Kersty Grether Sandra Grether “Rebel Queens” – Vorabdruck

„Rebel Queens“: Karen Carpenter, Yoko Ono – eine Streitschrift

Ich möchte mit einem Zitat von Birgit Fuß (Rolling Stone) beginnen, das gleich mal für Tatsachen sorgt:
»Kersty und Sandra Grether sind die berühmtesten Pop-Feministinnen Deutschlands.«
Zutreffende Tatsachen. Aber Kersty und Sandra sind natürlich noch so viel mehr.

 

Als ich selbst noch in Stuttgart-Zuffenhausen von meiner zunächst VfB-Stürmerkarriere und dann Wimbledon-Karriere träumte, waren sie schon längst aus dem Badischen ausgebrochen, um sich zunächst in Berlin und dann in Köln in die Popgeschichtsschreibung für immer einzugravieren.
Zunächst über ihr eigenes Fanzine „Straight“ (wer es nicht kennt, hier ein Link zum Sekundärmarkt) und spätnächtliche Popaktivitäten in den einschlägigen Clubs und Bars, später dann über ihre Texte und Redaktionsarbeit bei SPEX, noch später INTRO und natürlich auch ihre Bands Parole Trixi und The Doctorella sowie ihr Label bohemian strawberry. Allein schon die Namen!

Und als ob das alles noch nicht genug wäre, betreiben sie neuerdings noch ein eigenes Café am Prenzlauer Berg, die Sommerhaus KaffeeBar – bieten also anderen Autor:innen den passenden Klangraum für ihre Texte.

Wir freuen uns sehr, heute eine erste Streitschrift aus dem Buch „Rebel Queens“– zu Karen Carpenter und Yoko Ono – mit euch teilen zu dürfen.
„Rebel Queens“ erscheint am 15. Oktober im Reclam Verlag und bekommt von uns das #prädikatkaput verliehen.
In anderen Worten: Pflichtlektüre.

 

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Karen Carpenter und Yoko Ono –Warum die 70er Jahre sie beide nicht verkraften konnten Eine Streitschrift

„Wenn ich keine Rebellin wäre, wäre ich schon vor langer Zeit zerquetscht worden.“
(Yoko Ono, in: Robert Dimery, Cult Musicians)

„Die Leute denken nie, dass Entertainer Menschen sind. Aber wir sind genau wie sie. Wir werden krank und haben Kopfschmerzen. Wenn wir geschnitten werden, bluten wir.“
(Karen Carpenter)‘

„Ich möchte dir nur sagen, Liebling, dass ich finde, dass du eine fantastische Stimme hast.“
(John Lennon zu Karen Carpenter, in einem Restaurant in L. A.)

Aus heutiger Perspektive kann man kaum nachvollziehen, was an den Carpenters so uncool gewesen sein soll. Sie sangen vom Wunder in allen Dingen und vom Missbrauch in Beziehungen. Die Stimmung in den Liedern schwankte zwischen elegisch-süß und düster-gedankenversunken, als ob der spätere Selbstmörder Nick Drake mitkomponiert hätte. Die Sängerin, die einen berührenden Alt mit drei Oktaven Stimmumfang hatte, spielte in den Anfangstagen auch noch Schlagzeug – was mehr als nur ein kleiner emanzipatorischer Move war, denn Karen Carpenter war richtig gut an den Drums. Sie und ihr Bruder Richard inszenierten sich als »normale Leute« – womit sie dem Superstarzirkus der 70er Jahre den Stinkefinger oder auch einfach nur das schlichte Abendkleid zeigten. So anti-Hippie-weiße-Vorstadtwelt war das alles gar nicht, zumal Carpenter zwar überall herumerzählte, dass sie einen Ehemann suche, für den sie dann auch kochen wolle, but in fact mit zahlreichen Affären von sich reden machte. Ihre Kochkünste sollen zwar fantastisch gewesen sein, aber wie das halt so ist, wenn Magersüchtige Speisen zubereiten: Es geschieht oft, um zu demonstrieren, dass sie selber keinen Hunger haben.

»Why do birds suddenly appear / Every time you are near? / Just like me, they long to be / Close to you« – mit diesen poetischen Zeilen wurde Karen Carpenter berühmt.
Zusammen mit ihrem vier Jahre älteren Bruder Richard gründete sie in den späten 60er Jahren The Carpenters, die 1969 den Durchbruch schafften, als sie den von Burt Bacharach und Hal David geschriebenen Song »(They Long to be) Close to You« coverten. Karens samtene Stimme und Richards federleichte Arrangements machten den Song und das dazugehörige Album Close to You zum Hit.
In den folgenden fünf Jahren veröffentlichten die Carpenters zahlreiche Hits wie »We’ve Only Just Begun«, »Rainy Days and Mondays« oder »Yesterday Once More«. »Sie stellten mit ihrem entspannten und soften Rock den Gegenpol zu all den grellen und exzessiven Poprockbands der 70er dar«, wie der Radiosender ByteFM es vorsichtig-sensibel zusammenfasst.

Ab 1975 geriet die Musik allerdings mehr und mehr in den Hintergrund. Richard wurde stark tablettenabhängig, und Karen kämpfte mit Magersucht, einer heimtückischen Krankheit, an deren Langzeitfolgen sie am 4. Februar 1983 starb. Vielleicht war ihr Tod aber auch nur ein Unfall. Denn es ist nicht so, dass sie sich zu Tode hungerte. Sie war bereits weitgehend genesen, hatte in einer Therapie wieder 14 Kilogramm zugenommen und war voller Zuversicht. Sie wollte endlich eigene Songs schreiben, die Scheidung von ihrem Ehemann war nur noch eine Formalie. Zum Verhängnis wurde ihr ein Abführmittel, das den Herzmuskel angreift. Karen nahm es ohne Absprache mit dem Therapeuten, nicht um abzunehmen, sondern um das Gewicht zu halten. Sie hielt das für eine Lappalie, ein kleines Helferchen auf dem Weg zurück zur Normalität. Welch eine Tragödie!
Wenn man ihr Leben vom Anfang her betrachtet, so sieht man eine durchsetzungsfähige, fröhliche, begabte, pragmatische, kreative junge Frau vor sich. Eine, die wie alle anderen in ihrer Zeit einfach nur frei sein wollte. Frei von falscher Liebe, frei von falschen Zuschreibungen.
Holen wir jetzt Yoko Ono ins Boot: Der Vergleich ist natürlich sehr mit Vorsicht zu genießen, denn die eine wurde nur 32 Jahre alt und die andere lebt mit über 90 immer noch. Beinahe könnte man sagen, der Bestseller aus den 90er Jahren mit dem einleuchtenden Titel Gute Mädchen kommen in den Himmel, böse überallhin trifft auf frappierende Weise auf die gute und die böse Schwester des Amerikas der 70er Jahre zu. Aber die Geschichte hätte für Karen Carpenter auch gut ausgehen können. Manchmal kann es wertvoll sein, sich vorzustellen, wie es gewesen wäre, wäre damals alles anders bewertet worden …

