Das Tour-Diary als Essay: The Doctorella Pt. 2

Mondschein Psychose unterwegs – The Doctorella Tourtagebuch

Die hochverdichtete Kult-Band The Doctorella um das feministische Pop-Autorinnen-Zwillingspaar Kersty und Sandra Grether hat den behaglichen Lebensraum Berlin verlassen und bespielt aktuell hiesige Clubs. Für das kaput-mag führen sie Tagebuch – zum Mitfiebern an den Bildschirmen. Hier nun die grandiose Fortsetzung – wo andere nur eine Postkarte von unterwegs schicken, schreiben dir The Doctorella ein buntes Essay, das weit mehr erzählt als nur ein paar Konzerte…

The Doctorella in der Berghain-Kantine – es kann losgehen!

„Every day I write the book“

Schau, auch Eisköniginnen sind nicht unverfroren!

„Ein Werk kommt nicht als Meisterwerk auf die Welt, es wird dazu. Ein Genie kommt nicht als Genie auf die Welt, es wird dazu gemacht.“ (Aliette de Laleu „ Komponistinnen – Frauen, Töne & Meisterwerke“, Reclam, 2022)

08.11. 24: Wetzlar – Franzis
„Legenden von Berlin“

Daniel: Wetzlar & die schöne Altstadt. Kommt mal rum, ist nice da. Wir spielen im Franzis am Tag an dem Gordons Tochter Frances Geburtstag hat. Es ist ein Auftritt, der sehr viel Spaß macht. Einer im Publikum sagt danach: Das ist Großstadtmusik, was ihr da macht. Wie das wohl Kersty & Sandra sehen, die Berliner Legenden?

Kersty: Ja, auf jeden Fall! Großtstadtmusik kommt ja oft von Leuten, die aus den kleinsten Dörfern stammen:)

Sandra: Ich hatte schon mit sieben Jahren einen Stadtplan von London über meinem Bett hängen, dazu habe ich die darken New-Wave-Disco-Hits von den Ausgeflippten aus dem Londoner „Camden Palace“ gehört. Musik von Dorfkindern hätte für mich keinen Sinn ergeben. Die Geschichten gingen immer so, dass alles in London anfing…

Kersty: Heute sehe ich das etwas kritischer, in den kleinsten Städten sind die großen Sogkräfte, entstehen tolle Sachen, viel Engagement. Ich selber habe im Jugendzentrum in der Kleinstadt zum ersten Mal Velvet Underground und Ton Steine Scherben gehört. Die Leute in den small towns sind oft besser informiert. Diedrich Diederichsen schrieb ja einst in „Sexbeat“: in der Großstadt leben die Hipster, in der Kleinstadt die Hip-Intellektuellen.

Sandra: Wenn irgendeine Band für New York City stand, dann The Velvet Underground, wenn irgendeine Band für Berlin stand, dann Ton Steine Scherben… Heute sind das Legenden, aber in der Gegenwart waren das die Gegenwärtigsten von allen. Noch dazu, die von der offiziellen Musikszene und ihren Gepflogenheiten Geschassten. Weiß nur keine:r mehr; die Leute haben die Biographien über sie nicht richtig gelesen. Zu einem „Tribute-Abend“ to The Velvet Underground oder Ton Steine Scherben wären The Velvet Underground oder Ton Steine Scherben selbst nicht eingeladen worden: wg. sexual politics, my love. Zu viel Begehren ausgelöst. Zu viel Unordnung in den zwangsheterosexuellen Ehehöllen. Zu viel Doppelbödigkeit, bei zu wenig Doppelmoral, zu viele gute Songs, einfach so aus’m Ärmel geschüttelt. Zu viel Aussehen auch. Keine harmlosen Electronic Bubis mit REWE-Blumis, sondern Haifische mit Goldzähnen.

Kersty: Apropos. „Berliner Legenden“. Morgen erscheint in der Print-Ausgabe des SPIEGELS ein vier-seitiges Portrait über Sandra und mich. Wenn eine ihr Erwachsenenleben lang den SPIEGEL gelesen hat, und dann ist da ein Text über sie drin, dann ist das schon ein weirdes Gefühl. Ich meine, wer von uns war je auf mehreren Seiten im SPIEGEL Print? Das ist schon etwas sehr Besonderes. Interessanterweise scheint auch unser ganzes Umfeld das so zu sehen. Bei SPIEGEL drehen die Leute richtig durch. Um 19 Uhr entdeckt Sandra im backstage in Wetzlar: der Artikel ist seit Punkt 13 Uhr online.

„Ich werde den Text erst morgen in Köln lesen,“ verkünde ich, und überrede meine Sister, es mir gleich zu tun. Wir können uns sonst jetzt nicht mehr auf den Auftritt konzentrieren. Das müssen wir aber. Wir sind schließlich hier um Musik zu machen.
Aber auch nach dem Auftritt lese ich noch nicht. Und begründe es mit neuesten Erkenntnissen aus der Verhaltenstherapie. „Wir durch und durch verhaltenstherapiert. Verhaltenstherapierte sind nämlich die wahren Verhaltensgestörten,“ mache ich einen Witz auf meine Kosten. Ich kann die ganze Nacht nicht schlafen, wenn ich vorm Zubettgehen das Porträt lese. Ich kenne mich, mein Schlaf ist mir heilig. Gerade auf Tour entscheidet der Nachtschlaf darüber, ob es ein toller, ausgelassener oder nervenzehrender Tag wird. Ich bin bester Dinge, weil ich bislang noch nicht im Schlafdefizit gelandet bin.
Sandra liest derweil ihr momentanes Lieblingsbuch weiter. Die französische Musikwissenschaftlerin und Journalistin Aliette de Laleu schreibt in dem Reclam-Reader „Komponistinnen – Frauen, Töne & Meisterwerke“:
„Auf dem Gebiet der Musik schlägt sich die Sichtweise, dass Frauen weniger intelligent sind (…) darin nieder, dass ihnen der Zugang zu bestimmten Klassen im Konversatorium untersagt bleibt, wie etwa zu jenen, in denen man das Komponieren lernt, denn die Schrift unterliegt strikten, quasi mathematischen Regeln, die man bis zur Perfektion zu beherrschen hat. Die Frauen können lernen zu singen, Klavier oder Cembalo zu spielen, aber schöpferisch tätig zu sein sicherlich nicht. Ein Einfallstor öffnet sich ihnen allerdings mit der Entstehung eines leichteren musikalischen Genres, das Geschichten aus dem Alltagsleben mit seinen komischen wie sentimentalen Seiten erzählt: die Komponistinnen bemächtigten sich der Opéra-comique.“ Was ihnen außerdem hilft, die „in der französischen Revolution aufkeimenden feministischen Ideen, vor allen jenen der Schriftstellerin Olympe de Gouges, Autorin der „Erklärung der Rechte der Frau und Bürgerin“ (1791).“

Stefanie Schrank bereits liest den sagenumwobenen Text im Spiegel – in Köln werden wir sie dann persönlich treffen

Jetzt liest Sandra einen Satz laut vor: „Man bagatellisiert die Bedeutung ihrer Werke und beschränkt sich darauf männliche Genies zu feiern. Bevor diese Einleitung endet, ist es wichtig sich Gedanken um den Begriff des Genies zu machen. Das Wort fiel schon ein paar Mal, aber wer entscheidet darüber, wer genial ist. Wer hat Bach, Beethoven und Mozart zu Genies ernannt. Ein Werk kommt nicht als Meisterwerk auf die Welt, es wird dazu. Ein Genie kommt nicht als Genie auf die Welt, es wird dazu.“

Daniel fragt mich, ob ich heute wieder bei einem seiner Solo-Songs Schlagzeug spielen will. „Why Do You Look So Sad When You Smile“ heißt das schöne Lied. Nachzuhören auf seinem Solo-Debut „Eral Fun“ von 2022. Natürlich will ich das. Wir proben das gleich mal. Gordon holt wieder den Schellenkranz heraus. Ich habe sofort den Kopf frei: Die Schläge, der Rhythmus haben sich verselbständigt, es macht so viel Spaß. Ich ziehe in Erwägung, zurück in Berlin Schlagzeug-Stunden zu nehmen. Diese ganz andere Herangehensweise an einen Song: ihn nicht primär über Melodie, Inhalt und Töne zu kreieren, sondern erstmal nur über Rhythmus zu begegnen. Man fühlt sich dabei so geordnet. Toni macht ein Filmchen von unserem Auftritt. Gordon, unser Sonnenschein auf Tour, ist now Mr. Tambourine-Man.

Im Schokoladen, Berlin

Und das SPIEGEL-Porträt wirkt schon, auch ohne, dass irgendwer von uns den Text bisher gelesen hat. Die Überschrift kursiert bei den Bandenmitgliedern; wir werden von unseresgleichen ab jetzt nur noch mit „die Legenden“ angesprochen. „Besser geht’s doch gar nicht“, freut sich Toni mit uns, der ebenfalls eine Legende ist. Er hat das wundervolle Ghost-Palace-Label gegründet. Und wird nochmal im Alleingang Indie und Berlin-Erfurter Post-Post-Post-Punk retten. Oder ins Jahr 2025 überführen. Die Jungs haben ein Manifest geschrieben gegen ein Musikbusiness, das alle bezahlt, nur die Musiker:innen nicht. Denn Toni und Daniel glauben an die Würde des Menschen und der Musik im Zeitalter der Spotify-Milliardärinnen.

Toni Conrad von Ghost Palace

Sandra fragt Gordon, wie er die Fotos von uns im SPIEGEL findet ? We like them a lot, und Gordon auch. Die Fotografin Katja Ruge hat die SPIEGEL-Fotosession zu einer Party gemacht. Wir hatten durchweg gute Laune. Was, na klar, auch an den tollen Räumlichkeiten des Brecht-Haus lag! Das sieht man natürlich. Thank god it’s Xmas. Daniel lässt uns vom Veranstalter ausrichten, wir sollen doch bitte ein Parole-Trixi-Stück ins Programm nehmen, denn die frühere Riot Grrrl-Band von Sandra ist ja der Grund, warum wir hier überhaupt mit so einer fetten Festgage gebucht wurden.

„Und da wollen wir ihm doch supergerne entgegen kommen.“ Da das erste Lied, das wir je mit Daniel gemeinsam gespielt haben, eine Coverversion von Parole Trixis „Seid gegrüßt“ für eine Session beim Deutschlandfunk war, scheint uns die Verwirklichung dieses Wunsches in greifbarer Nähe zu sein. Und auch Gordon zieht mit, nachdem Sandra ihm die einfache Grundstruktur des Liedes vorgespielt hat. „Das Gegenteil von „Wenn wir tot wären“, sagt sie aufmunternd, und wir merken schon, Gordon mag den Punkspirit des Liedes. Denn bisher kennt er uns ja nur als Band mit catchy Songs, deren Akkordstruktur es aber in sich hat.

Während Sandra und Sascha darüber reden, ob der „Seid gegrüßt“ Refrain nun mit „G“ oder „A“ beginnt, entdeckt Toni das Video zum Song im Netz. Jetzt reden alle über Charlotte Roche, die das Lied seinerzeit für VIVA 2 anmoderiert hat. Toni fragt, mit warmherzigem Schalk in der Stimme: kennt ihr die, dann könnt ihr sie doch nach Köln einladen. Nee, kennen wir nicht, aber wir haben Clara Drechsler eingeladen, auch eine musikjournalistische Ikone aus Köln, unsere größte Heldin seit unserer Jugend, und eine liebe Freundin über die Jahre. Sie hat ihr Kommen angekündigt, wie immer, wenn wir in Köln spielen. Beim Konzert in Wetzlar spielen wir „Seid gegrüßt“ dann so laut, dass der Mischer uns hinterher erzählt, wir hätten damit jedem, der nicht so gut ausgerüstet wäre wie er hier, die Anlage zertrümmert. „Macht das nicht mehr, der nächste Mischer bringt euch um!“ lacht er, aber im Ernst. Grrrls Punk vom Feinsten :), würd ich mal sagen. Wofür wird man hier schließlich bezahlt.

