Slow Pulp & Wilco
Man würde vielleicht meinen, dass die Schwierigkeit, über ein bestimmtes Album zu schreiben, in erster Linie mit dem persönlichen Genuss der Musik zusammenhängt. Grundsätzlich ist das auch so – wenn ich eine Platte für total großartig (oder total grauenvoll) halte, fällt mir eine Besprechung leichter als bei einem eher mittelmäßigen Album –, doch auch eine durchweg überzeugende Songsammlung kann mal keinen Aufhänger hergeben. Denn mit einem Album wie “Yard” ist es so, dass der Hauptgrund für meine Begeisterung einzig und allein ist, wie herausragend ich jede einzelne Nummer finde. Es gibt kein dazugehöriges Narrativ, keine subkontextuelle Geschichte, sondern lediglich zehn supertolle Lieder mit supertollen Refrains; was ja ausreichen kann, zum Rezensieren aber nicht sonderlich interessant ist. Also hab ich heute entschieden, dass alle Musikjournalist:innen eben diese Tatsache genau einmal zum Aufhänger machen darf. Erledigt.
Direkt was ganz anderes: Manchmal mache ich den Fehler und hör mir die Vorabsingles zu einer Platte im Vorfeld schon sooo häufig an, dass die anderen Songs nach Albumrelease dann erstmal ihre Zeit brauchen, um in meinem Kopf auf das gleiche Level zu kommen. Dauert in solchen Fällen also immer etwas länger, bis ich ein Album in seiner Gänze bewerten kann. Aber die Singles für “Yard” waren nun mal echt überragend:
“Broadview” ist die bisher tollste Alt-Country-Ballade der Chicagoer Band (Alt-Country + Chicago = Wilco), “Doubt” weist gerade noch die richtige Menge an Pop-Punk-Einflüssen auf (puh!), “Slugs” enthält als Refrain die schönste Liebesbeschreibung seit langem (“You’re a Summer hit/I’m singing it”) und “Cramps”, ähm, fetzt.
Zum Schluss noch: Dieses Jahr waren viele der spannendsten ‘Newcomer’-Bands so ähnlich wie Slow Pulp. Zumindest in dem Sinne, dass sie eine charismatische Frontfrau haben (und sonst nur aus Typen bestehen), irgendwo aus den USA stammen (nicht New York oder LA; eher Midwest oder Südstaaten) und den Indie-Rock in seiner ursprünglichsten Form (Pavement, Dinosaur Jr.) mit ganz viel Krach und/oder ganz viel Schönheit verbinden. Ich denke da beispielsweise an Wednesday, feeble little horse, Ratboys. Und eben Slow Pulp. Alle haben sie dieses Jahr großartige Alben gemacht – und eins davon wird wohl mein AOTY werden. Oder halt Mitski.
Dieses Gefühl, wenn man sich kurz blöd vorkommt, weil man viel zu spät den Zugang zu einer längst legendären Band gefunden hat, die eigentlich wie für einen gemacht ist. Und dann freut man sich, weil es eine üppige Diskographie zu erkunden gibt. Ist meine Lieblingssache, dicht gefolgt von der Pizza bei Totò e Peppino am Hansaring und der McLovin-Szene in “Superbad”. Wilco-Mitglied Nels Cline ist jetzt jedenfalls der Gitarrist, der ich gerne sein möchte, und Frontmann Jeff Tweedy ist mein neues Spirit Animal. Der vergangene Spätsommer war für mich eine obsessive Wilco-Phase – ein Deep Dive in eine der stärksten Diskographien überhaupt.
Das Narrativ, das bei Besprechungen vom neuen Wilco-Album “Cousin” im Mittelpunkt steht, ist diesmal vor allem ihre Hinwendung zu einem experimentelleren Sound erkennen – sowie die Tatsache, dass Cate Le Bon ihnen dabei geholfen hat. Weil ich “Cousin” zwar für großartig, aber nicht für sonderlich experimenteller als viele der letzten Wilco-Alben halte, finde ich etwas anderes noch viel interessanter: Dass die Platte möglicherweise (!) in Anlehnung an die geniale TV-Serie “The Bear” betitelt wurde.
In dieser Meisterwerk-Serie, die nicht nur in der Wilco-Heimat Chicago spielt, sondern in der die Band auch auffällig oft zu hören ist (neben anderen Dad-Rock-Legenden wie Pearl Jam, The Replacements und R.E.M.), sprechen sich der Hauptcharakter Carmy und mein Lieblingscharakter Richie nämlich immer wieder mit “cousin!” an. Rein theoretisch könnte das neue Wilco-Album also darauf anspielen. Wie gesagt: Rein theoretisch!
Aber egal: Beste Serie! So wundervoll spielt “The Bear” mit Kontrasten, ist in einer Sekunde noch stressig oder deprimierend und dann plötzlich herzerwärmend oder funny. Es geht um Löcher, die zurückbleiben und nicht gestopft werden können. Darum, den persönlichen purpose im Leben zu suchen und zu finden, Freude daran zu haben und möglicherweise dann daran kaputt zu gehen. An wirklich jeden Charakter wird in der zweiten Staffel noch näher herangezoomt, was sicherlich auch durch die überragende Schauspielarbeit passiert. Ganz ganz toll.
Zurück zum Album: Möglicherweise ist der Titel tatsächlich eine “The Bear”-Referenz. Oder die Platte soll sowas wie der experimentellere Vetter vom 2022er Wilco-Album “Cruel Country” sein. Oder Jeff Tweedy mag seinen eigenen Lieblingscousin einfach genauso sehr wie ich meinen.
So! Und jetzt noch mein persönliches Ranking aller Wilco-Studioalben, weil ich sowas am allerliebsten mach:
13. A.M. (1995)
12. Wilco (The Album) (2009)
11. The Whole Love (2011)
10. Sky Blue Sky (2007)
9. Star Wars (2015)
8. Cruel Country (2022)
7. Being There (1996)
6. Cousin (2023)
5. Summerteeth (1999)
4. A Ghost Is Born (2004)
3. Schmilco (2016)
2. Yankee Hotel Foxtrot (2002)
1. Ode to Joy (2019)