Also fangen wir noch einmal von vorne an:
Die eine wollte frei sein, die andere sah es von überallher leuchten. Aber wer von beiden was war und wollte, ist bei weitem nicht so eindeutig, wie man denkt. Denn die beiden waren unzähligen Stereotypen von Weiblichkeit ausgesetzt, und Stereotype von Weiblichkeit sind nur da, um das genaue Gegenteil des Männlichen zu bezeichnen. Die Frau ist passiv, und der Mann ist aktiv. Nun haben wir es hier mit zwei Frauen zu tun, die äußerst aktiv und auf ihre Weise attraktiv an der Seite von äußerst aktiven und attraktiven Männern waren. Sie haben Augenhöhe vorgelebt, viel drastischer und hoffnungsvoller, als man es ihnen erlaubte. Karen an der Seite ihres vier Jahre älteren, von der Mutter und den Kritikern als Genie vergötterten Bruders Richard.
Yoko an der Seite des Musikers, der einmal behauptet hatte, dass er größer als Jesus sei, woraufhin er sich eine Menge Ärger, aber auch eine Menge Sympathien einhandelte. Yoko und Karen werden selten zusammen gedacht oder zusammen »verhandelt«, zu unterschiedlich ist ihr Image. Beide waren die krassesten Projektionsflächen, die konträrsten Role Models, die die 70er Jahre im Gepäck hatten; das Jahrzehnt, das sie groß und klein machte, zum Gespött. Die eine kam, und die andere ging als Gespenst. Und beides könnte einem das Herz brechen.

Die 70er Jahre taten sich mit der Behauptung hervor, alles für »die Freiheit« zu tun – da waren sich alle politischen Lager kurz einmal einig. Aber was meinten sie mit »Freiheit?« Die Freiheit, nicht falsch zu bezeichnen, allen Menschen gleichermaßen Zugang zu gesellschaftlichen Ressourcen zu geben, stand nicht wirklich auf der To-do-Liste des freiheitsberauschten Establishments. Die Freiheit, so zu leben, wie man will, war nicht für alle gesellschaftlichen Gruppen vorgesehen.
Nur als kleiner Schock aus der Ära von Hippies und Bürgerrechtsbewegung wirkte eine echte Idee von Freedom noch nach, auch wenn z. B. Frauen, People of Color, Schwarze oder Homosexuelle weiter stigmatisiert wurden. Manche sagen, dass die 70er die Freiheitsversprechen der 60er institutionalisiert und wieder ausgespuckt haben. Die stilprägende, jüdische Rockjournalistin Ellen Willis zum Beispiel. Sie gehörte zur Beatnik-Zeit einer Clique mit liberalen Denker:innen und Poet:innen an. In ihrer Selbstbeschreibung hat sie die 60er miterfunden. In den 70ern sah sie all ihre Ideale langsam verpuffen.

Aber um welche neuen Ideale wurde eigentlich gestritten? In ihrem Essay The Prizes of the Family betont die Journalistin: »Es war der Zusammenbruch des alten, sozialen Vertrags, dass Männer die Ernährer sind und dafür über die Frauen verfügen und sie besitzen dürfen.« Die lockere Lebensweise der Hippies, die sich schon äußerlich durch ihre Multikulti-Patchwork-Verkleidung von den einengenden Idealen der vorangegangenen Zeiten verabschiedet hatten, wurde für viele junge Leute zum Idealbild. Man predigte freie Liebe und wollte keine sexuelle Eifersucht kennen. Janis Joplin, die große Heldin von Ellen Willis, war das erste Nacktgirl ihrer Generation. Ihr berühmtes Brustbild mit den vielen Perlenketten, das ausgerechnet die verspottete Außenseiterin zum Pin-up machte, war für Janis selber die allergrößte Genugtuung, denn sie war ja von den Kids aus ihrer texanischen Schulklasse immer dafür verspottet worden, so anders zu sein. Nun tat Janis, zynisch gesprochen, den repressiven Kräften der 70er Jahre den Gefallen, schon im allerersten Jahr zu sterben. Damit wurden die von ihr vertretenen Ideale zu einer bereits verblichenen, uneinholbaren Blaupause.
Das bekamen auch Yoko Ono und Karen Carpenter zu spüren. Da war eine vor ihnen, die hat’s besser gemacht. Doch die Extreme sagen mehr über das Jahrzehnt aus, als man wahrhaben will. Mehr als die Mitte. Das erste Carpenters-Album erschien 1969.

Nachdem es zunächst Offering geheißen hatte, wurde es flugs in Ticket to Ride umbenannt, da die Coverversion des gleichnamigen Beatles-Songs ein kleiner Hit in den USA war. Yoko Ono / Plastic Ono Band ist das erste Solostudioalbum von Ono, das im Dezember 1970, zusammen mit dem Album John Lennon / Plastic Ono Band ihres Mannes, bei Apple Records erschien.
Yoko war das böse Mädchen, das sich nimmt, was ihr gehört, und Karen das gute, das sich nicht traut, zu nehmen, was man ihr aufgrund ihrer Jugend jetzt erlauben würde. Yoko, krass eigensinnig. Karen, krass brav. Es reizt mich, die beiden Popschwestern einmal nicht auseinander, sondern zusammen zu denken. Einen neuen Blick nicht nur auf sie und ihre Musik zu werfen, sondern generell Schablonen zu verwischen und (falsche) Grenzen aufzubrechen. Janis war, wie gesagt, so etwas wie die innere Mitte dieser Zeit, die rebellische Königin, die zwischen den beiden Extremen lag. Sie wurde, was selten genug vorkommt, als das gute und das böse Mädchen in Personalunion gesehen. Die Bluessängerin, die als erste weiße Soulrocksängerin in die Geschichte eingegangen ist; sie war für einen Moment ihres Außenseiterinnenstatus enthoben. Keine Hure mehr und noch keine Heilige, eine, die nichts auf ihr Weißsein gab. Man wagt es kaum zu fühlen: die Frau als Mensch. Sie hat’s geschafft.