09.11.24: Köln – Asimmetric Bar
„Just Kids“

Kersty: Köln, wir kommen! Obwohl wahrscheinlich jede:r von uns gerne noch mehr Zeit in den gemütlichen Hotel-Zimmern in Wetzlar verbracht hätte. Aber sieben Stunden Schlaf ist eine Bilanz, die sich sehen lassen kann, und das trotz Haarewaschens und Föhnens vor’m Zubettgehen. Rock’n’Roll war für mich schon immer ein anderes Wort für Wachheit, und Wachheit entsteht aus den Träumen. Die SMS von einem Freund hat mich sanft in den Schlaf begleitet:

„Das SPIEGEL-Portrait ist eine tolle, sehr schöne Würdigung von euch, mit zwei, drei harmlosen Spitzen. Und eine gute Werbung für BRAVO BAR. Da werden aber einige Leute in Berlin sehr neidisch sein.“

Na, dann. Gute Nacht. Zur Mittagszeit verlassen wir die herrlichen Schlafburgen und spazieren, den würzigen, Herbstgeruch in der Nase, auf’s Auto zu. Toni fährt uns zum Bahnhof. Die Band ist wieder mit dem Van unterwegs. Sandra und ich mit dem Zug. Man sieht sich dann in Köln. Wir verabschieden uns von unserem lieben Tourmanager und stehen einen Moment unschlüssig in der Bahnhofsgegend von Wetzlar herum. Hier wird scheinbar überall gebaut. Die Kräne und Geräte hoch oben überragen die Passanten und Parking Lots bei Weitem. Noch während Sandra sagt: „Ich kann nicht glauben, dass wir echt ein vierseitiges Porträt im SPIEGEL haben,“ bleibt sie unvermittelt vor einer unangenehm nach Teer riechenden Baustelle stehen. „Eine Telegram-Nachricht von Gérard zum Artikel,“ ruft sie. Ehe ich protestieren kann, das sei jetzt noch immer nicht der Zeitpunkt sich näher damit zu befassen, übertönt die trainierte Stimme der Sängerin jeden Bau- und Straßenlärm. Mit wachsendem Erstaunen liest sie vor, was der Freund ihr da geschrieben hat:

„Das ist einfach ein sehr, sehr schwacher Text, schlecht geschrieben, was aber nicht Euer sondern Bayers und des SPIEGELs Problem ist. Schlimm ist für Euch darin wenig, wenn man nicht erwartet hat, dass jemand gescheit und gut auf dem aktuellstem Stand über Euch schreibt, was man beim Spiegel natürlich hatte erwarten dürfen. Ich würde mir aber keine persönlichen Sorgen machen. Schlimm ist eher allgemein, dass ein hochkomplexes Diskurskunstwerk wie die Grether Sisters in einem wesentlichen Nachrichtenmagazin Deutschlands niveaumäßig so unter aller Sau traktiert wird. Das merkt auch jeder, der seine Sinne noch beisammen hat.“

Ach, der gute Gérard, er hat halt immer den Vergleich zu den französischen Medien parat. Ob das stimmt, was er ihr schreibt?

Schräg gegenüber von den Bahngleisen gibt es eine Shopping-Mall. Wir schlendern in die mollig warmen Einkaufsarkaden und suchen nach einem Kiosk. Man will den Papiertiger jetzt in Empfang nehmen. Aber hier ist kein Kiosk. Schließlich kaufen wir den SPIEGEL vom 09.11.2024 (mit einem einsamen Olaf Scholz auf dem Cover) bei Kaufland in Wetzlar. So viel zum Thema „Großstadtmusik.“

Kersty: Es ist die Ausgabe 46. Sie haben nicht mit Trump, sondern mit dem Ampel-Aus aufgemacht. „Die Welt steht in Flammen und der SPIEGEL interessiert sich für unsere „Ich brauche eine Genie-Veranstaltung,“ lacht Sandra. „Die Welt steht doch immer gerade in Flammen,“ korrigiere ich, und füge klugscheißerisch hinzu „und trotzdem interessieren sich die Menschen auch weiterhin für Kultur.“ Sandra daraufhin: „Und dann auch noch dieses scheußliche Datum: neunter November.“ Zusammen mit Pflegeprodukten, Smoothies und Mineralwasserflaschen legen wir den immer mysteriöser anmutenden „Olaf-Scholz-SPIEGEL“ aufs Laufband. „Ich möchte nicht mehr, dass du Teil meines Kabinetts bist“ ist die Headline der Woche. Später wird Thomas Venker sagen: „Das klingt für mich wie ein Zitat von Jan Delay. „Ich möchte nicht, dass Ihr meine Lieder singt!“

Kersty mit kaput’s finest Thomas Venker

„Ich bin nun doch etwas müde. Ich werde den Artikel über uns erst in Köln lesen, nicht jetzt im Zug,“ verkünde ich. „Denn ich glaube, ich brauche sogar acht oder neun Stunden Nachtschlaf, bevor ich den Artikel lese, aus dem so viele Leute, die mich nicht kennen, erfahren, was für ein Mensch ich wohl bin; wie meine Musik klingen mag und was es mit meinen Romanen und dem Pop-Feminismus auf sich hat,“ meine Stimme klingt nun pathetisch: „Das ist wichtig für meine Seelenbalance, verstehst du, damit ich das alles auf Anhieb in den richtigen Hals kriege und angemessen verarbeiten kann.

Je wacher man ist, desto besser kann man einen Text über sich selbst lesen und genießen.“ „Du spinnst doch: Prominenz ist kein Genuss,“ mault eine gutgelaunte Sandra. „Einfach Augen zu und durch!“ Ich lasse nicht locker: „Wenn du den Artikel jetzt lesen willst: bitte, mach das. Aber dann darfst du kein Wort darüber verlieren, und das schaffst du sowieso nicht. Also lies du ihn doch bitte auch erst in Köln. Wir suchen uns dort, just im Moment des Arrivals, ein schönes Café,“ versuche ich sie zu überreden. Ich lasse einfach nicht locker: „Man braucht für so etwas eine gute, heitere Atmosphäre, glaub mir doch. Das habe ich in der Verhaltenstherapie gelernt. Nicht einfach so drauflosleben und es hinterher dann bereuen.“ Zumal uns ein Umstieg in Siegburg-Bonn bevorsteht, es soll dort mit dem Bus weitergehen, furchtbar sowas, Ersatzverkehr von Bonn nach Köln oder irgendwie so.

Sandra wirkt genervt. „Das pack ich nicht. Ich lese das jetzt gleich im Zug. Oder ich lese es online, ich brauch das Heft ja gar nicht, ich hab ja ein Abo.“ „Oh bitte nicht!“ Ich will das gerade nicht verarbeiten. Beinahe hätte ich sie nun doch überredet, mit dem unschlagbaren Satz: „Jetzt waren wir doch noch nie im SPIEGEL, jetzt kommt es doch auch auf drei Stunden nicht mehr an.“ Da erhalten wir ein – im Zeitalter des Turbokapitalismus – seltenes Präsent. Der Inhaber des Dönerladens, bei dem wir uns Salat-Pitas kaufen, will uns jedem einen großen Becher Kaffee dazu schenken! „Weil heute Samstag ist, gibt es einen Kaffee für jeden umsonst,“ freut er sich. Oh Mann, das ist aber großzügig. Sandra lacht: „Wenn das kein Zeichen ist wachzubleiben, ich lese jetzt gleich.“ Sie bedankt sich überschwänglich, läuft mir mit dem dampfenden Kaffeebecher davon, und liest dann doch nicht. Nur kurzer Foto und Zitate-Check: „My life was saved by Schreiben & Rock’n’Roll.“ Alright.

Viva, Girlies und Riot Grrrl: Der Antifeminismus der Neunzigerjahre.

Ein paar Infos; ein bisschen Upfuck für alle. Oder: Warum ich mir so viel auf mich einbilde 🙂

Kersty: Endlich in Köln. Die Busfahrt ist uns erspart geblieben, ein Regionalzug am gegenüberliegenden Gleis nahm uns in seine Mitte und spuckte uns in der ehemaligen Stadt unserer Träume wieder aus. Das von mir herbeihalluzinierte atmosphärische Café ist auch schon da. Ich finde sogar eins im Landhausstil. Denn das Leben ist gut, wenn man das aushält. Biedermeier ist gerade was ich brauche (was nicht für die Gesellschaft als Ganzes gilt). Das war ja genau das Problem in den  berühmten Neunzehnhundertneunzigerjahren, über die immer noch nicht genug gesagt und gespottet worden ist. Die Binsenweisheiten eines jugendlichen Übermuts wurden von mutwillig-zerstörerischen Neokonservativen kurzerhand auf die politische Sphäre übertragen: immer alles schön rosa sehen, aber ohne Feminismus, bitte.

Feminismus und rosa Gitarre – geht natürlich beides, lehrt uns Kersty.

Dazu kam ein gefährlicher Biologismus, der noch bis Ende der Nullerjahre zur Beschreibung von Geschlechterverhältnissen herhalten musste. Ernstgemeinte Gender-Diskurse gab es eigentlich nur in den abgetrennten Zirkeln von SPEX, Texte zur Kunst und einer Handvoll kleiner linker Zeitschriften oder Zeitungen. Heutzutage vollkommen anachronistisch, aber noch vor 10, 15 Jahren the German way of life:
Sandra erzählt mir gerade, wie sie in einer 75-Jahre DER-SPIEGEL-Ausgabe von 2022 ein Roundtable mit Redakteurinnen gelesen hat, die älter sind als wir: und die sich in dem Text zugute hielten, dass sie seit etwa 2012 versuchten, den SPIEGEL feministischer zu gestalten. So jedenfalls hatte sie es in Erinnerung. “Oh, das ist ja sehr rühmlich,“ sage ich anerkennend. Da müssen wir, bei allem Wohlwollen, doch noch lachen. „2012!! Aber gab es nicht auch diese Pro-Quote-Bewegung? Haben sie die nicht auch noch dafür gebraucht? Oder waren sie selbst Teil von Pro-Quote?“
Sandra sagt: „Ich hab die Stelle öfters gelesen. Ich konnte das nicht glauben, 2012 soll früh gewesen sein, für Feminismus in Deutschland, im SPIEGEL. Weil immerhin noch vor #metoo, ha. Stell dir mal vor, was wir da schon alles hinter uns hatten, im Jahr 2012, und nicht nur wir: Das Deutschland der Neunzigerjahre fühlt sich aus heutiger Sicht echt steinzeitmäßig an. Für uns halt schon damals. Das ist unser Drama: dass wir, bewaffnet mit all den klugen feministischen Theorien und Visionen von einem echt besseren Leben für alle, durch diese trübe Zeit gehen mussten. Und alle sagten immerzu: „Die politischen Zeiten sind vorbei, jetzt geht’s um Spaß“. Dieser Spaß galt halt nur für ganz wenige… usw. Wir kennen nun die Geschichte. In Köln kriege ich immer Flashbacks. Ach, dieses Narrativ: Feminismus braucht kein Mensch, der jung und schön ist. Damals gabs ja noch die Versorger-Ehe. Sollte bloß keine der späteren Ehefrauen auf die Idee kommen, zu hoch hinaus zu wollen im Berufsleben. Oder in den Künsten. Der Mann musste immer über der Frau stehen, möge er sich letztendlich auch von der starken, ja übermächtigen Frau unterbuttern lassen: schlag nach bei Heinrich Mann: “Der Untertan“.

Kersty: Und zu diesem sehr autoritären Zweck drehte eine ideologisch aufgeheizte Unterhaltungs- und Modeindustrie die Schlankheitsideale immer noch ein Stückchen weiter in Richtung Todeskurve. Weil, wer hungert, kann nicht mehr so gut arbeiten und verliert mit der Zeit jegliche Karriere-Ambitionen.
„Die deutschen Frauen (bzw. „Girlies“) sollten sich bitte nicht mehr anstrengen müssen, Feminismus, Emanzipation, alles schon gelaufen, währenddessen aber auf MTV die wundervollsten feministischen Grunge-Hymnen gespielt wurden. Alles neu und aufregend: Breeders, Skunk Anansie, Hole, Garbage, 4 Non Blondes, sogar die britischen Shampoo. Wir haben dann ja den Anti-Girlie-Kongress im Künstlerhaus Stuttgart organisiert, gegen diesen berühmten Artikel im SPIEGEL aus dem Jahr 1994, der die „unpolitischen Girlies“ als Titeltrack hatte. Genauso gut hätte man zu diesem Zeitpunkt, vor genau dreißig Jahren, auch schon die dritte Welle des Feminismus in Szene setzen können, die in der angelsächsischen Welt in einer ersten Blüte stand. Anstatt gegen Alice Schwarzer und Co zu hetzen. Man hätte einfach mal aufhören können, den Kampf für Frauenrechte an eine Person zu knüpfen.

