Festivals zwischen Plusquamperfekt, Futur II und Gegenwart

CTM 2024 / Le Guess Who 2023 / Making Time∞ 2023

Marco Donnarumma beim CTM Festival 2024 (Photo: Eunice Maurice)

 

In seiner Nachlese über das Dekmantel Festival 2023 äußerte Kaput-Autor Felix Nisble im August vergangenen Jahres zwei essentielle Fragen, über die ich seitdem immer wieder nachdenken muss:

„Was bleibt von so einem Festival Erlebnis?“

„Wie lange ist es in unserer medial übersättigten Gegenwart noch interessant über ein vergangenes Ereignis zu berichten?“

 

Ich konnte damals beim Redigieren des Textes sofort nachvollziehen, was er damit meinte. Festivals sind immer sehr im Moment angelegte und aufgeladene kollektive Ereignisse, die vor allem aus den geteilten Erfahrungen vor Ort ihre Bedeutung zugeschrieben bekommen – und somit, verstärkt durch die oft hoch getaktete Anzahl solcher Spektakel in den Terminkalendern, relativ schnell nach dem Ende eines Festivals bereits mental ad acta gelegt werden.

Selbst als Autor geht es mir so, dass die Dringlichkeit über ein Festival zu schreiben mit jedem vergangenen Tag drastisch nachlässt. Was sich eben noch wie das besonderste Konzert oder DJ-Set angefühlt hat, ist schon 48 Stunden später nur ein bedingt spannender Schnappschuss aus dem ewig weitergehenden Fluss der Dinge.
Andererseits fallen einem gewisse Details eben erst mit der Zeit und im Abgleich mit anderen Festivals auf und sorgen dann mit Delay in den Rückblenden für Verbindungen, Abgrenzungen, Ableitungen…

Um auf die Fragen von Felix Nisble zurück zu kommen: es bleibt meistens ziemlich viel von Festivals hängen, das meiste davon jedoch (selbst bei professionellen Besuchen) privater Natur, gerne auch mal absurd oder trivial, und nicht unbedingt spannend für eine größere Zuhörerschaft (eben Party-Talk), anderes aber auch einiges von größerer Signifikanz, wenn es gilt, den Zustand des Festival-Milieus auf, in dem Musik präsentiert und erlebt wird, auf der Makroebene und im (historischen) Längsschnitt einzuordnen.

Kali Malone & Stephen O´Malley beim CTM Festival 2024  (Photo: Frankie Casill)

Wir schreiben den 13. Februar 2024. Etwas mehr als Woche ist seit dem Ende der 25. Edition des CTM Festivals in Berlin vergangen. Das Festival ist seit vielen Jahren ein Fix-Date in meinem Jahreskalender. Ein perfekter Zeitpunkt, um die Wintermüdigkeit abzustreifen, sich zu resozialisieren und dabei viele neue Künstler:innen zu entdecken. Den Kurator:innen des CTM Festivals gelingt jedes Jahr aufs neue ein sehr guter Mix aus etablierten Namen und upcoming artists; neben Konzerten und Dj-Sets gibt es zudem ein umfangreiches Kongressprogramm, das dem diskursiven Anspruch des Festivals untermauert.

Das CTM Team – das noch als Vorbemerkung – bemüht sich bei der Programmierung sehr darum, repräsentativ Künstler:innen aus möglichst vielen Kulturkreisen zu buchen und einen weltweiten Dialog anzustoßen. Ein Unterfangen, das bis dato meines Ermessens nach immer sehr gut gelungen ist, was sich nicht zuletzt auch an den vielen internationalen Besucher:innen zeigt, die das Festival anzieht.

Insofern war es natürlich besonders hart mit anzusehen, dass das Festival in diesem Jahr – wie etliche weitere bundesdeutsche Kulturinstitutionen – von der Casa „Strike Germany“ hart erwischt wurde. Bei Strike Germany handelt es sich um Initiative, die – im Geist von BDS und als Reaktion auf die Haltung der bundesdeutschen Regierung zum Nahostkonflikt zwischen Israel und Palästina – den Boykott deutscher Kulturinstitutionen aufruft. Ich zitiere von der Strike German Homepage:

„STRIKE GERMANY is a call for international cultural workers to strike from German cultural institutions. It is a call to refuse German cultural institutions’ use of McCarthyist policies that suppress freedom of expression, specifically expressions of solidarity with Palestine.