Noch heute könnte man sagen, dass Janis, Interpretin fremder und eigener Songs, der perfekte Ausdruck dieser zerrissenen Zeiten war, in der Frauen gerade erst ihre eigenen Narrative fanden. Denn schon Mitte oder Ende der 1970er Jahre hatte sich das Blatt wieder gedreht. Willis sieht die 70er auch als Rückschrittsjahrzehnt. »In den 60ern gab es so viele Utopien, die in den 70ern wieder zurückgenommen wurden«, schreibt sie. Als sie Mitte 30 ist, fühlt sich Willis als kinderlose Frau plötzlich verloren. Die konservativen, moralistischen, christlichen Abtreibungsgegner gewinnen die Oberhand. Das Jahrzehnt, in dem ich geboren wurde, war also nicht nur ein Befreiungsjahrzehnt, sondern auch ein richtiges Scheißjahrzehnt. Und genauso behandelte es auch seine Künstlerinnen: Karen Carpenter wurde nicht ernst genommen, weil sie es gewagt hatte, in diesem Spirit des Pseudoaufbruchs im Weißen Haus für den »falschen«, weil erzreaktionären Präsidenten Richard Nixon zu spielen (1973). Zum Vergleich: Destiny’s Child, die frühere R’n’B-Girlgroup von Beyoncé, spielte 2001 bei den Antrittsfeierlichkeiten für George W. Bush in Washington eindeutig auch für den »falschen« Präsidenten – aber Beyoncé durfte sich später trotzdem als Verfechterin eines intersektional-feministischen Zeitgeists neu erfinden. Die Plattenfirma der Carpenters jedoch war stets darauf bedacht, dass die Band ihr sauberes Image nicht verliert. Sie zwang das Duo dazu, das nette, saubere Geschwisterpaar von nebenan zu bleiben.

Karen Carpenter (geboren am 2. März 1950 in New Haven, Connecticut) und ihr Bruder Richard, der oft als der fünfte Beatle bezeichnet wurde (weil er so fröhliche, reine Melodien komponieren konnte wie einst die Beatles), waren zwar jung, aber nicht so, wie man sich eine Spur weiter links seine Jugend wünschte.
Und Yoko Ono (geboren am 18. Februar 1933 in der Präfektur Tokio) war zwar eine bedeutende Fluxus-Künstlerin. Als sie mit ihrem Ehemann John Lennon (einem echten Beatle) den Friedensaktivismus und die Protestbewegung der 70er in bewusstseinserweiternde Songs übersetzte, befand sie sich aber bereits auf der falschen Seite der 30. Eine Fehlgeburt sowie die Tatsache, dass ihr Exmann Anthony Cox das Sorgerecht für die gemeinsame Tochter Kyoko erstritten hatte, war für die Medien ein gern gefundenes Fressen. Vor Gericht hatte er erfolgreich behauptet, Ono sei aufgrund ihres Drogenkonsums keine geeignete Mutter. Die laute Frau, die Drogen nimmt und mit dem berühmten Mann zusammen Musik macht: eine Kombi, mit der die angelsächsische Welt anscheinend ein Problem hat. (Es sind die Zutaten, aus denen auch die Hexenjagd auf die Hole-Sängerin Courtney Love, 20 Jahre später, gemacht wurde.) Über all dem konnte man glatt vergessen, dass Yoko tolle Songs schrieb. Die ausgebildete Komponistin mit der asiatischen Abstammung musikalisch ernst zu nehmen stand offenbar gar nicht erst zur Debatte! Wer angeblich als Mutter nichts taugte, taugte auch als Musikerin nichts?

Als eine Zeitung in England es dann wagte, Yoko Ono auch noch als »hässlich« zu bezeichnen, siedelte das berühmte Paar nach Amerika über. Aber das war leichter gesagt als getan. Denn John Lennon erhielt dort aufgrund seiner politischen Umtriebe jahrelang keine richtige Aufenthaltsgenehmigung. Lennon/Ono machten mit dem Umzug aber deutlich, wie sehr sie das rassistische und sexistische Großbritannien mittlerweile missbilligten. Die Welt hatte wirklich kein Interesse daran, dieser künstlerischen Paarbeziehung auf Augenhöhe beim Wachsen und Gedeihen und Lieben und Protestieren zuzusehen. Aber die Welt schaute natürlich trotzdem hin – vor allem, um die beiden auszulachen. Zumal, wie ihr Biograph James Woodall in seinem Buch John Lennon und Yoko Ono schreibt, »sie vorzugsweise in Schlafanzügen oder Säcken auftraten und von ›Eicheln für den Frieden‹ redeten. Aber auch wenn die von ihnen gewählten Ausdrucksmittel äußerst exzentrisch und versponnen erschienen, der Spott, mit dem viele Blätter das seltsame Paar übergossen, war unangemessen.« Ihre Aktionen sollten ja irritieren und verstören.

Beide Frauen, Yoko Ono und Karen Carpenter, einte eins: eine unbändige Lust darauf, kreative und musikalische Experimente zu machen. Yoko, das böse Mädchen, sehnte sich dabei genauso stark nach Anerkennung, auch wenn sie äußerst selten lächelte, und Karen genoss durchaus ihre kleinen Provokationen, während sie rein äußerlich alles tat, um sich anzupassen. Allein ihr berühmtes Augenrollen, als sie in einem Interview in dem britischen Fernsehmagazin Nationwide 1981 erstmals offen auf ihre Magersucht angesprochen wurde: Sie sei nur ein wenig erschöpft, sagte sie. Das ist in Anbetracht der Tragödie, in der sie sich befand, natürlich mehr als dramatisch. Aber sie wollte eben alleine damit klarkommen und hatte auch schon therapeutische Hilfe in Anspruch genommen.
Auch wenn man vorsichtig sein sollte, Krankheit als Metapher zu lesen, so bin ich doch Fan davon, Magersucht, in der Definition der Psychoanalytikerin Alice Miller, als Zeichen für eine – gegen sich selbst gerichtete – Fremdscham zu verstehen. Karen Carpenter hat sich für diese amerikanische Öffentlichkeit, die ihr andauernd jeden normalmenschlichen Anflug als Spießertum auslegte, auch ein bisschen geschämt.