The Doctorella in der Berghain Kantine

Sandra Grether

Ja, da lag popkulturell etwas Neues in der Luft, Faschismus war es nicht! Aber die deutschen Meinungsmacher:innen wählten den unseligen, deutschen Sonderweg. Sie schufen ganz von oben so etwas wie eine anti-politische, popvereinnahmende Anti-Frauen-Girliebewegung, Pro Mädel – aber Mädel kämpft eben nicht für seine Rechte, denn die hat es ja schon. Sehr originell. Sehr 1919 : Sehr 1933 🙂 Natürlich mit prominenten „It“-Girls an der Spitze, die Lippenstift trugen und Springerstiefel. Eine original deutsche Jugendbewegung, made by SPIEGEL 1994. Bunt deutscher Mädel oder so. Natürlich von Männern geschaffen. Noch bis in die späten Nullerjahre hinein wurde das Wort „Girlie“ in dem Nachrichtenmagazin völlig selbstverständlich verwendet. Es hat sehr lange gedauert, bis ich den SPIEGEL wieder ernst nehmen konnte! In meinem Buch „An einem Tag für rote Schuhe“ findet sich folgender Absatz:

„Und ‘überhaupt’ schimpfte Jasmina, ‘habe ich noch nie eine Ausgabe vom SPIEGEL gelesen, wo nicht der Kampf für Frauenrechte lächerlich gemacht wurde und für ‘out’ befunden.’“ (Der Roman erschien 2014)

Anfang 1995 habe ich also meinen ersten pop- feministischen Vortrag gehalten. Im Künstlerhaus Stuttgart vertrat ich argumentativ und bereits mit performativer Kraft die Ideen der Riot Girl-Bewegung. Mehr darüber kann man in meiner Essaysammlung „Zungenkuss. Du nennst es Kosmetik, ich nenn es Rock’n’Roll“(suhrkamp, 2006 tb) erfahren Danach sagte eine Besucherin zu mir: “Das war groß. Du wirst erst in 25 Jahren wissen, was du da gerade gemacht hast.“

Jetzt weiß ich es also: wir haben Riot Grrrl in Deutschland gestartet. Danke Tobi und Kathleen! Die dritte Welle des Feminismus, nicht als theoretisches Phänomen, sondern als politischen Akt verstanden. Der äußerte sich in einem Happening. Event. Nicht einfach nur in einem Text in der SPEX. Der Stern und die Woche haben über unsere Protestaktion berichtet. Mehrere Seiten, die sich auch um die Frage drehten, was jetzt eigentlich aus diesem Girlie-Hype wurde. Das Künstlerhaus Stuttgart war vollbesetzt. Rainald Goetz saß in der ersten Reihe und schrieb und schrie mit. Er war dagegen. Also dagegen, gegen den Girlie-Hype zu sein. Er wollte seine Buddies bei der SZ und beim SPIEGEL verteidigen, wie süß. Später brachte VIVA – der Sender, der wie kein anderer auf die Girlie-Ideologie angesprungen war – eine ganzstündige Sendung über den Aufstand der „Kerstin Grether und ihrer Mitstreiterinnen“, die mehrfach wiederholt wurde! (Die Idee, dass auch zwei Leute oder mehr, eine feministische Bewegung „anführen“ könnten, war zu diesem Zeitpunkt nicht denkbar.) Auch die dritten Programme und Kultursendungen im Radio zogen nach. Plötzlich gab es eine reghafte Diskussion darüber, ob die jungen Frauen wirklich so unpolitisch seien. Denn schließlich gäbe es ja auch diese amerikanische Riot Grrrl Bewegung…

Leute / Medien fingen an, mich als die Nachfolgerin von Alice Schwarzer zu behandeln, was ich mit meinen neunzehn Jahren natürlich nicht sein wollte, oder konnte. Dafür war ich zu kaputt. Obwohl der SPIEGEL sich ja die VIVA-Heike als Gallionsfigur des Girlietums geschnappt hatte, war zumindest der in Köln ansässige Heike-Sender noch mit echtem Pop-Feminismus zu unterwandern. 🙂 Ich glaube, Heike Makatsch bereut ihr Girlie-Image bis heute. Sie ist von einer bestimmten Klientel von Leuten als Schauspielerin nie mehr ernstgenommen worden. So eine darf natürlich nicht Hildegard Knef spielen. Nee. Wir aber auch nicht. (Ob man jetzt die Girlie-Bewegung anführte oder die Gegen-Girlie-Bewegung: große Künstlerinnen bitte vorwiegend in den USA oder in England suchen. Danke. Deutschland muss Große-Künstlerinnenfrei bleiben, bitte, bis heute.) Heike Makatsch war übrigens hinreißend in ihrer Rolle als Hildegard Knef. Ich habe den Film 5 x gesehen. Ich hatte damals auch die selbe Gesangslehrerin wie sie. So lange treffe auch ich schon die dunkleren Töne.

Die Geschichte unseres kleinen Aufstands gegen den SPIEGEL ist nun dreißig Jahre her und hat mit den aktuellen SPIEGEL-Teams nichts mehr zu tun! Aber ehrlicherweise muss man sagen, dass es zu den Fakten gehört. Zum Unbewussten des SPIEGELS, vielleicht. Dem aktuellen SPIEGEL ist ja zuzutrauen seine investigative Kraft auch auf sich selber anwenden zu können und seine früheren Auswirkungen auf die antifeministische Bewusstseinsbildung in diesem Land auszuloten. Oder eben seine Auslöserfunktion für eine Gegenbewegung anzuerkennen. Wir haben ja den Popfeminismus nicht in erster Linie als Abgrenzung gegen den Second-Wave-Feminismus gestartet („Siebzigerjahremuff“ wird Felix Bayer das nennen, not our word), sondern gegen den antifeministischen Zeitgeist, der von der damaligen Medienelite heraufbeschworen wurde (damit war gar nicht EMMA gemeint:). Man musste einfach vor alle politischen Ziele das Wort „Pop“ setzen, um den neoliberalen Kaltmenschen mit einem Modenbegriff zu kommen, den sie selber gerne besetzen würden, wozu ihnen aber die detailistische Fantasie fehlte. Deshalb ist es auch so albern, wenn heute alles und jedes immer noch „Popkultur“ heißt; denn die gehört ja den Milliardären und Milliardärinnen und ihren Überzeugungen.

Und wo wir schon dabei sind: so viel auch zu Margarete Stokowskis Einwand. „Warum Pop-Feminismus?“, warum nennt man es nicht einfach auch „Feminismus“?
Sie kann das Wort „Pop-Feminismus“ nicht anerkennen, schrieb sie mal in einer SPIEGEL-Kolumne. Ja, klar. Man nennt aber auch nicht alle Bands mit Gitarren Rockbands. Und man kann nicht alles aus der Gegenwart für die Vergangenheit beurteilen. Man muss sich auch mal damit beschäftigen, was die Leute, die dabei waren, als es entstand, sich dabei gedacht haben.

Sandra: „Und wir waren ja nur die von der symbolischen Politik: Die West-Frauen. Oder West-Girlies. Harmloses Pack. Wir wurden nicht als Feministinnen geboren, sondern vom Zeitgeist der Neunzigerjahre dazu gemacht. Überleg doch mal, wie die studierten bzw. völlig selbstverständlich arbeitenden Frauen aus dem Osten mit derselben neoliberalen Ideologie aus ihren Jobs gekickt wurden! Das war schon eine brutale Zeit. Die Baseballjäger-Jahre. Auch dafür haben sie diesen Girlie-Backlash errfunden. Die Wirtschaft, der Finanzsektor und so mancher Journalist mussten eine halbwegs emanzipierte Bevölkerung (wozu auch die Männer im Osten zählten) dazu bringen, ins 19. Jahrhundert zurück zu huschen.

 

“Magersucht: Krankheit des 19. Jahrhunderts.”

Kersty: Der spärliche Holztisch-und Topfpflanzen-Chic der Gegenwart umgibt mich, das Croissant lächelt mir zu. Jetzt lieber Fett als Zucker. Man kriegt ja doch sein Fett ab. Let’s get started, ich beginne endlich, den SPIEGEL-Artikel über uns zu lesen! Oh mein Gott, was hing denn da wohl für ein Damokles-Schwert über uns, seitdem wir den sogenannten Hamburger-Schule-Streit mit-losgetreten haben, denke ich beim Lesen, und freue mich, dass Felix Bayer sich so viel anspruchsvolle Mühe gegeben hat, das einzuordnen. Ich fühle mich richtig zitiert und weiß beim Lesen sofort die verschiedenen Themen-Blöcke zu schätzen.

Am besten gefällt mir, dass er so viel über mein Kindheitstrauma geschrieben hat. Danke dafür. Andere Leute hassen es mit Journalisten über ihre Kindheit zu reden. Ich liebe es. Weil es so viel erklärt. Das Leben eines Menschen in ein komplett neues Licht tauchen kann. Felix Bayer schreibt: „Doch was nach einem frühreifen Provinzpop-Idyll klingt, hat einen schwerwiegenden psychologischen Hintergrund.“ Genau. Ich habe nicht als Teenager schon über Musik geschrieben, um die Besserwisser:innen von heute zu ärgern oder mich als Erstes aufs Siegertreppchen zu stellen, denn ich bin ja kein autoritärer Charakter.

Ich mache Dinge als erstes gar nicht so gerne. Ich freue mich immer, wenn da schon welche vor mir waren. Aber manchmal bleibt einem im Leben halt die schmerzvolle Pionierarbeit nicht erspart. Man macht das nicht, um Preise zu gewinnen, sondern um in diesem Klima weiterleben zu können, vielleicht auch um your local Welt zu verändern. Man gelangt ja schnell an die gläserne Decke, als weibliches Genie in Armutsdeutschland. Meine Schreibsucht jedenfalls war die Übermuts- und Überlebensstrategie eines Mädchens, das früh seine Mutter an eine hartnäckige, psychische Krankheit verloren zu haben schien. „Es war ein großer Schmerz“ werde ich zitiert. Super. So war es! Das ist einer der Gründe, warum aus Menschen Künstler:innen werden: um ihren eigenen Schmerz zu lindern, auch den Schmerz der Zuhörer:innen. Wir sind nicht Künstler:innen geworden, um euch zu ärgen, sondern um euch zu unterhalten.

Sandra, etwas unschlüssig: „Ja, du hast recht. An dem Text ist vieles gelungen. Aber sag mal, ein „19 Min Read“ und kein einziger Satz aus einem journalistischen Artikel, einem Songtext oder aus deinen Romanen zitiert? Seriously? Nicht mal ein halber. Überleg dir mal, wie viele Milliarden Stunden Arbeit darin stecken. Und was ist mit all den vielen Essays? Felix Bayer beschreibt unsere sprachlichen Superkräfte mehr oder weniger nur anhand der Sätze, die wir im Interview gesagt haben.“

Kersty: „Ist ja vielleicht SPIEGEL-Style. Er hat uns ja nicht acht Stunden lang interessante Zitate entlockt, nur um jetzt aus einem bereits veröffentlichten Aufsatz zu zitieren. Oder aus einem Song. Sie haben die Videos ja verlinkt, kann sich doch jede:r selber anhören,“ sage ich beschwichtigend. Das scheint Sandra sofort einzuleuchten: „Okay! Immerhin auf der Startseite vom SPIEGEL unsere Videos, danke.
Wir lachen. „Noch zwei Hafermilch-Cappucino, bitte.“ Die Jungs müssen den Soundcheck heute ohne uns machen. So läuft das doch bei großen Bands.

Sandra und Kersty:
Wenn man gegen Gewalt kämpft, dann nicht um sein Ego zu befriedigen, sondern damit sie endlich aufhört. Damit nie mehr eine Frau so eine Scheiße erleben muss. Da geht es um Solidarität. Wenn ich meinen Platz in der Geschichte meiner Aktionen einfordere, dann aus Selbstrespekt. Das ist Teil von feministischer Denkweise. Wir wissen, dass wir relativ ego-los, schlechtbezahlt und solidarisch diesen Kampf kämpfen. Aber mit viel Selbstliebe und Liebe für andere. Würde Felix Bayer ja gar nicht bestreiten, schätze ich mal.

Im Ventilstore Berlin – Kersty mit “Bravo Bar”

Kersty: Wir sitzen immer noch in Köln in diesem authentischen Landhauscafé, das sich Fair Trade auf die Fahne geschrieben hat. Ed Sheeran oder etwas ähnlich Scheußliches säuselt im Hintergrund. Ich starre Freudenlöcher in die Luft „Ist doch alles super“ versuche ich mich selbst davon zu überzeugen, dass ja jetzt mal gut ist. Als ich BRAVO BAR zu Ende schrieb, habe ich mir vorgenommen, promo-mäßig so viel auf die Kacke zu hauen, wie geht.