STRIKE GERMANY withholds labour and presence from German cultural institutions. Until the demands below are met, participation will be withdrawn from festivals, panels, and exhibitions.

STRIKE GERMANY upholds a commitment to liberationist struggle and against Germany’s embargo on internationalist solidarity.“

Es ist ja nicht so, dass man den Unmut der Initiator:innen und mitmachenden Künstler:innen nicht nachvollziehen kann, denn zu kritisieren gibt es viel auf allen Ebenen und Seiten (wie beispielsweise die effekthascherische Antidiskriminierungsklausel, die Berlins Kultursenator Joe Chialo kurzzeitig in den sowieso schon aufgewühlten Diskurs platzierte, primär, um sich selbst im politischen Diskurs- und Personalkarussell zu positionieren), wie man aber auf die Idee kommen kann, genau die Institutionen zu boykottieren oder – wie zuletzt in Berlin auch an der Tagesordnung – mit störenden Interventionen in der kulturellen Arbeit zu behindern (jüngstes Beispiel die Protestaktion im Hamburger Bahnhof am 10.2., wo „eine Lesung einer umfassenden Analyse totalitärer Strukturen der Publizistin Hannah Arendt“ abgebrochen worden musste), die den interkulturellen Dialog entgegen des größeren weltpolitischen Klimas aufrecht zu erhalten versuchen, ist mir ein großes Rätsel.

Was versprechen sich die Akteur:innen davon?
Denken sie wirklich, dass sie die politischen Entscheidungen auf Regierungsebene beeinflussen können?

Wahrscheinlich lautet die Antwort ja. Ich befürchte aber das Gegenteil ist der Fall, sie werden nicht als relevant gesehen und gehört, aber die Ergebnisse ihrer Aktionen gefährden die ökonomische Basis vieler kultureller Institutionen, denen sie sich eigentlich inhaltlich verbunden fühlen sollten (und es bis vor kurzen ja auch taten) in der Zielsetzung, möglichst weiche Zäune statt harter Grenzen zu kultivieren und Menschen aus aller Welt in den Dialog miteinander zu bringen und so geteilte Erlebniswelten zu ermöglichen. Von dem fatalen emotionalen Stress, den all das für die Teams hinter Institutionen wie dem CTM Festival bedeutet, mal ganz abgesehen.

Jens Balzer hat den ganzen Schlamassel für Wochenzeitung Die Zeit sehr gut zusammen gefasst. Ich will es an dieser Stelle deswegen auch damit damit belassen und mich – wie von den Veranstalter:innen des CTM Festivals in Sehnsucht nach einer Würdigung ihrer Arbeit an Balzer gerichtet kommuniziert („kannst du uns nicht einfach als Musikfestival würdigen?“) – dem Programm des CTM Festivals 2024 inhaltlich zuwenden. 
Denn eigentlich geht es uns allen doch um die Künstler:innen und ihre Musik, um die Geschichten, die diese uns erzählen, um die Gedanken, die sie in uns anregen, um die Zustände, in die sie uns versetzen, und um die Handlungen, die sie bei uns inspirieren und auslösen.

Das erste CTM Wochenende habe ich leider (mal wieder) auslassen müssen (zehn Tage sind einfach ein sehr langer Zeitraum, zumindest wenn man nicht in Berlin lebt), so dass einige der Highlights anderer Besucher:innen von mir nur aufgegriffen werden können. 
Besonders häufig wurden in der Woche danach die Performances von Föllakzoid, Ben Frost feat. Greg Kubcki & Tarik Barri sowie OSMUUM (Hildur Guðnadóttir, Rully Shabara, Sam Slater, James Ginzburg) in euphorischen Schilderungen an mich heran getragen.

