talking Musikjournalismus – Hans Nieswandt

Hans Nieswandt “Der interessanteste Musikjournalismus findet für mich heute in Buchform statt, manchmal auch in Blogs, und eher selten in deutscher Sprache”

Hans Nieswandt

Kannst du dich an den ersten musikjournalistischen Text erinnern, den du gelesen hast? 

Hans Nieswandt: An so etwas wie “den ersten Text” kann ich mich leider nicht mehr erinnern, aber ich habe auf jeden Fall schon ziemlich früh, mit zwölf oder dreizehn Jahren, angefangen, mein Taschengeld regelmäßig für Musikzeitschriften auszugeben. Dabei handelte es sich zunächst um ein Heft namens „Pop mit Melody Maker“. Ich habe mir anlässlich dieses Interviews die Mühe gemacht, noch mal ein bisschen zu recherchieren, was es damit eigentlich auf sich hatte und dabei ein paar überraschende Dinge festgestellt: das Magazin war bereits 1966 unter dem Namen „Pop“ von Jürg Marquard gegründet worden, und zwar in der Schweiz. Zum Zeitpunkt meines Einstiegs als Leser, also circa 1976/77, hatte dieses Heft offenbar eine Kooperation mit dem englischen „Melody Maker“ am laufen, die so aussah, dass es in der Heftmitte 8 oder 16 Sonderseiten gab, genau weiß ich das nicht mehr, die auf anderem, zeitungsmäßigerem Papier schwarzweiß gedruckt waren, ich meine, mit einer Zusatzfarbe, rot, anders als der farbige Hochglanzrest des Mags. Diese Sonderseiten, aus dem Melody Maker zusammenkuratiert und auf hochdeutsch, nicht schwyzerdütsch, übersetzt, boten nun etwas ganz anderes als die übliche deutsche Teeniepresse wie zum Beispiel„Bravo“.

Die “Bravo” habe ich mir zwar nie gekauft, wohl aber ab und zu naserümpfend darin herumgelesen, sonst hätte ich ja gar nicht gewusst, worin sie sich von den von mir favorisierten Druckerzeugnissen unterschied – „Bravo“ stand für Foto Love Stories, Aufklärung durch Nacktfotos von Teenagern, Fragen an Dr. Sommer, Starschnitte von den Bay City Rollers usw., insgesamt schien es mir ein Heft für Mädchen zu sein, jedenfalls haben es mir immer nur Mädchen geliehen.

In „Pop mit Melody Maker“, also dem Melody-Maker-Teil davon, gab es aber richtige Texte über Punk und New Wave, über Bands, von denen in Deutschland und vermutlich auch der Schweiz nur die wenigsten, um nicht zu sagen aufgeklärtesten, gehört hatten. Zu denen ich mich dann natürlich schnell zählte.

Um 1978 oder 1979 fusionierte „Pop“ dann mit dem im gleichen Verlag erscheinenden „Rocky“ zu “Pop Rocky“ – das habe ich dann aber schon nicht mehr gelesen, ab 1978 las beziehungsweise studierte ich nur noch die Hamburger „Sounds“. Vorzugsweise in der Badewanne. Das war dann schon ein seriöses Musikmagazin für Erwachsene, in dem mir dann auch erstmals bestimmt Autoren besonders positiv auffielen, weil sie über „meine“ Musik, sprich Post-Punk, New Wave usw. schrieben. Wie zum Beispiel Hans Keller, ebenfalls ein Schweizer, oder Alfred Hilsberg, der später die Labels ZickZack und What’s So Funny About gründen sollte. „Sounds“ wurde dann extrem spannend und noch viel wichtiger für mich, als es kurz darauf, an der Schwelle zu den 80er Jahren, einen Generations- und Paradigmenwechsel gab und Leute wie Diedrich Diederichsen, Kid P., Michael Ruff und andere gegen die alten Hippies wie Jörg Gülden, Teja Schwaner usw. kämpften und schließlich durchsetzten – alles stark verkürzt und zugespitzt formuliert.

Als die „Sounds“ im Januar 1983 zum letzten Mal erschien, war das für mich ein regelrechter Schock. Der dann aber durch die „Spex“, die damals schon drei Jahre existierte, relativ schnell aufgefangen wurde. Bald waren dann auch alle meine „Sounds“-Lieblingsautoren bei der „Spex“ gelandet und die Welt war wieder in Ordnung. In der kurzen Zeit des Vakuums nach dem „Sounds“-Ende gab es übrigens auch noch für etwa ein Jahr das Magazin „Scritti“, bei dem Leute wie der junge Tim Renner schrieben, das war aber keine ersthafte Alternative, auch wenn das Heft ebenfalls mit einem „S“ anfing. „Elaste“ aus München verdient in dem Zusammenhang ebenfalls eine Erwähnung, auch wenn es in eine etwas andere, schickere Richtung ging. Außerdem begann ich noch als Schüler, den englischen „New Musical Express“ zu lesen, den es seltsamerweise am Kleinstadtbahnhof zu kaufen gab.