Ist ja ein Rap-Roman, da ist man sowieso die Beste!

Ich bin erleichtert, dass Felix Bayer auch diesem Anspruch Raum gegeben hat. Auch wenn all meine Romane in all ihren Konstruktionen zehn Jahre lang gereift sind. Deshalb schreibe ich ja nur alle zehn Jahre einen. Damit der richtig gut wird. In diesen drei Romanen stecken Milliarden Stunden Überlegungen drin. Das ist schon alles gut durchdacht, doch, doch. Ich hatte viel, viel Zeit für gute Textarbeit. Falls sich wer wundert, wo die Qualität meiner Arbeit herkommt. Arbeit ist Leistung durch Zeit. Das war immer meine liebste Formel im Physik-Unterricht. „Sie stachen heraus“, weil sie Frauen sind. Frauen hätten demnach einen Vorteil in Männerdomänen. (Und ja, auch Nachteile, z.B. wenn sie belästigt werden.) Die Möglichkeit, dass es an der Qualität der Texte lag, wird nicht in Betracht gezogen. Ich glaube nicht, dass die Leute uns noch 30 Jahre später auf unsere SPEX-Texte ansprechen würden – ich meine jetzt nicht nur auf Konzerten und Lesungen, sondern auch im Supermarkt, auf der Straße oder beim Anwalt – nur weil wir Frauen waren. Außerdem übersieht der Satz, dass die SPEX von zwei herausragenden Journalistinnen und Künstlerinnen mitgegründet und geprägt wurde: Clara Drechsler und Jutta Koether. Ja, bei der SPEX waren so einige Frauen stilprägend.

Clara Drechsler

Mal ganz davon abgesehen, dass ich auch bald deshalb nicht mehr heraustach, weil ich zehn verschiedene Kultur- und Musikjournalistinnen für die SPEX anwarb. Bald schrieben dort noch viel mehr tolle Frauen z.B. auch die im SPIEGEL zitierte Barbara Kirchner. Die ebenfalls außergewöhnlich starke Texte schrieb. Sich die Konkurrenz selber ins Haus zu holen, ist nichts für Leute mit big Egos, eher für kreative Nachteulen, die sich ihrer eigenen schöpferischen Kraft sicher sind.

„Na klar,“ greift Sandra meine Ausführungen über den Roman auf: „Wenn doch nur alle Schriftsteller:innen, die mit Weltanschauung arbeiten, also alle, in ihren Konstruktionen so gewissenhaft und hintergründig wären wie du! Frauen können halt auch die „Kunst des Erzählens“ von James Wood lesen und anwenden, nicht nur Rainald Goetz kann das; und einen historischen Berlin-Roman über die Jahre 2018/19 schreiben.“

Kersty, weiter:
„Es gibt ja auch diese konservativen Kräfte beim SPIEGEL, die nicht so verliebt in die Identitätstheorie sind wie wir“, freue ich mich. Die wollen ihren guten alten Universalismus back. Im größenwahnsinnigen Glauben, es würde irgendwo auf der Welt noch diesen Elfenbeinturm der objektiven Beurteilung geben. Natürlich immer im Hinterkopf, dass ausgerechnet sie es sind, die dadurch in den Besitz der Wahrheit geraten; anstatt mit allen Mühen und Nöten die eigene privilegierte Sprecher:innen-Position zu reflektieren.“

Ich seufze, wie ein Clara-Drechsler-Artikel. „Dieser Artikel über uns, der ist noch so 20. Jahrhundert. Es deprimiert mich. Aber ist ja egal, wir dürfen ja leben, im Twentyfirst Century! Wie schön, wir dürfen leben. Leben, leben.

Sandra: „Legenden von Berlin“ spielt ja auch vorwiegend im 20. Jahrhundert, vorausgesetzt 2004 zählte noch zu den 1990ern dazu.

Kersty: „In letzter Zeit muss ich öfters an den von dir verfassten Song „Die Ungeheuer mit den sauberen Händen“ von 2016 denken, Sandra. Wir sollten ihn wieder ins Programm nehmen, Daniel und Gordy müssen ihn sofort spielen lernen. Jetzt, wo Tocotronic auch einen bemerkenswerten Song über „das Böse“ geschrieben haben. „Denn sie wissen, was sie tun“ ist ein richtig guter Titel. Einerseits natürlich wegen „Rebel without a cause“, andererseits weil man ja bei den toxischen Menschen immer hin und her gerissen ist, von der Frage: Ist es Absicht oder haben sie sich etwa gar nichts dabei gedacht? Toll auch, sowas mit Kinderabzählreim zu bringen.

Kersty singt (den Doctorella-Song): „Sie rufen immer wieder, ich kenn dich noch von früher, sie hoffen insgeheim, da stehst du doch nicht drüber. Sie kennen dich schon immer, besser als du dich selbst, und wenn du dich veränderst, dann nennen sie dich fake…“

Sandra, weiter: „ Denn sie wollen immer deinen ersten Take! Und wenn du dich nicht veränderst, dann vermissen sie den Break. Das sind die Ungeheuer mit den sauberen Händen…“

Die Leute vom Nachbartisch schauen schon rüber, wir singen aber auch einfach zu laut, das schickt sich nicht „für ‘ne Frau“:

Jetzt beide: „Die Ungeheuer mit den sauberen Händen. Hau einfach ab und nimm nichts an, auch wenn sie dir was schenken.“

Sandra: „Wenn das jetzt wieder von den Antilopen oder Kraftklub wäre. Dann würde man ganz bestimmt mal auf die Texte eingehen… aber ist ja nur von Doctorella. Dieser Band von diesen Musikjournalistinnen aus den Neunzigern, die unsere Töchter sein könnten.

Kersty, Themensprung: „Sie haben ja gar nichts gegen Musik von Frauen, die Musik von Männern geht nur einfach immer vor. So einen männlichen Komponisten würde man nicht um seine Kompositionen bringen.

Und sie lieben ja auch diese internationalen Girlie-Superstars so sehr. Wobei das heute „brat“ heißt. Gör. Denn sie feiern darin, dass sie schon seit 10 Jahren begriffen haben: kommerzielle Popmusik von Frauen darf ernstgenommen werden, auch vom Indie-Typen und von der Indie-Frau. Früher war das austauschbare Konfektionsware für sie. Aber auch die frechen, female Popstars musste man ihnen erst noch näher bringen; wie z.B. ich damals in meinem legendären INTRO-Artikel „Was taugen unsere Teen-Idole“ von 2003:

Pink, Kylie Minogue, X-Tina, Britney Spears, Sugababes Kelly Osbourne, Madonna. Was taugen unsere Teen-Idole? – Ich brauche eine Genie

Sandra: Nichtsdestotrotz: Auf den internationalen Rockfestivals spielen auch heute noch zu 80 bis 90 Prozent männliche Rockbands, manchmal auch 100 Prozent.

Kersty: Beim „Outbound“-Programm des Musicboards hatte ich das Vergnügen, französischen, englischen und skandinavischen Bookern Expertisen abzulauschen. Denn da ich mit The Doctorella die Struktur für eine internationale Karriere habe, spendierte das Musicboard uns ein bisschen Netzworking. Die einhellige Meinung war: der huge market für Festivals spricht mainly Leute an, die Rockbands sehen wollen. In England sind das 19 Millionen Leute. Rockband ist immer noch „das Eigene“ des Musikmarktes; die Popmusik von „Ausnahmefrauen“ „das Andere.“

Viele Leute, die viel Geld für Taylor Swift ausgeben, hätten ihre Konzerte nicht auf der Ebene eines Musikereignisses, sagte er. Sondern das sein ein Luxusgut, das sie sich einmal im Leben (oder einmal im Jahr) gönnen. „Das ist nicht cool“, sagte der Booker vom „Great Escape“, einem der größten britischen Festivals.
Natürlich ist Taylor Swift cool. Sie schreibt tolle Songs, spielt Gitarre und wechselt auch mal ihre Boyfriends. Sie hat ein hochkodiertes Werk, mit Verweisen. Kein oberflächlicher Plausch. Aber am liebsten würde ich in einem der vielen Features über sie erfahren, ob ihre Fans auch mal Gitarren-Tabs tauschen oder nur Freundschaftsbändchen.

Der Booker sagte auch: “Ein Prozent von den Artists verdient all das Geld, das im Livegeschäft zu machen ist. Der Rest ist Grassroots. Auch das sei nicht cool.“ Da hat er Recht! Und überhaupt: vielleicht ist es ja in einer Welt der Elon Musks und Trumps nicht sooo cool wie viele glauben, die Menschen dazu bringen zu wollen, für Milliardärinnen zu schwärmen, anstatt your grassroot Woman von nebenan zu unterstützen. Und auch nicht sooo feministisch.

In Deutschland ist es sogar besonders nicht sooo cool, genaugenommen. Weil viele Entscheider:innen hierzulande (besonders kaltschnäuzig) nach wie vor eine eigenständige Musikszene mit gleichberechtigen Frauen unterdrücken. Wenn Taylor Swift es schaffen kann, kannst du es auch schaffen. Wenn nicht, selber Schuld. Die Logik des neuen Neoliberalismus ist die des alten Gixrlie-Deutschlands. Wir schlagen einen neuen Trend vor: Görlie! Der Unterschied zu Zeiten von Madonna und Xtina Aguilera ist: jetzt gibt es zehn Ausnahmepopstars, früher gab es fünf. Plus: sie schreiben alle ihre Lieder selber.
Wenn auch oft mit Teams zusammen. (Aber sie sind keine Band.) Sie repräsentieren das Vorankommen von Einzelfrauen innerhalb etablierter Strukturen. Aber wie gesagt: Lieder selber schreiben. Das ist der einzige wirkliche Unterschied. Und auch der einzige wirkliche Fortschritt. Immerhin.

Kersty – Selfie mit Papagei

These Twins

Kersty: Der SPIEGEL-Artikel ist herrlich frei von Zwillingsklischees, oder? Es gibt wissenschaftliche Untersuchungen darüber wie Zwillinge geothert werden. Früher oder später werden sie, wegen ihrem paarweise Auftreten, aus ALLEN Kulturen und Gesellschaften ausgegrenzt. Sie konfrontieren die Einlinge damit, dass diese nach dem Konkurrenzprinzip leben. Und stimmt ja. Die meisten Leute haben nicht EINEN Menschen im Leben, zu dem sie sich nicht automatisch in Konkurrenz setzen.

Aber wir wollten dieses Fass beim Interview nicht aufmachen. Es macht keinen Sinn und keinen Spaß jede mögliche Abwehrreaktion und Zuschreibungshölle vornwegzunehmen. Gemeinsam aufzutreten ist dennoch mit einem Risiko behaftet. Ich freue mich, dass es in diesem Fall gut gegangen ist. Denn schließlich sind ja die meisten Menschen in Klischees gefangen, von denen andere nichts wissen.

Jedes Anwenden von Identitätspolitik steht bekanntlich in einem Dilemma:
„Das repressive Repräsentationssystem wird zwar abgelehnt, soll aber dennoch für die eigene Befreiung dienstbar gemacht werden“, wie Lea Susemichel und Jens Kastner in ihrer Schrift über „Identitätspolitiken“ (UNRAST-Verlag, Münster, 2018) schreiben. Das hat für die Inszenierung im Pop eine schwerwiegende Folge:

„Geothert“-Werden kann ein Grund sein; ein Reflex, warum Menschen als Stars wahrgenommen werden und funktionieren. Man muss auch mal in den sauren Apfel einer Zuschreibung beißen, wenn man will, dass die Leute die eigene Musik hören. Wir haben also nicht einmal gesagt: Ich, als Zwillingsmädchen…. Wir haben es einfach mal laufen lassen. Dafür beglückwünsche ich mich gerade, für mein Grundvertrauen. Das ist natürlich nicht bei allen Zuschreibungen möglich. Das will ich z.B. einer Transfrau nicht unbedingt empfehlen. Aber trotzdem: Wir leben hoffentlich schon in einer pluralen Gesellschaft. Menschen sind unterschiedlich. Trotzdem müssen sie miteinander auskommen.

Anyway: Der einzige Weg sich in die Gesellschaft zurück zu kicken, besteht für die tendenziell von Ausgrenzung betroffenen Zwillinge darin (schon das Wort ist eine Zumutung; alles an dem ein „ling“ hängt, gehört in die Sprachtonne), etwas POSITIVES für die Gesellschaft zu tun. Zumal, wenn die Zwillinge sogenannte Frauen sind.