Yoko und Karen: Beide sind nicht nur eine Klammer dieses seltsamen Jahrzehnts, sie sind Individuen, die in ihrem Leben keine Sekunde daran gezweifelt haben, dass es ihnen zusteht, ihre Kreativität auszuleben und trotzdem noch Trost, Unterstützung und Halt in der Familie zu finden. Beide wurden von einer sehr wichtigen Instanz für ihre Musikalität verachtet: Karen Carpenter, die sich schon früh das Schlagzeugspielen beibrachte, war von ihrer Mutter Agnes Reuwer Tatum beinahe wie ein Mensch zweiter Klasse behandelt worden. Aber ihr Bruder Richard hielt fest zu ihr. Die beiden galten als nahezu unzertrennlich, in ihrer Teenie-Zeit schwärmte sie für seine kompositorischen Fähigkeiten, und bald war sie auch bereit, von ihm zu lernen.
Doch die Mutter kam nicht im Traum auf die Idee, dass ihre Tochter ebenso begabt sein könnte wie ihr Sohn, der schon als Klavierwunderkind galt. Auch Yoko Ono hatte so ein männliches Genie an ihrer Seite. Sie wurde dafür verachtet, dass sie es gewagt hatte, sich mit einem der berühmtesten Musiker des Universums zu einer Einheit zusammenzuschließen.
Ohne das Power-Couple hätten wir nie erfahren, dass auch ein von allen gefeierter Rockstar sich mit Beharrlichkeit zu einer Frau bekennen kann, die sogar mehr als er von den künstlerischen Provokationen der Gegenwart versteht.

Yoko Ono inszenierte ihre versponnenen Ideen mit Ausstellungen, Filmen und auch mit ihrer spirituellen »Bildung«. Sie machte z.B. die »Urschreitherapie« berühmt. Obwohl sie den indisch inspirierten Ideenfluss des alternativen Boheme-Amerika anzapfte, war sie nicht nur den Rechten, sondern auch den Linken ein Dorn im Auge. Selbst das auskomponierte gemeinsame Album Double Fantasy (1980) fing sich fast nur negative Rezensionen ein. Wie konnte das sein? Ja, verkörperte denn nicht Yoko Ono alles, was man bei Karen Carpenter vermisste? Oder andersherum? Oder waren beide zu viel – und warum?
Vielleicht findet sich die Antwort wiederum in Ellen Willis’ Bonmot von der Überbetonung der sexuellen Freiheit: »Die Frauen in den 60ern überbetonten die Idee der sexuellen Freiheit, weil sie fühlten, dass ihnen eine größere Freiheit, eine ökonomische, verwehrt bleiben würde.« Hätte es diese Ono nicht einfach mal gut sein lassen können? Als Sexsymbol war sie ja schon nicht so geil, weil die Briten sich an ihrer asiatischen Abstammung störten, und dann mischte sie sich auch noch in die Geschäfte ein, vertrat sogar ihren Ehemann bei Apple Corps, dem guten Unternehmen der ehrlichen Beatles. Aber damit nicht genug: Sie hatte nicht nur die Beatles auseinandergebracht, nun hatte das böse Mädchen den guten Beatle auch noch zum Hausmann degradiert! Wer da noch glaubt, die Ablehnung Yoko Onos hätte etwas mit ihrer Kunst zu tun und nicht etwa mit ihrer Macht, die ökonomische Frage neu zu stellen, der glaubt auch … (denk dir was aus). Sogar die Feministin Julie Burchill stieg in das John-und-Yoko-Mobbing ein. Die scharfzüngige Kolumnistin behauptete, dass John Lennon a) eben doch kein Feminist, sondern ein Arschloch war; und b) dass er ja nur vor seiner Haustür erschossen worden war, weil die Öffentlichkeit wollte, dass er endlich mal wieder aus dem Haus geht … Hätte es sie als Feministin nicht freuen sollen, dass ein Mann die Rollen tauscht?

Schon am gemeinsamen Debütalbum Unfinished Music No. 1: Two Virgins (1968) konnten die Kritiker:innen kein gutes Wort lassen. Auf der Vorderund Rückseite der LP waren Yoko und John von vorne und von hinten zu sehen. Die »Nude«-Ästhetik des heutigen Instagram-Zeitalters lässt grüßen: Nichts zu verhüllen, nichts zu beschönigen ist ja wieder eine beliebte Gegenreaktion auf ein allzu restriktives Glamour-Ideal. John und Yoko wollten auf dem Albumcover einfach nur da sein. Sie verkörperten damit durchaus auch den Zeitgeist: 1968 wurde das Musical Hair uraufgeführt, in dem manche Schauspieler nackt auftraten und das »Wassermannzeitalter« besangen. Als Yoko erklärte, das Cover sei Kunst, konterte EMI-Chef Joseph Lockwood: Dann sollten sie doch ansehnlichere Körper auftreiben! Auch die US-Zollbehörde schien das ähnlich zu sehen. Anfang Januar 1969 löste das Nacktfoto eine wahre Farce aus: 30 000 Exemplare des Albums wurden beschlagnahmt und vom Amtsgericht in Newark als »Pornographie« eingestuft. Vergeblich versuchte das Team Lennon–Ono dem alten Richter klarzumachen, die Fotos stünden »in der Tradition der christlich-ikonographischen Darstellung Adams und Evas vor dem Sündenfall«. Selbst der geduldige Biograph James Woodall schreibt: »Als Geste war die LP effektiv, als Klangwerk eher langweilig.« Es wird für immer das Problem dieser Epoche bleiben, dass sie eine emanzipierte Künstlerin wie Yoko Ono unbedingt zum Nichts erklären wollte. Und wo Ono dann doch etwas Beifall als Künstlerin bekam, galt es keinesfalls ihrer Musik und ihrer Stimme, sondern ihren künstlerischen und politischen Aktionen. Dabei war ihre Stimme, man muss es noch einmal sagen, einfach großartig!