Meine persönlichen CTM “Top 5 + 1”-Momente:

Kali Malone „Organ“
Zwei Jahre nach dem mir nachhaltig in Erinnerung gebliebenen Auftritt (da die erste unmittelbare Sounderfahrung nach den Pandemie bedingten Closings) von Kali Malone und Stephen O´Malley im Rahmen der „Modular Organ System“-Installation von Konrad Sprenger und Phillip Sollmann, performte die amerikanische Komponistin Kali Malone diesmal an der Orgel in der Berliner Gedächtniskirche (in der zweiten Hälfte mit Unterstützung von Stephen O´Malley). 
Es war schön, gemeinsam mit all den anderen Besucher:innen von der Musik von Malone im wahrsten Sinne verzaubert zu werden. Für anderthalb Stunden war die Welt außerhalb der Gedächtniskirche quasi nicht existent, vibrierte der Sound durch uns hindurch, fadete den Noise aus, heilte Wunden, schenkte Zusammenhalt. 
Eigentlich wollte ich danach noch ins Berghain schauen, aber ich war so mit Sound gefüllt, dass ich lieber das Erlebte nachhallen lassen wollte, als es sofort wieder mit neuen Klängen zu überschreiben.

Marco Donnarumma „Ex Silens I“
Es ist gar nicht so leicht das Radialsystem zu seinem eigenen Ort zu machen. Marco Donnarumma gelang das jedoch verblüffend leicht. Schon bevor der Sound hörbar wurde, konzentrierten sich alle Blicke gebannt auf das kriechend-windende Wesen, das er in „Ex Silens I“ temporär zum atmen und klingen bringt. Berührend, auch verängstigend, vor allem aber inspirierend, da man nach der Performance viele neue Fragen mit sich nach Hause schleppte.

Golem Mecanique feat. Thomas Bel
Es gibt kaum etwas schöneres als in Drones zu klangbaden. Gemeinsam mit Thomas Bel brachte der französische Komponist Karen Jebane im Berghain die Zeit vibrierend zum stehen, eine Performance wie ein Paradoxon, da sich soviele Vibrationswellen durch den Raum bewegten und trotzdem ein Gefühl der Bewegungslosigkeit einstellte.

Felicia Atkinson w/ Jules Reidy & crys cole
Performativer Minimalismus in höchster Perfektion. Den drei Künstler:innen gelang es die Volksbühne in wechselnden Konstellationen (jede für sich, in Duos und auch als Trio) mit kleinen Gesten mit nachhaltiger Wirkung in ihren Sog zu ziehen.

Außer Konkurrenz, da ich in die Produktion involviert war: Max Eilbacher & Phillip Sollmann: „Kalkül der Form“
Die Weltpremiere von „Kalkül der Form“ war bestimmt nicht nur für mich eine die Sinne manipulierende immersive Klangerfahrung der verwirrenden Art. Für einen kurzen Moment folgte ich sogar im Geiste Timothy – ohne LSD wohlgemerkt –: „turn on, tune in, drop out“.

Verpasst aber minutiös berichtet bekommen: Fitness feat. LUNG
Die verstörende Klangarchitektur von Fitness passte (natürlich) perfekt ins Berghain. Gleichermaßen an Industrial und Rave geschult, offeriert das in Los Angeles beheimatete Projekt eine dystopische Klangvision für eine postapokalyptische Welt ohne Tageslicht.

Was neben der Musik aber (fast) noch wichtiger war beim diesjährigen CTM Festival, waren einmal mehr die Begegnungen mit den anderen Besucher:innen und den Künstler:innen. Zwar vermisste ich das HAU – Hebbel am Ufer in diesem Jahr schmerzlich als einen der wichtigsten CTM Festivalorte, die Reduzierung auf weniger Orte arbeitete aber der Frequenz der Begegnungen zu, da man eben etwas weniger weit durch die Stadt rasen und damit auch weniger Das-oder-das-Entscheidungen treffen musste. So sehr man sich immer wünscht, dass (Länder und) Städte nicht zentralistisch bespielt werden, angenehm ist es aber vor Ort im alltäglichen Festival Modi Operandi dann halt doch.
Damit wir uns richtig verstehen: Es handelte sich nicht nur um Gespräche im Konsens gleicher Meinungen, im Gegenteil, es wurde auch viel energisch diskutiert, aber genau das ist es doch, was uns als Kulturschaffende auszeichnet, kontroverse Perspektiven im Dialog mit einander auszuhandeln und nicht vorab Mauern zu ziehen, die niemanden helfen werden.

Marta Salogni & Valentina Magaletti (Photo: Le Guess Who?)