Von Frauen werden im Patriarchat Fürsorgeleistungen erwartet, andernfalls werden sie sanktioniert. Sie sollen geben, nicht nehmen. Weibliche* Zwillinge sollen doppelt und dreifach geben und doppelt und dreifach nicht nehmen. Sie sind doch dafür da die anderen zu stärken. Sie selber sind ja schon so stark. Fuck this! Übrigens kann jede:r Mensch sich beruflich mit einem anderen Menschen zusammenschließen und freundschaftlich, demokratisch gemeinsame Ziele anstreben. Das hat absolut nichts mit Genen zu tun. Das hat was damit zu tun, dass man es euch nicht beigebracht hat.

Im Diederichsen-“Sexbeat“-Universum gibt es dafür den Begriff der „Großfreunde“; vielleicht habe ich das Buch deshalb so gerne gelesen. Ich brauchte Vorbilder für positive, solidarische Zusammenschlüsse.
Die Welt ist voller Menschen. Such dir deinen Zwilling doch einfach. Das mit dem Ähnlichsehen könnt ihr erstmal nach hinten anstellen, das ist echt scheißegal. Ihr könnt ja trotzdem weiter euer eigenes Ding machen. Sogar in verschiedenen Städten wohnen geht. (Du kannst dir auch ein Beispiel an Thomas Venker und Linus Volkmann nehmen! Die tollsten Selfmade Twins im Popjournalismus ever).

Zum Thema Aussehensähnlichkeit

Es wird einem als Zwilling ja immer ins Gesicht geguckt, und dann wird verglichen, und von Kopf bis Fuß wird man angestarrt. Schon als ich drei oder vier Jahre alt war, wäre ich am liebsten davongelaufen. Ich habe eine Erinnerung daran, wie ich auf der Treppe des Cafés, das die Schwester meiner Mutter betrieb, mein Gesicht verbarg und in einen inneren Monolog verfiel: „Warum müssen die Leute mich immer so anstarren? Mama, sag ihnen, sie sollen wegschauen. Ich bin doch noch ein Kind.“
Stell dir einfach mal vor, du wirst immer wenn du mit einem gewissen Menschen unterwegs bist, mit deinem Aussehen konfrontiert, ohne dass dies irgendjemand reflektiert. Alle finden es völlig normal hin und her zu gucken, wenn sie Zwillinge sehen. Würdest du in diesem Fall nicht auch 29,50 Euro für eine Hautcreme ausgeben, dich EXTREM gesund ernähren, nicht rauchen, nicht trinken, viel Sport machen. Einfach um das Dilemma auszugleichen und ein gutes Leben zu haben. Um nicht länger darüber nachzudenken.

Wenn Leute dann denken, man wolle sie übervorteilen, was ja unbewusst häufig das Grundrauschen von Mobbing ist (was die meisten nicht wissen, weil sie denken: gemobbt wird, wer nichts hat), dann ist das ein wirkliches Problem. Menschen acten in ihrem Leben halt nicht alle auf dieselben Grundvoraussetzungen hin. Auch davon handelte der Hamburger-Schule-Streit. Ich darf aber schon die Musikrichtung machen, die ich mir nachweislich mit-ausgedacht habe?

Und immer wieder Backstage

Kulturförderung

Ein Thema, das Sandra und mich schon das ganze Jahr umtreibt, Stichwort Kulturförderung. (Diesen Absatz schrieb ich schon bevor das Thema „Kürzungen in der Kultur in Berlin“ zum Tagesthema wurde):

Sandra: Wir haben (fast) alle Förderungen, die wir bekommen haben, vor allem erhalten, um anderen Artists zu helfen. Soweit, so fair. Und natürlich haben wir das gerne gemacht, und es hat auch uns selbst geholfen und inspiriert. Solidarität mit anderen macht jede von uns auch froh! Aber für The Doctorella haben wir von der dies & letztjährigen Jury (Behörde kann nix dafür, klar) halt keine Förderung bekommen. Fünf Bewerbungen wurden negativ beschieden, obwohl Bohemian Strawberry das einzige Berliner Label von female* Artists für female* Artists ist.

The Doctorella trifft Die Toten Crackhuren im Kofferraum

Umso geiler, dass wir den Release trotzdem auf diesem Turbo-Level durchgezogen haben, noch dazu so erfolgreich. Wir feiern das! Unsere Platten gibt`s in vielen Läden, wir haben eine für Indie-Verhältnisse hohe Stückzahl hergestellt & auch schon verkauft. Die Konzerte sind gut gebucht und besucht, paar sogar ausverkauft, Presse extremst positiv bzw. weitgehend sogar richtig euphorisch. Dazu nachher noch mehr als 98 Prozent positive Rezensionen, würd ich sagen! Also alles Banane. Oder Erdbeere?“

Kersty: „Seitdem wir für die Doctorella-Platte keine Förderungen bekommen habe, wurde ein Ausspruch von mir für uns zu einem geflügelten Wort: „Wenn du der Aktivistin ihr eigenes Projekt nicht gönnst, dann nimmst du ihr den Kampf weg, dann willst du eigentlich gar nicht, dass sie ihre politischen Ziele erreicht.“

Sandra: „Kersty, ich verstehe jetzt, was du meinst mit: „Man muss die Dinge immer auch von ihrer positiven Seite sehen.“ War etwa auf der legendären The Velvet Underground & Nico Platte, bestes Album aller Zeiten, das Logo einer Förderbehörde abgedruckt?“

Kersty: Seitdem ein Kritiker neulich unsere „Mondscheinpsychose“ mit dem legendären ersten Velvet Underground Album verglichen hat und schrieb, wir seien sowas wie deren „deutsche Ausgabe“, erwähnt Sandra andauernd diese Band. Ich muss aber auch zugeben, dass das Andy-Warhol-Album schon seit ich denken kann ihre Lieblingsplatte aller Zeiten und Lou Reed ihr größtes Songwriting-Vorbild aller Zeiten ist.

Down Girl

Kersty: Good Sister, Bad Sister, was kommt als nächstes? 🙂 Als aufmerksame Leserin von Kate Mannes „Was ist eigentlich Misogynie?“- Schrift „Down Girl“ (suhrkamp), weiß ich ja, dass es die bösen Schwestern sind, die bestraft werden, weil sie zu viel wollen: und nicht automatisch alle Frauen! Das müssen auch Männer noch begreifen. Sie haben ja gar nichts gegen Frauen. Ja! So lange die ihnen nicht die Arbeitsplätze und den Selbstrespekt wegnehmen.

Wir wissen, was Frauen blüht, die in kleinen Königsdisziplinen ( Popjournalismus, Rockmusik, Pop-Literatur) scheinbar mit Männern um männlich codierte Privilegien – wie z.B. Respekt, Ansehen, Ruf, Stellung, Geld – konkurrieren.

Sandra: Ich möchte jetzt auch einmal etwas in den Worten von Kate Manne sagen:

Es ist mir natürlich nicht entgangen, dass ich in meinem Leben viel männlichen Stolz zerdeppert habe. Denn Sexismus ist ja eine Ideologie, die die natürliche Überlegenheit oder Unterschiedlichkeit von Männern gegenüber Frauen betont. Aber sie muss auch immer wieder durchgesetzt werden. Es sind durchaus einzelne Akteur:innen, die sowas dann mit misogynem Eifer machen. Misogynie ist eine Handlung, Sexismus ist die Ideologie dahinter. Wir wollten ja auch die Band fragen, für dieses Diary: wie versteht ihr eigentlich diese Zeile in unserem Song Wenn wir tot wären?: „Sind wir auf Festivals, sind wir im Radioprogramm, oder stört sich daran, die Misogynie als Exekutivorgan?“

Kersty: Wir haben viele Leute positiv überzeugt: und die euphorischen Erlebnisse und Reaktionen überwiegen bei weitem die negativen: aber natürlich haben wir auch viel misogynen Hate abbekommen, vor allem in den Neunziger & Nullerjahren. Anders ist feministische Pionierarbeit nicht zu haben. Das halten wir schon seit Ewigkeiten aus. Da stehen wir schon sehr lange drüber oder drin. Jedenfalls nicht daneben. Denn wir stören schon wirklich lange misogyne Eiferer und Eifererinnen (in mehreren Feldern der Kultur) bei der Verbreitung sexistischer Standards. Viele sind es leider immer noch nicht gewohnt, dass Frauen in ihren Kontexten mal die Rebellen, die Störenfriede sind. Sie sind noch mit diesem Keroauc-Ideal sozialisiert: vom braven Mädchen, das sich aufopfert und vom wilden Kerl, der in die Welt hinausgeht, um die mütterliche Repression hinter sich zu lassen. Gestört hat also auch: Sandras frühere Band Parole Trixi, die als erste deutschsprachige Riot Grrrl Band gilt und von 1998 – 2004 in Hamburg existierte.

Es ist deshalb bedauerlich, dass Felix Bayer in dem schönen SPIEGEL-Porträt es so aussehen lässt, als ob wir auch heute noch mit The Doctorella, einer Band, die 2012 ihr erstes Album („Drogen und Psychologen“) veröffentlichte (und die aus zwei ausgebildeten Sängerinnen besteht), genauso anecken würden wie seinerzeit Sandra mit Parole Trixi. Um das Anecken zu beweisen (oder warum auch immer) zitiert Felix Bayer fast nur aus 22 Jahre alten Live-Reviews über Parole Trixi („der Vorgängerband von Doctorella“). Medienzitate also, die er aber in gleichen Teilen auch The Doctorella zuordnet. Die Rezeption der beiden so unterschiedlichen Bands wird in eins gesetzt. Aber nur ein Bandmitglied von allen vier war bei Parole Trixi.

Die Platten von (The) Doctorella wurden aber immer schon zu 90 Prozent positiv besprochen, die neue zu 98 Prozent. Das dürfen wir hier in diesem Tour-Diary schon mal erwähnen. Denn wenn ein Journalist es darauf anlegt, „die Grethers“ auch als Medien-Phänomene zu beschreiben; dann darf man bitte kritisieren dürfen: warum wird bei überwiegend positiver Resonanz fast NUR aus den negativen zitiert? Und da auch noch beinahe nur aus Live-Reviews! Weiß doch jede:r, dass Live-Kritiken von Bands im Club immer eher negativ sind. Bands LIEBEN Live-Kritiken, müsst ihr wissen! Wenn ich sage, dass eine Band oft und heftig kritisiert wurde, dann denke ich einfach auch an Plattenkritiken und Artikel und ich assoziiere auch die Gegenwart oder jüngere Gegenwart da hinein Ganz bestimmt würde ich, wenn ich den Artikel von Felix Bayer unbeteiligt lesen würde, nicht denken, dass es sich dabei größtenteils um 22 Jahre alte Live-Reviews handelt.

Sandra: Okay, es gibt in Deutschland kein System, das die Prozentzahl von positiver und negativer Platten-Kritik genau ausrechnet, wie in USA. Das wäre in diesem Fall aber auch nicht vonnöten gewesen. Deshalb, wie ich weiß, schrieb Felix Bayer auch nicht „Platten“, sondern „Musik“.

Kersty: Ach egal. Ums Rechtliche geht’s doch eh nicht. Sondern um die Frage, warum er das so darstellen wollte. Bzw. warum er die folgende Realität ausblendete:

Das dritte „The-Doctorella“-Album „Mondscheinpsychose, Bordsteinrose“ erhielt schätzungsweise 98 Prozent positive bis euphorische Reviews und Artikel. Schon am Tag der VÖ am 20.09.24 selbst waren wir 4 x irgendwo bei den „Platten der Woche“ oder „Record of the week“(ha, kaput mag!), einmal sogar „Platte für die Ewigkeit.“ Auch in so Zeitungen, die völlig außerhalb unserer Bubble liegen, wie „Märkische Allgemeine“ oder „Brandenburger Bote“.

Ich verlinke hier mal den Pressespiegel, dann kann sich ja einfach jede:r selbst eine Meinung bilden. Pressespiegel zu The Doctorella-Album „Mondscheinpsychose, Bordsteinrose“ (VÖ war am 20.09.24) | the doctorella

Sandra: Da möchte ich mich gerne einmal selbst aus dem Hamburger-Schule- Streit leicht abgewandelt, und auf diesen seltsamen Vorgang hier übertragen, zitieren dürfen.

