Ryoji Ikeda „Ultratronics“ / Kali Malone „Does Spring Hide Its Joy“
Ryoji Ikeda
„Ultratronics“
(NOTON)
Der 1966 in der japanischen Kleinstadt Gifu geborene Künstler und Komponist Ryoji debütierte zwischen 1995 und 1998 mit drei rückwirkend als epochal eingeordneten Werken: „1000 Fragments“ (CCI Recordings) „+/-“ und „0°“ (beide auf Touch). Der Auftakt einer bis heute makellos durchexerzierten künstlerischen Biographie, in deren Verlauf sich Ikeda nicht nur als Ausnahmeproduzent elektronischer Musik im Spannungsfeld aus akademischen Diskurs und experimenteller Klangforschung zu positionieren wusste, sondern auch als mit Licht-, Video- und Rauminstallationen performativ experimentierender Künstler von immenser Neugierde und Akribie.
Hört man nun „Ultratronics“, das achtzehnte Album von Ikeda, so erstaunt gerade in Anbetracht seiner bald dreißigjährigen Karriere die noch immer spürbare Dringlichkeit, mit der er seine ambitionierten Klangexperimente verfolgt. Das Klangmaterial auf „Ultratronics“, so geht es aus den Linernotes hervor, ist zum Teil zwischen 1989 und 1999 originär aufgenommen worden, und wird hier durch das Hinzufügen von im letzten Jahrzehnt entstandenen Kompositionen in einen überraschenden Dialog gebracht. Musikalisch gesprochen sorgt dies für eine Klangreise von minimalistisch-abstrakten Auftaktstücken über verblüffend Industrial anmutende, geradezu psychedelisch Stücke hin zu an Ambient geschulten Kompositionen und wieder zurück zum minimalistischen Ursprung; zentral sind dabei immer die mathematischen Versuchsanordnungen von Ikeda, wobei es ihm jederzeit gelingt, die Abstraktion mit Gefühlen zu brechen, sei es mittels anachronistischer Computerstimmen oder eben verblüffend ausgestellter drastischer Performanz.
Kali Malone (feat. Stephen O´Malley & Lucy Railton)
„Does Spring Hide Its Joy“
(Ideologic Organ / Secretly Canadian)
Die schwedische Komponistin und Musikerin Kali Malone hat in den vergangenen zwei Jahren einen immensen Popularitätsschub erfahren, nicht zuletzt aufgrund ihrer enigmatischen Liveperformances, bei denen es ihr gelingt, magnetisch die Blicke aller Zuschauer:innen auf sich zu ziehen, obwohl sie letztlich kaum mehr als minimale Soundverfeinerung am vor ihr aufgereihten Equipment vornimmt.
„Does Spring Hide Its Joy“ ist in Kooperation mit Malones künstlerischen und privaten Partner Stephen O´Malley und der Cellistin Lucy Railton entstanden. Gemeinsam ist den drei Künstler:innen ein faszinierendes, in sich selbst mäanderndes Werk gelungen, dessen besonderer Reiz im antipodischen Miteinander von klar gesetzten Klangintonationen und (scheinbar) zufällig intervenierenden (mit Effekten umwobenen) Frequenzsounds liegt. Waren Malones minimalistische Kompositionen auf den beiden Vorgängeralben „The Sacrificial Code“ und „Living Torch“ noch merklich offensichtlicher als reduzierte Orgelwerke lesbar, so löst sich diese Klarheit immer mehr in einer Art schwarzen Klangloch auf, kongenial gestützt von der geradezu klassisch verzerrten SUNN O)))-Gitarre von O´Malley, die an fräsender Zähflüssigkeit kaum zu überbieten ist, und dem weird zwischen rhythmisch und unrhythmisch schwingenden, von Railton geführten Cello.
„Does Spring Hide Its Joy“ lädt zum permanenten Scharfstellen aller Sinne ein, versetzt Zuhörer:innen aber zugleich in einen unerwartet drastischen Zustand kontemplativer Entspannung – der Verfasser dieser Zeile beispielsweise tauchte bei einer Aufführung vor zwei Monaten im Rahmen des Unsound Festivals im polnischen Krakau nach einer Viertelstunde wie hypnotisiert in eine Art Zwischenreich ein, aus dem er hellwach und doch verwirrt einige Sekunden (oder waren es Minuten oder gar Stunden?) wieder erwachte. Was mehr will man von Musik erwarten, als die Auflösung der eigenen Zeit-Raum-Koordinaten?
Thomas Venker