Mindtrain

45 Jahre nach Double Fantasy ist das fulminante »Mindtrain« der am meisten aufgerufene Song auf Yoko Onos Spotify-Seite. Durch Spotify ist es ein Kinderspiel geworden, Vorurteile zu überprüfen. Und die musikalische und spirituelle Meisterinnenleistung von »Mindtrain« erstickt allen Spott im Keim: Yoko trifft mit traumhafter Sicherheit alle Töne der Sopranlage und mischt auch die tiefen Noten virtuos dazwischen. Wenn im Kopf alles durcheinandergeht, dann klingt das so wie dieser erhabene, pfeifende, gurgelnde, voranschreitende Gedankenzug. Eine musikalische Reise, ein Gedicht in Worten und Tönen. Mit einem unausweichlichen Rhythmus. Das Ganze klingt nicht so, als ob sie ihre Gedanken ausdrücken würde, sondern die Beschaffenheit des menschlichen Geistes als Ganzes. Und vielleicht sollten wir öfter einmal den Kopf einschalten, bevor wie uns vom Mythos des bösen Mädchens leiten lassen. So wie die Berliner Songschreiberin Maike Rosa Vogel (geboren in Frankfurt am Main) das gemacht hat. Sie hat ein Lied über den Yoko-Ono-Mythos geschrieben – auf ihrem Album Alles was ich will, das die Autorin dieser Zeilen im Jahr 2018 auf ihrem eigenen Label Bohemian Strawberry Records herausgebracht hat. Unserem Blog Ich brauche eine Genie – Musikmagazin. Poetry. Theory. Spielwiese. erzählte Maike damals: Ich habe das Lied geschrieben, weil ich mit Anfang 20 so vollgestopft mit Frauenbildern war, die mir als Frau eigentlich nur vermittelt haben, wie ich auf keinen Fall sein darf, ich habe mich dafür gefürchtet, dass ich so bin wie Yoko Ono, wenn ein Mann mich liebt, denn es gibt ja kein größeres Schreckgespenst. Und wenn man sich mit Yoko Ono beschäftigt, merkt man, das war eine starke Persönlichkeit, eine Künstlerin, die von einem Mann angebetet wurde, den die Welt für sich haben wollte, der sollte keine Frau mehr lieben als seine Band. Und so waren früher ja alle Frauenrollen festgelegt, die haben kein eigenes Narrativ bekommen. Sie mussten für irgendwas gut sein, was Männern nutzt, und eine Frau, die Männer nervt oder Angst macht, das ist der Teufel. Und wirklich ändern wird sich nur etwas, wenn wir der Yoko Ono in unserem Kopf erlauben, kein Schreckgespenst zu sein, sondern ein Hinweis darauf, wovor die eingerasteten Strukturen am meisten Angst haben. Und da dann hingehen.

»Jedes Mädchen ist Yoko Ono«, singt Maike, »wenn sie sich nimmt, was ihr gehört, gibt es immer jemanden, den das stört«. Yoko Ono selbst hat – so will es die Legende – alle Zuschreibungen an sich abprallen lassen. Was natürlich Quatsch ist. Kein Mensch kann das! Noch heute versucht sie, so gut es geht, ihr Image zu kontrollieren. Dazu hat sie alles Recht. Karen Carpenter war auf ihre Weise auch zu viel. Das brave Mädchen beschwor die guten alten Tage des amerikanischen Traums auf so herzberührende Weise, dass uns auch das mit unseren verbotenen Sehnsüchten und Begierden konfrontierte. Yoko Ono und Karen Carpenter: zwei, die zu ehrlich waren? Nicht fake enough fürs Glamhardrockund Superstar-Jahrzehnt? Ein bisschen zu viel Motown-Herzschmerz noch, in allem?

Die Carpenters klangen wie ein langer Abschied, Yoko Ono wie ein Zukunftsversprechen. Yokos Songs klingen zwar experimentell, aber leichtfüßig, als wandelte man durch einen raffinierten, reichen Garten. Die Carpenters machten den schwermütigsten, perfektesten Radiopop aller Zeiten. In gewisser Weise verstanden Karen und Richard genauso viel von europäischer Klassik wie Yoko, die einen Abschluss in »deutschem Kunstlied« gemacht hatte. Die Songs der Carpenters mögen oberflächlich zu einem Yankee-Mainstream gepasst haben, aber jeder Zuhörer fühlt doch die wahren Schätze der Kindheit in ihnen verborgen. Was ist schon das »Yesterday« der Beatles gegen das »Yesterday Once More« der Carpenters? Die Carpenters lassen innerhalb des schönsten Schönklangs die tiefsten Zweifel zu. Karen singt immer wieder über die grotesken Zumutungen in den Beziehungen zwischen Männern und Frauen, als ob auch sie tief in ihrem Inneren ebenfalls für Love, Peace und Understanding kämpfen würde. Während Yoko Ono innerhalb ihres ausgeflippten Zeichensystems aus New-Age-Verweisen auf nichts anderes als auf die Perfektion des menschlichen Klangs – und der wahren Liebe – hinauswill. Gegen Ende ihres Lebens hat sich die Operndiva Maria Callas (gespielt von Angelina Jolie) laut dem Biopic Maria (2025) gewünscht, sie könnte »Menschenklang« studieren. »Menschenstimme«. Eine sehr schöne Fantasie, die die große Callas da in den letzten Tagen ihres Lebens zum Ausdruck brachte. Lasst mich doch einmal so singen, wie ich mich jetzt fühle, schien sie damit zu sagen. Wie ein normalsterblicher Mensch. Denn sie wusste natürlich aus ihrem lebenslänglichen »Studium« des Gesangs, dass es anachronistische Resonanzräume gibt, die bei allen Menschen gleich sind. Sie wollte wie ein normaler Mensch sein, dem vielleicht auch kranken Stimmkörper gerecht werden, aber man erlaubte ihr das nicht. Sie starb, ähnlich wie Karen Carpenter, ebenfalls an den Auswirkungen eines Medikaments. Auch sie wollte sich als Sängerin erhalten. Nicht die Figur, wie Karen, sondern die Stimme, wie die Callas. Nur Yoko Ono hatte ihre Stimme bereits gefunden, diese Menschenstimme. Ausgerechnet dafür wurde sie zum Unmenschen erklärt. Denn anscheinend macht es die Machthaber aller Länder nervös, wenn Menschen ihre ureigene Stimme finden. Aber auf ihre Weise waren Karen Carpenter und Yoko Ono die wichtigen Sängerinnen des Jahrzehnts, in dem die große von uns gegangen wohligen Altstimme Maria Callas, von der sich im Übrigen nicht nur die Yankees, sondern auch große Teile der Schwulenkultur angezogen fühlten, und Yoko Ono mit ihrem glasglockenhellen Sopran, den man normalerweise eher den guten, anständigen Mädchen zuschreiben würde. Vielleicht wurde Yoko ja gar nicht ihre angeblich mangelnde Perfektion zum Verhängnis, sondern, klangästhetisch gesprochen, auch ihre verspielte, trotzige Ader, mit der sie Perfektion zuerst vorführte, nur um dann im nächsten Moment wieder in die animalischen Gesetztheiten zu verfallen, die in Menschenstimmen eben auch enthalten sind.

