn zum träumerischen Tage hat werden lassen.

Tolouse Low Trax
„Leave Me Alone“
(bureau b)

Es hat etwas ursympathisches, wenn Künstler:innen sich nicht affirmativ an einen heran flüstern, sondern geradezu gegenteilig auf Distanz halten. Immer schon – und heutzutage angesichts der Allgegenwart der Sozialen Medien und der Sehnsucht aller (und somit auch von Künstler:innen nach Aufmerksamkeit) um so mehr.

Mit „Leave Me Alone“ sendet Detlev Weinrich ein harsches Signal an die Welt, gar nicht mal, da er wirklich keine Kommunikation will – letztlich sehnt er sich wie alle Menschen nach Wahrnehmung und Anerkennung –, sondern schlichtweg als Manifestierung der Gefühlslage, die ihn bei der Arbeit am Album befallen hat; wie viele andere auch war er die nicht enden wollende Welle von überzeugten Meinungen und wie auch immer motivierter Selbstdarstellung leid, und drückte deswegen ermüdet den Off-Button. Das war auch nötig, da Weinrich, der kurz vor der Pandemie von Düsseldorf nach Paris gezogen war, den Drang gespürt hat, sich weiterzuentwickeln und dem bewährten Salon-des-Amateurs-Sound (den er als Betreiber und zentraler Protagonist mit geprägt hat) neue Facetten hinzuzufügen. Inspiriert von vielen auf Bandcamp verbrachten Stunden, wo er eine ganz neue Generation junger Musiker:innen für sich entdeckte, dokumentiert „Leave Me Alone“ diese Suche nach einem offeneren Sound, mit dem Ergebnis, dass der typische, geheimnisvoll-referenzreich aufgeladene, psychedelische Slo-mo-Club-Sound von Tolouse Low Trax viel Stimulation aus diversen HipHop-, Dub- und Elektronik-Subuniversen bekommen hat; zentral für das Album sind dabei die drei Kollaborationen mit anderen Künstler:innen – Andrea Noce (aka Eva Geist), Chris Hontos (aka Beat Detective) und Fran –, die allesamt ihre Stimmen beisteuern und so Weinrich nochmals mit Nachdruck in neue Klangräume puschen.

Sleaford Mods
“UK Grim“
(Tough Trade)

Man kann wirklich nicht davon sprechen, dass es die britische Politik einer an sich schon urkritischen Band wie den Sleaford Mods schwer machen würde, sich negativ über die Zustände im United Kingdom auszulassen; die Weltlage fügt zudem ihr Übriges zum Skript bei, das diesmal unter dem Signet „UK Grim“ an die Box Offices kommt.

In den Linernotes kreiert Sänger und Texter Jason Williamson das traurig-poetisches Bild von einem Land im Zustand „der einsetzenden Fäulnis“ und spricht von „Aldi-Nationalismus“, da angesichts der sich dramatisch verschlimmernder Lebensumstände den meisten Briten die Energie zu Kritik schlichtweg fehlt und sie – gefangen in der Elendsspirale – klaglos mit marschieren in den Abgrund. Gut dass die Sleaford Mods noch genug Kraftreserven besitzen, um nicht einverstanden zu sein, und diesen Zustand mit „UK Grim“ nun auch schon zum zwölften mal auf Albumlänge pointiert artikuliert bekommen.
Im Großen und Ganzen ist also alles beim Alten, die Sleaford Mods produzieren weiterhin HipHop mit dem Bewusstsein von Anarcho-Punks – die treibend-nervösen, rotzigen Beats von Andrew Fearn, nicht selten absichtlich unter einer Schicht Staub und Dreck verbuddelt, bleiben das einzig denkbare Backing für die kläffenden Wortsalven von Williamson.
Markant fallen auf „Uk Grim“ jene Stücke ins Gewicht, wo die beiden das Tempo mal kurz drosseln, die Produktion luftiger angelegt ist und die Worte nicht immer sofort im Moment des Denkens raus müssen,
wie beispielsweise bei „I Claudius“, dessen Minimalismus das Duo gerne weiterverfolgen könnte. Ein weiterer Anspieltipp ist „Force 10 From Navarone“, ein Duett der unwahrscheinlichen Art zwischen Florence Shaw von Dry Cleaning und Williamson, auch hier würde man sich über eine Zugabe freuen.

Die Besprechungen sind in modifizierter Form zuerst in der Print-Ausgabe der Kölner Stadtrevue erschienen.
Abdruck auf Kaput mit freundlicher Genehmigung der Redaktion.

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