Das Le Guess Who? Festival in Utrecht ist bereits drei Monate her, also ein klassischer Fall für die eingangs zitierte Felix Nisble Frage nach dem Sinne jetzt noch darüber zu schreiben. Also mal sehen, was es noch zu sagen gibt.

Die Wege zwischen den Locations sind in Utrecht nicht immer kurz, was mit sich bringt, dass man oft harte Entscheidungen bei seiner Programmauswahl treffen muss. Was in diesem Jahr dazu führte, dass ich (da leicht lädiert mit Beinproblem angereist, eine Folge meiner Wanderung um die japanische Insel Hokkaido, siehe diverse Beiträge auf kaput) mehr Zeit als sonst in der Hauptlocation Tivoli verbrachte, da dort gleich fünf Bühnen für einen steten Fluss der Soundverführung sorgten. Die Qualität des Bookings ist beim LGW? extrem hoch, was neben der Kompetenz des LGW-Teams auch an der Grundidee des Festivals liegt, dass Künstler:innen andere Künstler:innen sozusagen präsentieren, ein Gedanke den man von den leider seit einigen Jahren nicht mehr stattfindenden All Tomorrow Parties kennt.
In diesem Jahr kuratierten Heba Kadry (Marta Salogni & Valentina Magaletti, Alessandro Cortini, ZULI & Omar El Sadek present λ …), Nala Sinephro (Crystallmess, Model/Actriz, Nyokabi Kariūki…), Slauson Malone 1 (black midi performing The Beatles,  Mark Leckey, Richard Dawson…), Stereolab (Irreversible Entanglements, James Holden und Kali Malone’s ‘Does Spring Hide Its Joy’ ft. Lucy Railton & Stephen O’Malley…) Programmreihen.

Auch hier meine “Top 5 + 3”-Momente vom Le Guess Who 2023:

Marta Salogni & Valentina Magaletti
Leider nur zur Hälfte gesehen, da die Schlage so absurd lang war – ich wurde dafür bestraft wurde, dass ich vorher einen Talk über Vinyl-Mastering besucht hatte, im festen Glauben, dass ich ja bereits im Gebäude sei und damit auch sicher in das Konzert kommen würde). Endlich drinnen, zogen mich Magaletti (an den Drums) und Salogni (an den mittlerweile schon legendären Tape-Machines) sofort in ihren Bann. Musik wie für die eternal Dream Machine produziert, irgendwo zwischen Krautrock, Ambient, Electronica und Free Jazz, sanft, betörend und doch von subtiler Virtuosität.

Marta Salogni performing Pauline Anna Strom
Einen Tag nach ihrem fantastischen Duo-Auftritt performte Marta Salogni diesmal solo – beziehungsweise nicht ganz, da sie die Performance mit Aufnahmen der viel zu früh verstorbenen amerikanischen Komponistin Pauline Anna Strom bestritt, die sie für RVNG Intl. auch als Veröffentlichung bearbeitet hat. Die Janskerk Kirche erwies sich dabei als perfekte Kulisse, um die Zuhörenden abermals in andere Sphären zu beamen.


Mark Leckey

Eine Art Best-of-Recherche-Performance des schottischen Künstlers. Wer die monatliche NTS Show von Mark Leckey kennt (allen anderen ist sie schwer zu empfehlen), weiß um sein Talent Musik, Field Recordings, und Spoken-Word-Sequenzen zusammenzufügen.
Wobei dieses Talent an jenem Abend in Utrecht nur sekundär zum tragen kam, da Leckey von seinem Laptop aus primär eigene Filmskizzen und (Social-Media)Filmarbeiten zeigte, also einen offenen (verstärkt durch seinen Rotweingenuss auf der Bühne und damit einhergehende sympathische Laptopdesorientierung) Zugang zu seinem Recherche- und Inspirationsprozess offenbarte.

James Holden
Eigentlich wollte ich nur kurz reinschauen in die Performance von James Holden, einfach da ich ihn über die Jahre schon so oft erleben durfte, doch einmal in seinem „Imagine This Is A High Dimensional Space Of All Possibilities“-Kontinuum angekommen, konnte ich mich nicht mehr lösen. Musik zum Verweilen.