Karen Carpenter hatte den Massenerfolg, der Yoko Ono verwehrt blieb. Denn man darf nicht vergessen, dass die Carpenters als das erfolgreichste Popduo der 70er galten. Nun wäre es eine schöne Polemik der Geschichte, wenn man sagen könnte, die Carpenters machten da weiter, wo die Beatles aufhörten, aber das würde dann doch die spezifischen, homoerotischen Dynamiken verkennen. Wenn vier Männer aus Liverpool eine Band gründen, ist das etwas grundsätzlich anderes als bei einem gemischten Geschwisterduo aus Connecticut, das in einer kalifornischen Kleinstadt aufwächst. Denn die Beatles konnten zumindest in den 60ern noch ein Jahrzehnt im Aufbruch begleiten, eins mit echtem Post-War-Optimismus drin. Eine ekstatische Fröhlichkeit, garniert mit Albernheit, mit Witzen. Das »Ob-LaDi, Ob-La-Da« der Beatles freute sich unbändig über das Leben der Kleinfamilien in Suburbiahausen, wo auch Molly in einer Band spielt. Wohingegen »Top of the World«, dieser euphorischste aller Carpenters-Songs, einen Hauch Trauer verbreitet, sich in einem Zustand einsamer Lusterkenntnis befindet. Da ist Todesangst drin, die Vergänglichkeit allen gerade hochfahrend beglaubigten Glücks. Meinten die Carpenters das, wenn sie sagten, dass sie ganz normale Menschen sind? Wollten sie zum Ausdruck bringen, dass das Glück bei ihnen geerdet ist? Ich weiß, wie ich beide Lieder als Kind zum ersten Mal hörte. Das eine verlieh mir Flügel, das andere brachte mich dazu, sofort mit dem Leben anzufangen, bevor es zu spät wäre.
Das Glücksversprechen der Beatles war immer ein unerhörtes, vorwärtsgewandtes. Die Carpenters versprachen jedoch keinesfalls eine heile Welt. Vielmehr betrauerten sie die Tatsache, dass die Welt, die die Beatles uns versprochen hatten, nicht heil bleiben konnte. Und damit wären wir wieder bei den Sorgen angelangt, die das Patriarchat der Sängerin und allen, die sie liebten, bescherte.

Karen Carpenter litt schon in ihrer Jugendzeit unter immer qualvolleren Schlankheitsidealen. Wegbegleiter berichten, dass die 15-jährige Karen nicht wahrhaben wollte, dass sie mit ihrem natürlichen Körper einfach nicht in das neue, von Jugendmagazinen genährte Bild passte.
Im Jahr 1966 war Twiggy bereits fest in den Teenagerköpfen verankert. Im April hatte das Time Magazine eine Titelgeschichte über Swinging London gebracht und sie mit den schwarz-weiß gemusterten Miniröcken bebildert, die damals das Straßenbild prägten. Carnaby Street war das hauptsächliche Zentrum, die beiden englischen Fotomodelle Twiggy und Jean Shrimpton lösten das Frauenbild der 1950er ab. Dünnheit wurde zum Synonym für Unterwegssein und Kreativsein, so wie auch in den 90er Jahren wieder. Twiggy war 1,70 Meter groß und wog 42 Kilogramm. (Das Cover des Beatles-Albums Revolver war die Reaktion der Beatles auf den schwarz-weißen Minirock. Ein Fashion-Statement der Fab Four. Die Schwarzweißgraphik der Schallplattenhülle rühmte sich des Brückenschlags der Popmusik zu der neuartigen Mode.)
Schon bei der 16-jährigen Karen Carpenter zeichnete sich ab, dass sie von diesen zutiefst unnormalen Schlankheitsidealen in ihrem Selbstwertgefühl zu treffen war. Sie war immer schon sportlich gewesen. Es war gar nicht ihr Problem. Sie war auch früh bereit, Diätkuren zu machen. Und sie hielt sie auch durch. Sollte und durfte es eigentlich nicht sein, dass ein Mensch mit einem »normalen« Körper Spaß hat, weil Spaß traditionell das Vorrecht weißer Männer war? Karen wird von Richard als fröhliches Mädchen beschrieben, das in der Lage war, sich innerhalb kürzester Zeit ein fantastisches Schlagzeugspiel draufzuschaffen. Aber was half es schon gegen die bohrenden Blicke der Zeitgenoss:innen auf weibliche Körper?