 „ABER WENN EINE AUSDRUCKSSTARKE, LYRISCHE INDIE-ROCK-BAND MIT FEMALE* MUSIKERINNEN  MAL DURCHKOMMT, DANN DARF DAS HALT EINFACH SO NICHT GEWESEN SEIN.“

Kersty: Man kann das doch auch alles positiv-neutral – will sagen: „objektiv“ – darstellen: Der SPIEGEL-Artikel von Felix Bayer vom 9. November 2024, Nr 46, 4 Seiten, auch im Print (Überschrift: Legenden von Berlin) ist erstklassige Science-Fiction, nur umgekehrt. Der Autor schöpft mitunter aus der eiskalten Energie der Neunziger-und Nullerjahre und überträgt sie 1:1 auf unsere Gegenwart. Like Popfeminismus never happened. Like 2020er-Jahre-Feminismus im Pop never happend. Oder doch? Als hätte Trump die Wahl erneut gewonnen.

Sandra: Im Pop-Feminismus geht es auch um den Abbau von Vorurteilen und vor allem um eine Feier. Nicht nur um die Schattenseiten. Wie ein kluger User auf FB kommentierte.

Spiegel-Fotosession mit Katja Ruge

Danke, DER SPIEGEL

Kersty: In dem Porträt steht glücklicherweise aber auch das hier: „Zweimal fand der Slutwalk Berlin statt. »So wie es Punk zwei Jahre gab«, bemüht Kersty Grether eine pophistorische Analogie, »danach konnte New Wave kommen.« Das einmal gesagt zu haben, in so einer großen Öffentlichkeit, das reicht mir. Welcome back Slutwalk in der Geschichte of Feminism.

Sandra: „Sollte man einen SPIEGEL-Artikel überhaupt kommentieren, als Betroffene?“

Kersty: „Wenn man das ausgewogen und fair hinkriegt, warum nicht?“

Sandra: „Als Expertin für Genderfragen im Pop, fällt mir wieder folgendes auf: in Deutschland muss die Musikerin sich entscheiden ob sie Indie und weitgehend ungehört bleiben will. Oder prominent, und als Strafe dafür geht es null um die Musik. Oder die Musik wird sogar verhetzt. Da rede ich jetzt nicht unbedingt über mich selbst. So schlimm ist der Artikel nicht. Sagen ja auch alle. Aber man steht ja auch in einer Tradition der verachteten Vorbilder.“

Kersty: „Ich habe gefühlt meine halben Nullerjahre damit verbracht, Mia, 2raumwohnung und Wir Sind Helden gegen die Indie-Crowd zu verteidigen, vor und hinter den Kulissen des Musikgeschäfts: bei MTV, in der ZEIT, bei INTRO, bei Viva, in der taz. Ich habe mir auch damit Feinde gemacht. Ich darf mich selber so viel verteidigen wie ich will, so viel wie ich schon andere (reichere, erfolgreichere, aber auch unbekanntere, ungesehenere oder jüngere) verteidigt habe. Und The Doctorella nehmen natürlich aus beiden Welten / Indie & Mainstream, nur das Beste, ist doch klar. Wir gönnen das ja auch nachweislich allen anderen.“

Sandra: „Gleich treffen wir Clara Drechsler. Sie hat mich mal mit liebevoller Besorgnis als „Solidaritätsmonster“ bezeichnet. Wie passt das zu meinem neuen Image als Noel Gallagher? 🙂 Ich muss da erst noch reinwachsen. Das wird mir aber nicht so schwer fallen. Daniel schickt gerade eine WhatsApp-Nachricht: die VVK-Zahlen hätten sich heute Nachmittag verdreifacht. Woran das wohl liegt? Runter vom Solidaritäts-Mofa also und rauf aufs Ego-Gaspedal.“

Kersty: „Es ist aber auch ein bisschen viel Ehre, wenn einem die Herrschenden ihre negativen Eigenschaften auch noch überstülpen, auch noch schenken wollen. Da weiß man ja gar nicht mehr, wohin mit den Händen. Aber was den VVK betrifft, da hast du Recht, das konnten wir zu diesem Zeitpunkt im Cafélandhaus in Köln noch nicht wissen: es würde so weitergehen, verdreifacht und so. Danke, DER SPIEGEL!“

Nach einer Odysee durch Köln, ich erkenne die Stadt nicht wieder, scheinbar fahren alle Bahnen heute in eine andere Richtung als früher, dann doch ein Taxi zur Asimmetric Bar in Ehrenfeld genommen. Es lohnt sich nicht, am Taxi zu sparen, ich sag es immer wieder. Man steht irgendwo am Hansaring und verpasst seinen eigenen Soundcheck.

Sandra: Als wir die tolle Asimmetric Bar betreten, denke ich: Auf Tour sein ist hartes Arbeiter:innenleben. Es muss jetzt geschuftet, rangesoundet, ausgecheckt, ausgesehen, schnell noch was gegessen, Gästeliste geschrieben, vor allem aber Setlist verinnerlicht werden.

Kersty: Sascha ruft eine kleine Bandkonferenz ein. Niemand darf ausgiebig essen gehen, bevor nicht die letzten Essentials des internen Instrumentenwechsels, und die kleinen Verbesserungen an der Setlist vorgenommen wurden. Haben das jetzt alle verstanden?

Sandra: Ich bin immer so froh, wenn es wieder um die Musik geht. Sascha wirkte so beseelt und aufmerksam – ich war ihm so dankbar. Ich sage zu Gordon: Du musst dir doch gar keine Sorgen machen, dass wir euch keine Zeit lassen, bis ihr die Instrumente getauscht habt, Kersty redet doch so gerne auf der Bühne.

Kersty: Asimmetric Bar liegt in einer richtigen Caféhaus-Straße. Und wenn man ganz weit nach vorne zum Horizont blickt, sieht man am Himmelszelt das „4711“-Gebäude. Und das Café um die Ecke heißt Schwesternherz.

Sandra: Venloer Straße. Da war die Druckerei vom STRAIGHT, da waren hier noch keine Cafés, ich erinnere mich daran, wie ich stundenlang durch ein Industriegebiet geirrt bin. Oder war das die Vogelsanger Straße? Egal. Heute ist unser schönster Tag! Alle tollen Leute haben sich scheinbar verabredet, gleichzeitig die Asimmetric Bar zu stürmen. Ich weiß gar nicht mehr, wen ich zuerst umarmen soll.

Plötzlich stehen sie einfach alle vor mir: Clara, Harald, Andrea, Thomas. Dann auch die tolle Musikerin Stefanie Schrank. Wir sind uns nie begegnet, aber kennen uns schon immer. Sieht sie auch so.

Kersty sagt: „Endlich hast du mal eine neue Zwillingsschwester, Sandra“

Sandra: Stefanie hat im „Saint White Male“ Video mitgespielt und die Zeile „Hahaha, Vater kriegt das größte Steak, frag mich bitte nie mehr, seit wann ist es ein Privileg ein Mann zu sein, ha“ so sarkastisch-hinreißend im Hobbykeller-Heimwerker-Anzug performt, dass sie mir wirklich sofort vertraut war; inmitten der langjährigen Freund:innen, als wäre auch sie schon immer da gewesen.

Kersty: Clara, jung wie immer, will wissen, ob wir jetzt endlich den Button für Harald mitgebracht haben, den wir ihm 2016 beim letzten Album versprochen hatten.

Wir werden Buttons herstellen lassen, auf denen steht: für Harald forever <3, I swear! So much shame on us. Wir haben gar keine Band-Buttons, um ehrlich zu sein. Und das als „The-Band“, schwach.

Sandra: Um es wieder rauszureißen, drücke ich ihm schnell das neue Vinyl in die Hand. Harald, treffsicher: „Sieht aus wie ein Metal-Cover“ Yay!! Das hatte ich heimlich auch schon mal gedacht. „Hair-Metal“, ergänzt Harald noch. Wir lachen.

Kersty: Love Clara und Harald. Auch als Autor:innen und Übersetzer:innen. Sie haben gefühlt alle meine Lieblingsbücher vom Englischen ins Deutsche übersetzt: High Fidelity von Nick Hornby, Just Kids von Patti Smith, die Tagebücher von Kurt Cobain. Was für ein Segen, dass es diese beiden gibt, die uns wirklich mit den Originalen vertraut gemacht haben. Wer würde das denn sonst können? Haben sie eigentlich auch „About a boy“ übersetzt? Jahrzehntelang mein Vorbildbuch, für ich weiß nicht was alles.

Sandra: Aber am tollsten sind sie als Liebespaar. Schon immer. Ich trete in Köln nicht auf, wenn Clara und Harald nicht in der ersten Reihe stehen. Es ist mir die allergrößte Ehre.

Kersty, die sich mittlerweile klassisch für Ledermini, Netzstrumpfhose und Glitzerengel-Shirt im Brat-Style entschieden hat, sagt zu Clara: „Das mit der Bewunderung für dich, das geht nie weg. Das hab ich jetzt grad immer noch.“

Sandra: Thomas Venker muss auch da sein, sonst tret ich in Köln auch nicht auf. Während dem Autritt merke ich, wie er auf einen Hocker steigt, um Fotos zu machen. Auf seinen Fotos wirkt der Laden noch voller als er ohnehin schon ist. Freunde sind halt Menschen, die dir gönnen. „Ich hol dich aus dem Irrenhaus“ wird er später mit Wire vergleichen. Vielleicht weil ich den Song folgendermaßen angesagt hatte:

„Auch Frauen in Deutschland können Indierock-Hits schreiben.“ 

Kersty: Das Konzert macht viel Spaß und danach finden wir endlich heraus, wie man das neue dunkleblaue Album am besten signiert. Ein Fan hatte schon einen weißen Edding dabei. Von nun an immer! Wir übernachten in einem riesigen Wohnhaus, das wir ganz für uns haben, jedes Bandmitglied könnte praktisch in einer anderen Etage schlafen, die Treppen sind steil, die Zimmer bunt und eine Hängetopfpflanze hängt ihre Blätter vom 4. in den 2. Stock herab wie Rapunzel einst ihre Haare.

Zunächst ist es sehr kalt im 3. Stockwerk, in dem mein Zimmer liegt. Mit einer gewissen Verzweiflung stehe ich in dem Raum und schaue auf das zerknüllte Gewirr aus Decken. Na gut, man kann’s ja mal probieren. Ich drehe die Heizung auf. Schon nach fünf Minuten ist es kuschelig-heißt, so schnell war dieser Raum zu heizen. Ist ja wie im echten Leben, wenn man seine echten Freunde und Freundinnen trifft. Im November auf Tour gehen ist besser als im Oktober. Weil überall drinnen die Heizungen schon angestellt sind.

10.11. 24: Wiesbaden – Schlachthof
Live through this

Am nächsten Morgen besteht Asi drauf, dass wir als Band alle zusammen frühstücken. Er zeigt mir Videos der Bands, die er sonst so bucht: „Ich find euch gut, aber ihr seid für meinen Geschmack zu kommerziell,“ sagt er. „ Bei ihm spielen normalerweise viel abgefahrenere, experimentelle Bands. Leute, die ihre Instrumente selber zusammen bauen und so. Industrial-Style. Für mich gerade das größte Kompliment. So unterschiedlich sind die Betrachtungsweisen und Hörgewohnheiten.

Sandra: Anton Stech machte einen Post, in dem er über unser Konzert schrieb: „unorthodoxer Krautpunk-Schlager-Krachpop. Diese Band ist ganz sicher eine absolute Experience…“ Ich beginne die Rubrik „Musikstil-Rosen“ für unsere Insta-Highlights, und habe ein neues Tourhobby: Insta-Storys mit Live-Schnipseln und Zitaten über Doctorella basteln. Das Tollste daran: ich kann meiner unausgelebten Grafik-Leidenschaft nachgehen & tue noch was Gutes für die Band dabei. Ich LIEBE die funkelnden, fiebrigen Grafik-Tools bei „Insta-Story“: ein Fest für Grafikmaniacs ohne großes Know-How.

Vor dem Schlachthof in Wiesbaden

Kersty: Wir fahren zurück zum Club und laden die Instrumente und Backline ein. Jedes Teil hat seinen festen Platz im Rücksitz von Daniels Auto. Dann geht`s schnurstracks nach Wiesbaden. Ich will mich endlich mal wieder an der frischen Luft bewegen. Auf dem Gelände des Schlachthofs ist das möglich. Ich komme zu spät zum Soundcheck, weil ich mich zu lange draußen herumgetrieben habe. Gordon sagt, die Löwin läuft in ihrem Käfig auf und ab. Neulich noch habe ich mich beim Laufen danach gesehnt, auf einer Bühne zu stehen und eine Show zu machen. Jetzt ertappe ich mich dabei, wie ich mich auf der Bühne danach sehne einfach durch den Park zu joggen.

