Mental Health Issues

Einschläfern, aufmuntern, heilen: Alles-Könner Musik

Mit trübem Wetter und nie hell werdenden Herbsttagen zieht der November die Stimmung der Menschen konsequent nach unten. Ob saisonale Depressionen, Dauerzustand oder andere psychische Erkrankungen – jetzt ist der richtige Zeitpunkt, um sich dem Thema Mental Health Issues und Musik zu widmen. Den Start dieser dreiteiligen Reihe macht Nadia Shehadeh, die sich den musikalischen Einfluss auf das Wohl- und Schlechtbefinden in aller Vielfältigkeit angeschaut hat. Foto: Lea Wessels, kuratiert von: Rosalie Ernst.

Ich mag abgedroschene Sprüche, weil sie so oft zutreffen, und einer der abgedroschensten, der absolut und immer zutrifft ist für mich: “Music saved my life”. Gut, nun war ich glücklicherweise noch nie in der Situation, in der das Leben mich oder ich das Leben nicht mehr haben wollte, aber die verschiedenen Benefits, die Musik hören mit sich bringt, überzeugen mich seit meiner Jugend, wenn nicht sogar seit meiner Kindheit. Mit vier wurde ich in die musikalische Früherziehung gesteckt, was mich nicht schlauer, aber auf jeden Fall glücklich machte. Mit sechs Jahren heulte ich meine Eltern so lange mit dem Wunsch nach Klavierunterricht voll, bis sie schließlich nachgaben und mich bei einer recht strengen (aber guten) Lehrerin anmeldeten. Jahre später fing ich mit dem Gitarre spielen an und bis heute, haue ich viel zu viel Geld für Konzerte, damit verbundene Reisen und Schallplatten auf den Kopf.
Da, wo andere Menschen sich vielleicht ein Ankleidezimmer in der Wohnung installieren würden, würde ich mir einen Musikraum einrichten, einen, wo alle meine Platten, CDs, Instrumente und Abspielgeräte ein gemütliches und sicheres Zuhause finden könnten. Musik macht mich glücklich, Musik hilft mir abzuschalten, die richtige Musik senkt meinen Blutdruck, wenn ich richtig Stress habe oder hilft mir ganz schnöde abends beim Einschlafen. Und es ist nicht nur meine larmoyante, Ich-zentrierte Erlebniswelt, die zu dieser Einschätzung kommt.
Auch unterschiedlichste wissenschaftliche Disziplinen weisen seit Jahrzehnten auf die Wirkungen des Musikhörens und -Machens hin. Musik hilft Alzheimer-Patient*innen. Sie kann den Blutdruck senken und den Herzschlag dirigieren. Sie kann glücklich und kreativ, aber wahrscheinlich doch nicht per se schlau machen – letzteres wollen zumindest neuere Studien herausgefunden haben. Sie unterstützt trotzdem die Konzentration, kann die Laune heben (Schramm, 2005) und das Erinnerungsvermögen verbessern (Bernatzky & Presch, 2010), und mitunter sogar den Verlauf einer Depression zumindest lindern (Porter et al.,2017).
Dass Musik also nicht nur ein Hörvergnügen bereitet, sondern tatsächlich auch diverse Funktionsmodi mit sich bringen kann, beschäftigt gar ein eigenes Genre: Die funktionale Musik. Das bekannteste Subgenre funktionaler Musik ist mit Sicherheit Hintergrundmusik, also die Art „unaufdringlicher“, wenngleich hintergründig penetranter Musik, die für Hörer*innen im Hintergrund bleibt, in bestimmten Darbietungsrahmen jedoch zu Tätigkeiten anregt, die nichts direkt mit der Musik an sich zu tun haben. Bereits in den 1930er Jahren komponierte zum Beispiel das Unternehmen Muzak höchst erfolgreich Gebrauchsmusik, mit Schwerpunkt Fahrstuhl-Dudelei und Supermarktbeschallung. Untersuchungen hatten nämlich gezeigt, dass Kunden länger im Supermarkt blieben und ergo mehr Geld dort ließen, wenn als angenehm empfundene – vor allem langsame Musik – im Hintergrund lief.

Auf diese Erkenntnisse greife ich auch in meinem eigenen bescheidenen Leben zurück, wenn ich mal nicht weiter weiß – nicht aus kommerziellen Gründen, sondern weil ich verstanden habe, dass mein Gehirn ohne dass ich bewusst gegensteuern kann auf bestimmte Musikarten reagiert, und das kann man ja auch mal im positiven Sinne bewusst ausnutzen. “Weightless” von Marconi Union zum Beispiel ist seit langem mein Track für die hundertprozentige Einschlafgarantie. Ein Song, der weder besonders schön noch eingängig ist, aber offiziell als der entspannendste Song der Welt gilt. Tatsächlich habe ich ihn schon hunderte Male gehört, könnte ihn aber noch nicht mal freihändig summen, wenn ich müsste – und das, obwohl ich nachgewiesen musikalisch bin. Die Band komponierte „Weightless“ gemeinsam mit Klangtherapeuten und es gibt ihn in verschiedenen Längenversionen – von acht Minuten bis zehn Stunden, also quasi in den Fassungen Power-Nap-Mix bis Winterschlaf-Style. “Weightless” besticht durch einen langsamen Beat von 60bpm, der während des Song-Verlaufs immer langsamer wird. Der Herzschlag soll sich dem Beat anpassen und ebenfalls nach und nach verlangsamen. Sogar Unruhe, Ängste und Zweifel sollen durch diese allmähliche Anpassung des Pulses, des Atems und auch des Blutdrucks verschwinden. So wird es behauptet, und so wirkt es auch bei mir: Nach maximal drei Minuten “Weightless” schnarche ich jedes Mal weg wie bei einer Vollnarkose. Die knallharten Auswertungsergebnisse brachten Wissenschaftler*innen dazu, dringend davon abzuraten beim Autofahren besagtes Musikstück zu hören: Die Einschlaf- und damit Unfallgefahr sei einfach zu hoch. „Weightless“ zeigt auf tatsächlich sehr krasse Weise, wozu funktionale Musik überhaupt fähig ist – und ist für mich ein Anlass, noch mehr Respekt zu haben vor Musik als neurologischem Reiz und meiner Hirnreaktion darauf.
Apropos Respekt: Es gibt aber auch Musik, die mein Wohlbefinden empfindlich stört, weil die Haltung dahinter eine extrem problematische ist. Rechtsradikale Musik zum Beispiel, so wie Ekel-Akustik von Frei.Wild und Konsorten, oder Musik mit antisemitischen oder frauenverachtenden Lyrics. Bäh. Beat und Rhythmus alleine sind also nicht immer ausschlaggebend, auch der Inhalt sorgt fürs Wohl- oder Schlechtbefinden. Bei Rock im Park tanzte dieses Jahr ich bei strömenden Regen beim Auftritt der Ärzte zu „Schrei nach Liebe“ – und wurde danach nicht mal ansatzweise krank. Für mich der Beweis: Die richtige Musik kann einfach alles.

Text: Nadia Shehadeh

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