Etwas fehlt. Schmerzlich gesucht: die 70er Jahre

»Das Phänomen der viel zu dünnen Frau in der Popkultur war vor allem eine Reaktion des Patriarchats auf die Emanzipation«, bringt Stevie Schmiedel das Dilemma auf den Punkt. Sie ist Genderforscherin und Gründerin der NGo PinkStinks, die in den 10er Jahren und bis heute gegen Sexismus in der Werbung und Schlankheitswahn kämpfte. »In Filmen und Bildern wurden die Frauen immer dünner und zarter. Grund dafür ist, dass Frauen in dieser Phase viel mehr Freiheiten erhielten. Sie durften immer häufiger selbst entscheiden, ob sie arbeiten gehen und seit der Einführung der Pille auch, ob sie ein Kind bekommen oder nicht. Diese neue Selbständigkeit hat die patriarchalisch dominierte Gesellschaft verunsichert. Und sie hat darauf mit einem Backlash reagiert, in dem sie ein Bild erschuf, das zeigte: ›Frauen sollten gar nicht so unabhängig sein, denn sie sind zart, schlank und jung. Sie müssen beschützt werden.‹«

Es sollte noch bis zum Jahr 2000 dauern, bis der Popfeminismus so weit gesiegt hatte, dass internationale Musikerinnen einen starken Chor bildeten, der kulturelle Nahrung versprach. Es begann mit Missy Elliot, die schon im Jahr 2000 bahnbrechende Interviews gab, in denen sich die Rapperin und Produzentin als Feministin bezeichnete und ein anderes Körperideal einforderte. Die mageren Mädchen, das sind nun wieder die Models und die Schauspielerinnen, nicht die Creator:innen. Die Musikerinnen, das sind nun wieder die rebellischen Girls. Wie weit war eine Karen Carpenter aber davon entfernt, von einem derart erfreulichen Zeitgeist zu profitieren? Im Laufe der 70er wurde Karen immer dünner. Die Freunde und die Öffentlichkeit machten sich Sorgen um sie.
Aber sie verbarg ihr Leiden unter weiten Pullis. Der Song »Goodbye to Love«, den sie 1978 auf dem zweiten Höhepunkt ihres Erfolges performte, war aus heutiger Sicht ein durch und durch authentischer Song über das Leben im Showbiz. Es hatte die ironische Chuzpe einer Lady Gaga, wenn Karen Carpenter in Interviews betonte, sie hätte keine Zeit, eine Familie zu gründen und sich zu verlieben. Das Leben als Rockstar auf Tour fordere eben seinen Tribut. Wir wollen an dieser Stelle lieber nicht fragen, ob männliche Musiker, die viel auf Tour waren, auch auf ihr Liebesleben verzichtet haben? Aber so wie Yoko Ono auf der falschen Seite der 30 war, so war Karen Carpenter auf der richtigen Seite der 20; in der zweiten Hälfte nämlich. Sie hätte jetzt ein Kind bekommen müssen, wenn alles nach Plan gegangen wäre. Aber sie, die man für die konservative Verkörperung der »Family Values« hielt, wollte sich erst noch auf der Bühne austoben. Die »Goodbye to Love«-Sängerin wollte für ihre Fans da sein und in der Musik aufgehen. Natürlich war »Goodbye to Love« auch wieder nur für einen kurzen Moment gedacht; sie würde danach weitersuchen. Und nicht lange später war sie auch verheiratet: eine grotesk unglückliche Ehe. Aber diese hymnisch vorgetragene Zeile, »So I made my mind up, I must live my life alone«, kann es in ihrer grandios ausgestellten Einsamkeit mit jedem Song von den Smiths aufnehmen. Wäre ja auch zu viel verlangt, von Menschen, die in die Extreme gezwungen werden, zu erwarten, dass sie doch noch einmal schnell ihre emotionale Mitte finden. Aber wenig später war auch dieser Moment vorüber, und die Good Sister (die sich selbst auch Lead Sister nannte) stürzte sich in zahlreiche Affären. Im Gegensatz zur bösen Yoko Ono, deren Treue zu John Lennon von ihrer Seite aus nie offen zur Disposition stand. Aber kommen wir noch einmal kurz auf diese Krankheit mit dem eigentlich ganz hübschen Namen »Anorexia nervosa« zu sprechen. In der Psychologie spricht man vom goldenen Käfig, in dem viele Magersüchtige gefangen sind. Wie sagte schon Franz Kafkas Hungerkünstler: »Ich habe gehungert, weil ich nicht die Nahrung finden konnte, die mir schmeckt.« Das könnte ebenso eine Umschreibung der Musik der Carpenters oder eine Songzeile sein. Die Musik klingt tatsächlich, als suchten sie nach etwas, das sie partout nicht finden können. Was es bedeutet, in einem Haus voller Überfluss nicht die Nahrung zu finden, die einem schmeckt, hat Alice Miller in Die Revolte des Körpers aufgeschrieben. Sie beschreibt Magersucht als Konflikt zwischen dem, was in unseren Körpern als Erinnerungsspur gespeichert ist, und dem, was wir fühlen möchten, um den moralischen Normen zu entsprechen. Miller interpretiert Magersucht als eine Krankheit der Fehlkommunikation – in erster Linie zwischen Mutter und Tochter in der ersten Lebensphase eines Kindes: »Die echte emotionale Kommunikation, ohne Lügen, ohne falsche Sorgen, ohne Warnung, ohne Angstmacherei, ohne Projektionen durfte nicht stattfinden.«