Ich bin echt froh, dass ich meine musikalische Ausbildung schon hinter mir hatte, als ich leicht sportsüchtig wurde. Ich verstehe jetzt, dass es Menschen gibt, die wenig denken, wenig lesen. Einfach nur: wann mache ich wieder Sport. Das sind die Leute, die ich in meiner Jugend gehasst habe. Die Sportlichen. Wie sagte einst ein weiser Mann: „At the end we become all that which we most despise.“ Sandra schimpft ein bisschen mit mir. „Jetzt beteilige dich halt auch mal am Bühnenaufbau.“ Daniel ist hingegen netter und wir holen gemeinsam meinen Synthie mit allem Drum und Dran aus dem Auto. Wir alle freuen uns aufs Abendessen. Es gibt Pizza im großen Aufenthaltsküchenraum des Schlachthof. Hier könnte man Konferenzen abhalten, sage ich zu Sascha. Oder Videos drehen. Aber wir brauchen keine Konferenzen mehr, alles ist besprochen, endlich sind wir wirklich so eingespielt, dass wir loslegen können, ohne viel darüber zu reden.

Sascha: „Wovon wir nicht genug kriegen können: Kaffee und Pizza. Wahrscheinlich sind Bands, bei denen Alkohol so gut wie keine Rolle spielt, einfach echt gut im Essen.“

Gordon sagt: „Die Leute von den Clubs wundern sich schon, weil wir so wenig Alkohol trinken. Am Ende sind alle Biere und Weine noch im Kühlschrank, nur die Wasserkiste ist leer. Wir rauchen und trinken alle nicht.“

Sandra: „Wie passt das zu unserem neuen Image als die deutsche Ausgabe von The Velvet Underground? Was ist an uns Rock’n’Roll?“

Kersty: „Wir brauchen keine Drogen um ein extremes Leben zu führen. Wie meine Romanfigur Rachelle Engel an einer Stelle bemerkt: „nur die Beschränkten sind wirklich unbeschränkt.“ Wir alle stehen zu unserem Begehren und müssen es nicht erst durch die Hölle schicken.

Sandra: „In Wiesbaden läuft „Live through this“ von Hole als Pausenmusik. Kersty sagt, es gibt nichts Unkünstlerischeres, als auf eine Bühne zu gehen und bei der Musik mitzuspielen, die gerade noch läuft. Ich verstehe zwar nicht warum, aber unterdrücke diesen Impuls heute. Es fällt mit ehrlich schwer, bei diesem Album! Ich erinnere mich, wie ich einmal 12 Stunden versuchte, diese Musik zu besprechen, aber blockiert war, denn sie löste in mir den Wunsch aus, selbst Musik zu machen. Aber Daniel hat unsere Coverversion vom Hole-Klassiker „Miss World“ von der Setlist gestrichen. Nicht mit ihm! Was Blöderes, als bei der Zugabe einen fremden Song zu spielen, könne es doch gar nicht geben.

Daniel: „Du willst doch nicht, dass die Leute von deinem Konzert nach Hause gehen und gar nicht Dein Lied pfeifen.“

Wir waren alle baff, so hatten wir es freilich noch nie gesehen. Überhaupt bringt Daniel manchmal noch so ´nen ganz anderen Vibe rein. Er hat mit Hamburger Schule bzw. mit deutschsprachiger Musik überhaupt nichts am Hut. Er kann es nicht ernst nehmen, es ist ihm immer noch zu deutsch.

Sandra: „Wie oft hab ich schon gesagt: aber du willst doch nicht in ´nem Land ohne Gegenkultur leben.“

Und Daniel dann immer: „Aber es gibt doch genug Leute, auch aus anderen Ländern in Deutschland, die Gegenkultur machen. Die deutsche Sprache ist nicht die Sprache für Popmusik.“

Vielleicht hat er deshalb unsere „Mondscheinpsychose“ so würdevoll und so kühn produziert. Weil er einerseits wirklich wollte, dass sie verstanden wird. Und andererseits hat er auch die Möglichkeit mitproduziert, dass die Lieder nur von den emotionalen Bögen der Musik her verstanden werden können.“

Kersty bedankt sich bei den Leuten, dass sie es am Sonntagabend in den Schlachthof geschafft haben: „Ihr hättet ja auch zuhause bleiben und Caren Miosga gucken können. Ich kenne sie. Wenn daraus mal nicht der Wunsch spricht, selber zuhause zu sitzen und Caren Miosga zu schauen! Sie geht sogar noch einen Schritt weiter und erörtert mit dem Publikum, was wohl das Thema heute war. Trump oder Ampel-Aus?

Ich muss sagen, ich könnte das nicht. Meine Gedanken sind auf der Bühne nur bei der Musik. Die von Sascha scheinbar auch. Unser heimlicher Sound-Director hat den ganzen Auftritt heimlich mit seinem Handy aufgenommen.

Wiesbaden wird zur Blaupause! Sascha, Master of Homerecording, Rhythmus, Effektgeräte, beste Hemden und natürlich Gitarrentornado, war zufrieden mit uns.

The Doctorella live

Berlin – Off days und
14.11.24: Potsdam, radioeins

„Alles muss repariert werden“

Sandra: Jetzt haben wir erstmal ein paar Tage Pause, bis dann in Berlin die zweite Record-Release-Party steigt. Brancheninsider:innen haben uns davor gewarnt innerhalb eines Monats zwei Release-Konzerte und drei Release-Lesungen zu machen.

Aber wir sind halt auch Veranstalter:innen und glauben, dass es noch eine zweite Sichtweise auf das berühmte „Sich-Rar-Machen“ gibt. Nicht alle Leute, die uns sehen wollen, haben am 25. Oktober um 19.30 h Zeit und Lust in die Kantine am Berghain zu kommen. Warum also nicht noch einen zweiten Termin anbieten? Werden wir diesen Wagemut bereuen? Noch wissen wir es nicht. Ich frage extra beim Schokoladen und bei wonderful Kitty Solaris (in deren Lofi-Lounge wir auftreten!) nicht nach, wie viele Tickets schon verkauft sind. Ich will mich noch ein paar Tage anstrengen müssen und mache noch eine kleine Plakat-Klebe-Tour in Mitte. Wofür haben wir schließlich die A1-Plakate gedruckt! Ich hatte vor lauter Tourstress vergessen, den Plakatierer anzurufen, nun ist es zu spät, zwei Tage vorher. Oder ich rede mir das ein: Manchmal denke ich, ich bin so schrecklich Indie, ich will plakatieren; ich mache diese Sachen leider richtig gerne. Plakatieren in Mitte, seit jeher eine meiner Lieblingsbeschäftigungen.

Selbst als wir für die Genie-Reihen und für Doctorella längst Plakatierer hatten, hab ich in Mitte noch „nachplakatiert“. An der U-Bahn Rosenthaler Platz flattert jetzt eine Mondscheinpsychose im diesigen Abendwind. Niemand konnte je sagen, ob Plakatieren hilft oder nicht. Aber man hat das Gefühl, dass man was tun kann und nicht ohnmächtig ist.

Aber ohnmächtig waren wir eigentlich eh nicht, denn kaum zurück in Berlin, hatten wir eine Einladung zu radioeins. Und das spült immer Leute auf die Shows. „Saint White Male“ hat sich zu unserer Radio-Single entwickelt: ist quasi unser böser Weihnachtsmann. Es gab ein erhellendes Gespräch mit Sophia Wetzke. Wir wurden später öfters darauf angesprochen & haben deshalb zwei Highlights daraus abgetippt:

The Doctorella bei radioeins (& in der audiothek) | the doctorella

20.11. 24: Berlin, Schokoladen
Die animalischen Anteile der Opernsängerinnen

Kersty: Ein echtes, aus tieferen Etagen des Herzens kommendes Lächeln, huscht über das Gesicht des Taxifahrers, als ich sage, „wir wollen in den Schokoladen in Mitte.“ Zuerst denke ich, er ist auch Indierock-Fan und kennt diesen allseits beliebten Superliveclub natürlich von zahlreichen Besuchen. Aber dann fragt er gewissenhaft nach: „Ihr meint so einen richtigen Schoko-Laden in Mitte?!“ „Nein, wir meinen den Rockschuppen in der Ackerstraße. Eine Musik-Location.“ „Ach, so“, jetzt klingt er etwas enttäuscht, das Lächeln in seinem Face hat sich nicht halten können: „Ich dachte ihr meint so einen richtigen Laden, wo es nur Schokolade gibt, einen Schokoladen, der Schoko-Laden heißt.“

„Nein, leider nicht.“ Ich schweige betreten. Sandra steigt ins Taxi ein, und hievt ihre Instrumente auf den Rücksitz. Sie wirkt nicht gerade erfreut. Schlechte Laune, verständlicherweise, bei all dem Stress? Das geht aber nicht. Ich werfe ihr Blicke zu, die sagen sollen, dass der Taxifahrer echt nett ist, und sie jetzt nicht wegen irgendetwas meckern soll. Aber sie will gar nicht meckern. Sie will, dass wir zügig losfahren: „Einmal Schokoladen in Mitte, Ackerstraße 169, bitte.“

Neben dem Schokoladen gibt es wirklich einen neuen süßen Shop. Exactly an der Ecke Torstraße/Ackerstraße, wo sich zuvor diese leicht altmodische, immer schon um 18 Uhr schließende Bäckerei befand, winkt mir ein holzvertäfeltes echtes Großstadtcafé zu –mit bizarren Teekartons und Speisen in Farben und Formen, die ich noch nie gesehen habe. Die Kaffee-Connaisseuse fühlt sich unwiderstehlich angezogen: „Ich gehe da mal rein, während ihr ausladet.“ Um nicht zu sagen: es zieht mich da hinein. Sandra sagt: „Das kannst du gerne machen, die Band steht ohnehin im Stau. Die sind noch gar nicht da. Bring mir einen Hafer-Cappuccino mit.“ Über so etwas kann ich mich freuen wie ein kleines Kind. Ich darf machen, was ich will. Ich habe Pause. Auf Tour bemerkt man erst, was für ein angenehmes Leben man normalerweise hat.

Daniel Benyamin spielt nicht nur bei The Doctorella – sondern auch solo bei den Konzerten

Später: Im Backstage im Schokoladen. Sandra und Sascha sitzen auf der Couch mit der bestickten Wolldecke, in der freundlichen Kellerbackstagewohnung, und reden sich die Köpfe heiß. Soundcheck ist done, Kartoffelsalat und Brezeln sind verzehrt, alle Haargummis und Handcremes wieder aufgetaucht, die Jacken glitzern, die Gedanken sind aufgetaut. Der Laden ist zum Bersten voll, Daniel Benyamin spielt sein Set. Ich sehe fast nur Leute, die ich nicht kenne, und lächle ein paar bekannten Gesichtern zu. Paula vom „Dragons eat everything“- Blog, die gleich zu Beginn des Releases dieses tolle Interview für Radio Alex gemacht hat, zum Beispiel. Miriam Glinka, die unserem Albumcover den gelb-schimmernden Mondscheintouch gab. Ich schwebe die Treppen nach unten. Ich glaube, die beiden haben noch nicht begriffen, dass jetzt Stage, ja sogar Star-Time ist, und sie in wenigen Minuten in einem ausverkauften Schokoladen auf der Bühne stehen werden. Oder ist es nur so, dass ich heute die Aufgeregte bin? Ausnahmsweise.

„Was hängt ihr hier rum, da oben tobt der Bär, ist euch das eigentlich bewusst?“ will ich sie aus ihrer ernsten Unterhaltung über den Unterschied zwischen Kultur und Politikjournalismus locken. Aber sie plaudern unbeeindruckt weiter. Wahrscheinlich gehe ich recht in der Annahme, dass wir so gut eingespielt sind, dass mittlerweile jede Aufregung von ihnen abgefallen ist. Im Gegensatz zu der super-vorbereiteten Musik habe ich nicht das geringste Konzept von meinen Moderationen. Der vehemente Smalltalk zwischen den Songs wird immer komplett improvisiert. Ich überlege mir ein inneres Stichwort, vielleicht werde ich etwas aus dem Gegensatz von Wärme und Wintereinbruch machen, und dann einfach mal raushauen?