Mike
Der New Yorker Rapper weiß seinen zugleich roh-kratzig und smooth-klebrigen HipHop mit kumpeliger Umarmung zu performen. Eine der großen Entdeckungen für mich beim diesjährigen Le Guess Who? Props dafür an Julian Brimmers, der immer weiß, wo der Rap hängt.

Stereolab
Stereolab hatte ich ewig nicht mehr gesehen, gefühlt muss es im letzten Jahrhundert gewesen sein, damals, in den Hey-Days des Too-Pure-Labels allerdings sehr sehr oft. Insofern freute ich mich sehr auf das Konzert – nicht ohne eine gewisse Angst, dass die Band vielleicht den Erwartungen nicht gerecht werden könnte. Eine Befürchtung, die sich als unnötig erwies. Zwar schienen die Vibes zwischen den Bandmitgliedern nicht immer die besten, auf den Sound wirkte sich das aber nicht negativ aus, Stereolab performten als sei es noch immer 1995.

Irreversible Entanglements
Jeder Auftritt von Moor Mother, den ich bis dato erleben durfte – und es sind mittlerweile bestimmt zwölf oder dreizehn –, verdient das Prädikat außergewöhnlich. Ich kenne keine andere Künstler:innen, die sich auf der Bühne so präsent im Hier und Jetzt hypnotisch manifestiert, wüsste man es nicht besser, man würde denken sie spiele nur für einen selbst. Und egal wie lange sie und ihre Band spielen, es ist nie lang genug – so dass ich am nächsten Abend in Köln sofort wieder zum Konzert in den Stadtgarten gehen musste.

Model/Actriz
Fast total vergessen, Hammer-Konzert!

DJ Koze beim Making Time ∞ in Philly, September 2023

Von Utrecht und aus dem November geht es zurück in der Zeit nach Philadelphia in den späten September. Das vom in New York und Philadelphia ansäßigen DJ und Promoter Dave P veranstaltete Making Time∞ Festival fand im letzten Jahr zum zweiten Mal statt. Das Line-Up, man kann es nicht anders sagen, sucht weltweit seines gleichen. Das Who-is-Who der elektronischen Musik versammelte sich über drei Tage und Nächte auf dem Gelände des Fort Mifflin in unmittelbarer Nähe des Flughafens von Philadelphia. 
Die äußeren Umstände waren dabei gelinde gesagt suboptimal: nasskaltes Wetter und brutal vermanschtes Gelände (nur zwei der fünf Bühnen des Festivals sind innerhalb der Fort-Gebäude, die drei großen Bühnen klassische Open-Air-Stages) machten es dem Veranstalter-Team und den Besucher:innen nicht leicht. Was doppelt schade ist, da Fort Mifflin so ziemlich der spektakulärste Veranstaltungsort ist, den ich je betreten durfte. Am Fluss gelegen bietet es (an klaren Tagen) wunderbar-kitschige Sonnenuntergänge, dramatische Flugzeuglandungen und jede Menge pittoresker Fort-Details zum Bestaunen – und selbst bei Sturm, Regen und knietief im Schlamm konnte man sich all dem nicht entziehen. Ich werde auch 2024 wiederkommen, so viel vorab.

Auch wenn es schon einige Zeit her ist, hier nochmals meine “Top 5 Performances” vom Making time ∞:

Octo Octa & Eris Drew
Wie lange habe ich auf ein gemeinsames Sets dieser zwei Ausnahme Djs gewartet. Jahre! Jede für sich ist schon fantastisch – in der Kombination aber noch mitreißender, was vor allem an der Energie liegt, die die beiden untereinander verbindet und die sie so großzügig mit dem Publikum teilen. Ein Highlight, nicht nur des Making Time∞, sondern weit darüber hinaus.

James Ellis Ford
Der Londoner Produzent James Ellis Ford gehörte mit seiner Band Simian Mobile Disco zu den prägendsten Künstler:innen der New Rave Ära der Nullerjahre, seit dem hat er vor allem als Produzent von Depeche Mode, Foals, Sparks und Pet Shop Boys von sich hören lassen. Im vergangenen Mai veröffentlichte er dann endlich mit “The Hum” auf dem britischen Label Warp Records sein Solodebütalbum.
“The Hum”, auf Deutsch “Das Summen“, klingt so idiosynkratisch persönlicher wie es der Titel andeutet. Ford vereint darauf Einflüsse von Westcoast-Folk-Pop und elektronischer Musik mit krautrockigen und manchmal sogar progrockigen Momenten.
Insofern war die Vorfreude groß und das Konzert, das in der kleinsten Katakombe des Forts statt fand, erfüllte alle Wünsche. Zeitlose Musik mit contemporary edges.