Eine Magersüchtige zeigt mit ihrem Verzicht auf Essen also, dass ihr etwas fehlt. Dieser familienpsychologischen Interpretation wird heute eine zweite entgegengestellt; die Magersucht als eine direkte und auch pubertätsgeleitete Antwort auf die dünnen Heldinnen der Popkultur, etwa nach dem Motto: »Ich bin nur dann begehrenswert, wenn ich so dünn bin wie die dünnen Sängerinnen, Leinwandgöttinnen.« Als Karen Carpenter magersüchtig wurde, stand die Welt vor einem Rätsel. Die Krankheit war relativ unbekannt. Aber Karen ließ sich behandeln. Ihr Therapeut Steven Levenkron, den sie Ende der 1970er aufsuchte, forderte nacheinander alle Familienmitglieder, vor allem die Mutter, auf, ihr zu sagen, dass sie sie liebten. Auslöser für das Hungern war aber nicht ein Streit mit der Mutter gewesen, sondern eine Plattenkritik, in der stand, die junge Sängerin sei pummelig.
Am 11. Januar 1983 hatte sie ihren letzten öffentlichen Auftritt bei einem Treffen früherer Grammy-Preisträger. Sie sah zerbrechlich aus, aber laut ihrer Freundin Dionne Warwick wirkte sie kontaktfreudig und sagte allen: »Seht mich an! Ich habe einen Arsch!« Am 1. Februar 1983 sah Karen ihren Bruder zum letzten Mal, als er Pläne für ein neues Carpenters-Album besprach. Am 4. Februar brach sie in ihrem Schlafzimmer im Haus ihrer Eltern zusammen. Sanitäter sagten, ihr Herz habe nur noch alle zehn Sekunden geschlagen und sie sei um 9.51 Uhr im Downey Community Hospital gestorben.
Eine Autopsie schloss Drogen oder eine Überdosis Medikamente aus und beschrieb ihren Tod als »Emetin-Kardiotoxizität aufgrund oder als Folge von Anorexia nervosa«. Karen hatte einen Blutzuckerspiegel von 1110 Milligramm pro Deziliter, mehr als das Zehnfache des Durchschnitts. Der Gerichtsmediziner sagte, dass Carpenters Herzversagen durch die wiederholte Anwendung von Ipecac-Sirup verursacht wurde, einem rezeptfreien Brechmittel. An dem Tag, an dem Karen Carpenter starb, war sie mit ihrer Mutter zum Shoppen verabredet. Sie lebte wieder unter einem Dach mit ihrer Mutter, im goldenen Käfig. Sie wollte sich einen roten Nagellack kaufen.

Beinahe zeitgleich wurden Karen und Yoko wiederentdeckt, wenn sie denn überhaupt je weg waren. Noch während sich das Establishment die Mäuler über sie zerriss, haben die Kinder der 70er die feinen, zarten Seelenbotschaften der beiden Künstlerinnen empfangen. Es waren die Kinder, die hingelauscht haben, als das Drama auf seinem Höhepunkt war. Die Kinder haben es als Erstes verstanden. Und die Riot Grrrls rehabilitierten Yoko Ono: Es war ihnen eine Ehre. Man kann sie eben doch nicht verarschen, the children of the revolution. Und so bekamen Karen Carpenter und Yoko Ono auf verschlungenen Wegen doch noch den Respekt ihrer Zeitgenoss:innen.
In den frühen 1990ern erschienen eine Menge Bücher über die Frauen in der Rockmusik, und Yoko Ono galt ihnen als Leitfigur. So handelt der Song »20 Years in the Dakota« aus der kurzen Hochphase Holes von Yokos traumatischem Leben im Dakota Hotel nach John Lennons Tod.

Und gleich die ganze Liga der Alternativerockstars coverte ihre Lieblingssongs der Carpenters. Die Bands auf dem Sampler If I Were a Carpenter schmieden ihre ganz eigenen Revolten. Die Carpenters als geheime Kindheitswaffe gegen KISS (so die Replacements). Gegen ältere Brüder (sagen Red Kross), gegen langweilige Sonntagvormittage (meinen Babes in Toyland). Shonen Knife covern »Top of the World« als niedliches Happy-Day-Stück. Das trotzige gefällige Lied, das mehr Respekt für Kinder einfordert, geht an die 4 Non Blondes. Und American Music Club bekommen das wunderbare postpessimistische »Goodbye to Love«. Die korrekten Underground-Bands freuen sich daran, dass sie schon in den frühen 70ern die Grenze ziehen konnten zwischen gutem Pop und Kitsch, Carpenters und Partridge Family.
Und dann sind da natürlich noch Kim Gordon und Sonic Youth. Nicht nur übernehmen sie auf dem Tribute-Sampler mit »Superstar« die Definition der tragischen Coolness. Sie schrieben schon 1990 für ihr Meisterwerk Goo das Stück »Tunic (Song for Karen)«. Darin stellt sich Sonic-Youth-Co-Sängerin und Bassistin Gordon den Moment vor, in dem Karen doch noch in den Rock-’n’-Roll-Himmel aufgenommen wird.

I’m in heaven now, I can see you Richard / Goodbye Hollywood, goodbye Downey, hello Janis / Hello Dennis, Elvis and all my brand new friends / I’m so glad you’re all here with me, until the very end

Nicht Karen Carpenter und Yoko Ono waren gut oder böse, es waren die 70er, sie konnten sich einfach nicht entscheiden, in welche Richtung die Reise gehen sollte. Denn wer enge Grenzen hat, kennt sich oft selber nicht und hat ein Problem mit Leuten, die zu genau wissen, wer sie sind. Lustigerweise wussten Karen und Yoko nur zu genau, was sie wollten.
Was, wenn das Establishment in Wirklichkeit Angst davor hatte, dass Yoko eine von ihnen ist: direkt in ihrer Begierde, häuslich und weiblich in ihrer Fürsorglichkeit; eine gute Ehefrau? Wenn das Schule macht! Dass Ehefrauen so wild sind. Und Karen Carpenter: gar nicht mal so sehr eine von uns. Irgendwie fremd, dann doch, mit ihrem Vater Harold Bertram Carpenter, der in China geboren und aufgewachsen ist, als Kind von britisch-amerikanischen Missionaren. Mit den dichten Locken, der geballten Ladung Musikalität in den Fingern. Der ausgemergelten Erscheinung, mit der sie uns allen vorgeführt hat, wohin uns das Twiggy-Ideal führt. Wenn das Schule macht: dass welche von uns so anders sind!
Beide sind, trotz aller Tragödien, ein wahres Beispiel für königliche Rebellion.

Übergeben wir das Schlusswort zu diesem Text der PussyRiot-Frontfrau Nadja Tolokonnikowa, die ja übrigens in Yoko Ono eine prominente Unterstützerin ihres Kampfs für Redefreiheit und gegen das Putin-Regime fand und gerade in einem Interview etwas wirklich Bemerkenswertes über die Wirksamkeit von Kunst für die nächste Generation von Russ:innen gesagt hat: »Ich glaube nicht, dass Kunst etwas schnell ändern kann. Kunst ist etwas, das in den Köpfen der Menschen wirkt, und dann treffen sie später andere Entscheidungen. Manchmal dauert es Generationen, bis sich ein politischer Wandel vollzieht. Kunst kann zu anderen Ergebnissen führen als erwartet.«

 

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