Auch Legenden (oben Sandra, darunter Kersty) müssen backstage ausharren …

Zum Glück habe ich mich in den letzten Tagen wieder an meine geliebten Gesangsübungen angeschmiegt, oder die sind zum Kuscheln zu mir gekommen? Jedenfalls habe ich mal wieder auf die Idee gesungen, dass die Zunge ein stolzer Pferdekopf ist, und ohnehin nicht nur aus dem Lappen besteht, der im Mund liegt, sondern auch noch einen vertikalen Teil hat, einen Zungengrund, der mit dem Mundboden verbunden ist. Meine Gesangstechnik arbeitet mit bunten Bildern und physiologischen Tatsachen. Entspricht meiner Natur. Genau wie meine Zunge. Ich sehe sie auch als eleganten Fächer, der Klang zum Vibrieren bringt. Die Natur der Zunge ist nach oben orientiert. Der Mensch hat seine Wurzeln ja im Kopf, im Gegensatz zu Bäumen, die in der Erde wurzeln. Oh I luv this! Ich schwöre auf den Mittelfrequenzbereich, um den Stimmklang zu festigen. Nicht kopfhoch, nicht brusttief, auch in der Mitte des Klangspektrums kann man sich viel Energie holen, wenn man Mundboden und hinteren Rachenbereich und eben Zungengrund als Resonanzraum nutzt. Das hat mir gestern so eingeleuchtet, dass meine „Uh-Oh-Uhs“ mich richtigggehend erlöst haben.

Das Witzigste ist: diesen Zustand nenne ich meinen „inneren Frosch“. Denn das ist, was Frösche machen: sie tönen im Mittelfrequenzbereich – wenn man sich noch die Bläschen vorstellt, die beim Quaken entstehen, kann man den Klang in sich mit etwas Glück auf die Ohren ausdehnen. Dann hat man ein magnetisches Feld. So denke ich mir Mut an, während ich mir noch einen Pfefferminztee koche.

Wenn die Menschen, die sich nicht mit Gesang beschäftigt haben, doch nur wüssten, was ihnen entgeht! Wissen sie überhaupt vom eleganten Klang der Frösche, überlege ich. Denn gerade Opernschülerinnen müssen sich ihren animalischen Anteilen stellen. Ich habe, glaube ich, in der Musikerinnenausbildung selten etwas so genossen wie die Tierstimmen-Seminare in Lichtenberg, im hessischen Odenwald. Aber hey, jetzt habe ich auf dieser Tour etwas Neues, Tolles für mich entdeckt, was mir im Moment sogar mehr Spaß macht, als einem fauchenden Kätzchen ins Wort zu fallen oder den reinen Klang von großen Hunden zu imitieren, und das ist: Schlagzeugspielen oder besser gesagt: trommeln. Ich darf ja bei einem Song von Daniel mit zwei Sticks auf zwei Becken hauen, während Gordon den Schellenkranz schwingt. „Das waren die zwei schönsten Minuten meines Lebens“ habe ich in Wetzlar, direkt danach, auf der Bühne ausgerufen; und das ist schon zum geflügelten Wort auf Tour geworden.

Ich wette, die anderen Boys and Girls überlegen sich, was die schönsten zwei Minuten in ihrem Leben waren. Oder okay bleiben wir mal bei diesem Jahr:

„Was waren die zwei schönsten Minuten, in diesem Jahr, für dich, Daniel, Gordon, Sandra, Toni?“, werde ich sie später in Chemnitz fragen.

Daniel: Die zwei schönsten Minuten waren die, als ich feststellte, dass ich so viele zwei schönsten Minuten haben kann wie in ein Jahr passen. Wie wenn man einen Wunsch frei hat und sich damit tausend freie Wünsche wünscht.

Gordon: Two of the this yeat’s most memorable and nicest minutes were when, after an emergency operation, I realised it was a success and was pushed around a hospital at midnight on a trolley in a psychedlic medical drug haze. Dreamlike.

Toni: Als ich auf einen kleinen Schiff, oben am Steeg ein Stuhl hingestellt habe, dabei nach einem Wunsch meines Klienten, Metallica mit angehört habe und ihn dabei sein Gesicht rasiert habe. Währenddessen waren wir auf den Weg nach Harlem und alle Leute links und rechts haben uns gesehen.

Sandra: Der schönste Moment, die schönsten zwei Minuten im Jahr waren actually im Schokoladen, als ich die Treppen aus dem Backstage hoch lief und du sagtest: Achtung, kein Schreck kriegen, und ich die Türe öffnete und der Laden war sold out, und das am Mittwochabend. Und ich hatte bis zu dem Zeitpunkt versucht, nicht darüber nachzudenken. Und dann diese Energie, die vom Publikum kam. Ich hatte nur Spaß auf der Bühne, alle Anstrengung fiel von mir ab. Endlich.

Sandra in ihrer Lieblingsjacke

22.11.24: Esslingen – Dieselstraße
Good Sister, Bad Sister

Sandra: Ich bin nie so schlimm wie am Bahnhof. Diese Zugtickets, die nur für den einen Zug gelten. Ich schaue 5 x auf die Abfahrttafel, ist es immer noch Gleis 3? Und der flixtrain wieder 30 Min später, man hätte den Wecker darauf stellen können. Und der hat heute um 6 Uhr geklingelt! Dann weiß man wieder nicht, wo ist Zugspitze, wo Zugende, wo warten. „Nie mehr flixtrain“ nerve ich zum wiederholten Male alle, und weiß doch, ich werde ihn wieder buchen.

Aber Kersty hat nur ein Problem: in der Kälte am Gleis wartet sie nicht. Lieber zu McDonalds. Nicht zu fassen, wie viele Leute frühmorgens um sieben Uhr bei McDonalds am Hbf rumsitzen. Kaum hat Kersty ihren frischaufgebrühten Kamillentee und ein bisschen in die dampfenden Blüten meditiert, treibt es mich wieder nach draußen: was, denn der als verspätet angekündigte Zug nun doch nicht verspätet ist?! Und siehe da. GENAU SO ist es! Ich schaue nach unten und sehe den brat-grünen flitxtrain-Neuzeitdinosaurier seine Rollen parken. Sag ich doch: Bahnhof. Alle drei Minuten passiert ein neues Abenteuer, obwohl gar nichts passiert. Bis der Zug losfährt, habe ich schon das Filmchen von Kitty vom Schokoladen-Konzert gepostet. „Female Fun“ hatte sie drunter geschrieben. Fürwahr!

Eigentlich wollte ich unterwegs auf Tour an dem Buch arbeiten, das Kersty und ich gerade für reclam schreiben, man gönnt sich ja sonst nichts, als einen Eintrag in der Musikgeschichte. Und jetzt bitte alle mal weghören, die uns seit Monaten fragen, wie wir das eigentlich alles so wuppen: die Platte, Kerstys Roman, die Veranstaltungsreihen und Salons, die Tour, Social Media Overkill und man hat ja auch noch ein Privatleben. Anfang April ist Abgabetermin für die 500.000 Zeichen über die Geschichte der Frauen in der Rockmusik. „Good Sister. Bad Sister“ wird das Werk heißen. Der Titel: Meine Idee von neulich nachts um 4, als ich nach 5 Stunden Bandprobe eigentlich eine Mail an reclam schreiben wollte, um ihnen mitzuteilen, dass mir für den etwas sperrigen, etwas zu krassen Arbeitstitel „Shameless Front“ gerade kein Ersatztitel einfällt.

Während ich den Rechner aufklappte, um die Mail zu schreiben, fiel mir der Titel ein. Eine interessante hirn-physiologische Begebenheit, wie ich finde. Sehr oft findet man das, was man sucht, in genau dem Moment, in dem man es nicht mehr sucht. Nachdem ich unzählige Spotify Listen mit „Woman in Rock“ und „Best female Popsongs“ usw. durchgeklickt hatte, ohne fündig zu werden, und zum wiederholten Male „I’m every woman“ und „Girls got Rhythm“ verworfen hatte, fing ich an mich zu ärgern, dass Hole nicht auf den Playlisten war. Da crashte deren Song „Good Sister. Bad Sister“ plötzlich in mein Bewusstsein. Und statt der Mail „Wir müssen noch weiter überlegen“ schrieb ich: „Wir haben den Titel: „Good Sister. Bad Sister.“ Es war klar, dass das der Titel ist! Kein kluger Verlag würde diesen Titel ablehnen. Heute Abend wird nun unser toller, geduldiger Lektor aufs Konzert kommen. Was für ein Highlight!

Und wir erwarten noch weitere Gäste: Lévi Soulodre von der Band The Pxrtals spielt ein erstes Konzert in Europa. Er sieht nicht nur aus wie der junge Pete Doherty (an einem Tag für Limonade), der Franko-Kanadier hat auch richtig tolle Songs und eine super Schlagzeugerin mitgebracht.  Die beiden klingen wie eine dieser Original-Grunge-Bands auf C/Z-Records, aber eben mit einem Schuss psychedelische Pete-Doherty-Poetry. Die Band selbst beschreibt sich so:“The sound Roy Orbison´s spirit trekking an ageless forest.“ Mein favorite Song ist das hymnisch-vertrackte „Mama’s Journey“: ein wunderschön, dicht-gitarrengeschichtetes Lied, dessen Cover eine Sonne ziert, in dem der Songwriter die (überstandene) Brustkrebserkrankung seiner Mutter verarbeitet. Ich muss natürlich sofort an die Geschichte der Rapperin Rachelle Engel in Kerstys Roman „Bravo Bar“ denken.

The Pxrtals

Unsere Setlist ist so angelegt, dass Kersty und ich abwechselnd singen, ich also abwechselnd mal nur Gitarre spiele und dann wieder singe und Gitarre spiele. Ich empfinde dies als zwei völlig unterschiedliche Daseinsweisen auf der Bühne und das macht viel Spaß. Mal im Sound schweben und ein paar Schritte nach hinten treten, dann mit Gesang im Soundkleid nach vorne preschen. Seitdem ich im Schokoladen, ohne Band, „Wonder Woman“ acapella gesungen habe, weil wir nach 22 Uhr leise sein mussten, hat Daniel eine neue Vision zur Dynamik unseres Sets entwickelt. Mehr dazu kann man auf der Tour im Januar erleben. „Wonder Woman“ muss „Wonderwall“ werden. Ich bin selber gespannt darauf.

23.11.24: Chemnitz – Aaltra
„Weil ich unterwegs noch staunen muss“

Sandra: Ab Januar 2025 ist Chemnitz Kulturhauptstadt. Mit dem Motto „C the unseen“ richtet Chemnitz dann den Blick auf Ungesehenes: „Auf die ungesehene Stadt, die ungesehenen Orte und Biografien, die ungesehenen Talente in jedem Einzelnen.“
Wir fühlen uns schon jetzt sehr willkommen.
Und das, obwohl es gerade jeden Tag ein paar Grad kälter wird. Es ist jetzt nur noch dunkel. Wie gut also, dass wir heute im wohnzimmer-intimen Aaltra Club auftreten. Die Bühne in Form eines Ls bespielen wir „Top of the Pops“-mäßig, so dass am Ende die Fotos von der kleinsten Bühne der Tour die besten sind: in der Mitte das Schlagzeug, auf jeder Fläche des Ls je zwei Bandmitglieder. Die Nähe zum Publikum wärmt unsere vom nahenden Tour-Ende ergriffenen Herzen. Heute ist ja auch das erste Solo Album einer Lieblingsmusiker:in, Kim Deal, erschienen: ich hatte ihren neuen Hit „Nobody loves you more“ gerade entdeckt, als ich nach dem Soundcheck registriere, dass die Breeders als Pausenmusik laufen.

Kersty: „Wir alle spielen am liebsten unser Lied. ‘Aber schick mir lieber einen Albtraum, als eine weitere schlaflose Nacht’, sage ich fast entschuldigend, und dann geht es los.

Wiegen, wogen, schwelgen, Feedback, Tränen, Feuerzeuge, Danke, Chemnitz! Es war schön bei euch und es war das erste Mal, dass wir in diesem Jahr Weihnachtsbeleuchtung gesehen haben. Wir kommen wieder, wenn’s mal wärmer ist, und wünschen uns dann, dass wir den ganzen Tag in eurem schönen Garten sitzen dürfen.
Ein würdiger Tour-Abschluss! Wir freuen uns, wenn es am 29.01. in Tübingen weitergeht mit unserer „Mondscheinpsychose“-Tour.

Und wenn es dann wieder heißt, „Schaffen wir zwei, drei, vier, eine Genies.“ Gönn dir!
(Auch wenn du dir in deinen Träumen als Jan Fleischhauer gegenüber stehst.)

Text: The Doctorella

The Doctorella live 2025:

  • 29.01. Tübingen
  • 30.01. Karlsruhe
  • 31.01. Freiburg
  • 01.02. Weinheim
  • 02.02. München

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==> (#Cliffhanger / to be continued …)

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