Sedef Adasi
Mit der Augsburger Produzentin und DJ verbindet mich eine ganz besondere Pandemie-Erfahrung. Als so gut wie nichts möglich war, gastierte sie bei einer unserer „Talking Kaput“-Veranstaltungen im Köln Gewölbe für einen Talk und ein bestuhltes DJ-Set. Das verbindet. Umso größer die Freude sich im Hotelaufzug nach zwei Jahren endlich wieder zu sehen. 
Um die Stage, auf der Sedef auflegte, zu erreichen, musste man erstmal über eine Sumpfgleiche Wiese laufen – was sich besonders auf meinem leicht panischen Rückweg (mehr dazu gleich) als großes Manko erweisen sollte. Zunächst tanzte ich aber unter dem Einfluss von viel glücklich machenden Substanzen mit meiner Making-Time∞-Gang zum euphorischen House-Garage-Set von Sedef. Bis zum Moment des harter Comedowns als die Pille(n) nachließ(en) und ich realisierte, dass ich Jacke und Pulli ein paar Performances früher irgendwo liegen gelassen haben musste; an dieser Stelle Props an mich selbst dafür, dass ich die vier Stunden zuvor sound-geographisch nachvollziehen konnte und beides wieder fand (sie lagen unter hart auf Pilzen trippenden Kids), zur großen Erstaunen meiner britisch-kanadischen Rave-Peergroup; weniger schön war die Erfahrung knietief im Schlamm zu versinken bei der Suche. Danach war die zweite Nacht definitiv aus erzählt für mich. 
Erwähnen sollte ich aber noch den Hotelportier, der angesichts der Disney-Cartoon-Geräusche, die meine Schuhe beim Gang durch die Lobby machten, entsetzt den Kopf schüttelte und den Mob aus der Kammer holte.

DJ Koze
Die Schuhe waren kam trocken vom Vortag, aber wenn Koze ruft, dann gibt es kein No! Ein Set wie ein Ritt auf einem zahmen Drachen: soft und wild. Mir fällt kein anderer DJ ein, der die Tänzer:innen so sehr nach seinen Regeln verführt – PEAK ist wenn Koze es sagt.

Roman Flügel & HAAI
Wo Dave P drauf steht, ist die Afterhour nicht weit. Zumal es die prekäre Festivalkasse und das Wetter (der dritte Festivaltag stand kurz vor der Absage, am Ende mussten zwei Hauptbühnen geschlossen werden) nahe legten, eine spontane Bonus-Party anzusetzen. Die abschließende Sets von Roman Flügel (der von einem etwas zu sehr ins Fässle gefallenen Fan befreit werden musste) und HAAI reaktivierten selbst den kaputesten Körper wieder erwarten nochmals und weit über den geplanten Feierabend hinaus. Der Flug nach Los Angeles am nächsten Tag war zwar extrem hart, aber wie sagen wir in Schwaben so gerne: wer säuft der läuft. Und nach dem veganen Abendessen bei Cafe Gratitude in Venice Beach war der Körper auch schon wieder (fast) der meinige.

Fünf Monate sind seit dem Making Time ∞ vergangen – und doch denke ich noch viel an die vier Tage in Philly. Es war eine große Verbundenheit zwischen Künstler:innen und Publikum zu spüren. Schon lange habe ich kein Festival mehr erlebt, bei dem die Zäune zwischen Backstage und Festivalgelände nicht existierten. Es gab zwar eine Tür zum Catering, für die man den richtigen Pass brauchte, aber in diesem Raum waren alle wirklich nur zum Essen und Getränke holen, ansonsten aber warfen sich alle mit der gleichen Begeisterung in die Schlammschlacht und sorgten so dafür, dass ein Festival, das eigentlich gar nicht mehr hätte stattfinden können für alle zu einer einzigartigen Erfahrung wurde. That´s the community spirit, der viel zu oft fehlt. Und das sind die Festivalmomente, die auch Monate danach noch des Erinnerns und Erzählens wert sind.

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