Um noch mal kurz auf „“Pop Rocky“ zurückzukommen: das Heft hatte ich wie gesagt ab 1978 überhaupt nicht mehr auf dem Schirm, es erschien dann aber tatsächlich noch bis 1998, wie ich jetzt erst las, und fusionierte dann wiederum mit dem ebenfalls in der Marquard Media Group verlegten „Popcorn“. Das wurde dann irgendwann an Axel Springer verkauft, von dort an diesen und jenen anderen Verlag, bis es schließlich bei Ehapa landete (Asterix, Donald Duck), wo es unglaublicherweise bis heute erscheint, in einer Auflage von circa 15 000, einem minus seit 1998 von sage und schreibe 92 Prozent! Vermutlich lohnt es sich aber nach wie vor als Abschreibungsobjekt…

Gibt es ein Schlüsselerlebnis, das in dir den Wunsch geweckt hat, selbst musikjournalistisch zu arbeiten?

Kein Schlüsselerlebnis in dem Sinne, aber durch die Anfang der 80er Jahre auch in Deutschland aufblühende Fanzine-Szene stellte sich Musikjournalismus plötzlich als etwas ähnlich niedrigschwelliges und aus meiner Sicht cooles dar wie die Gründung einer Band. „Sounds“ und „Spex“ in Hamburg beziehungsweise Köln wirkten ja wie etwas kaum erreichbares. Ein eigenes Fanzine war dagegen machbar, und so gründete ich mit verschiedenen Freunden neben diversen Bands auch bald ein Fanzine mit dem schönen Namen „Guten Morgen“. Das hat sich dann nach meinem Umzug als Student nach Hamburg als sehr brauchbarer Türöffner erwiesen, um für professionellere Publikationen zu schreiben.

Was reizt dich am Format Musikjournalismus? Was zeichnet für dich guten Musikjournalismus aus?

Was mich als „hip young gunslinger“ (so das Stellenprofil jener berühmten Anzeige aus dem „New Musical Express“, auf die sich dann Julie Burchill und Tony Parsons beworben haben) angesprochen hat, war wohl die Idee einer Art aktivistischen, revolutionären Komplizenschaft mit den neuen Bands und anderen Role Models dieser Zeit. Zum anderen gefiel mir der Gedanke, nicht über Pop zu schreiben, sondern Pop zu schreiben, analog vielleicht zum New Journalism à la Tom Wolfe oder Hunter S. Thompson, also Texte, die selbst Pop sind. Als solche erschienen mir auch die Artikel meiner Lieblingsautoren aus der „Sounds“ und „Spex“. Pop-Texte, analog zu Pop-Musik. Deswegen hatte ich mich in Hamburg auch für Amerikanistik eingeschrieben und ungefähr zwei Semester ernsthaft studiert, bevor ich dann schon meinen ersten Redakteursjob bei einem Stadtmagazin erhielt.

Gibt es einen Lieblingsbeitrag (von anderen Musikjournalist:innen)?

Zu viele Beiträge von zu vielen AutorInnen…und meistens sind es dann Texte, die die AutorInnen selbst gar nicht so besonders mögen. Ein schönes Beispiel dafür ist Diedrichs berühmter Duran-Duran-Text, der dann auch in das problematische „Spex”-Buch aufgenommen wurde, obwohl ihm sein Prefab-Sprout-Artikel lieber gewesen wäre. Heutzutage schreibt ja niemand mehr über Musik, die er nicht mag. Nur Linus Volkmann nimmt das noch auf sich. Dabei sind das natürlich oft die erhellendsten und natürlich auch unterhaltsamsten Texte.

Dieselbe Frage auch für dich selbst: welchen Beitrag aus deinem Werkskatalog ordnest du aktuell als deinen wichtigsten ein?

Auch hier erscheint es mir fast unmöglich, einen einzelnen Text zu benennen, zumal ich kaum einen durchgehend gut finde, meistens nur einzelne Passagen. Mein Besuch bei Stephen Duffy in Great Malvern hat ein paar gute Dialoge und Szenen hervorgebracht. Teddy Riley in Amsterdam, Shock G in Oakland. Viele meiner Spex-Beiträge kann ich heute nicht mehr lesen, ohne zu cringen, falls man so sagt, wegen des hohen Tons, wegen ständiger Formulierungen wie „wie jedermann weiß“, „selbstverständlich“ u.ä. Ein permanentes, erstaunlich herbes Austeilen, „wie jedermann weiß sind INXS selbstverständlich der letzte Dreck“, so in der Art, ohne weitere Erläuterung. Vor allem in meinen ersten Jahren als Spex-Autor habe ich offensichtlich ein extrem hohes Maß an Einvernehmen bei den Leser:innen vorausgesetzt, ein hundertprozentig geteiltes Verständnis, auch auf riskantem Terrain wie zum Beispiel Ironie – jede/r versteht alles automatisch und komplett, das war meine Prämisse. In der späteren Phase hat sich das etwas abgemildert und die Texte wurden journalistischer, aber auch weniger poetisch, unterm Strich aber vermutlich doch eher besser. Ich kann sie heute entspannter lesen. Mir persönlich am wichtigsten war vermutlich meine Kolumne über House Music, die ich einige Jahre lang jeden Monat geschrieben habe, parallel zu meinen zunehmenden DJ-Aktivitäten.

Deine 3 Lieblings-Musikjournalist:innen?

Diedrich Diedrichsen, Kid P und Clara Drechsler hatten wohl den größten Einfluss auf mich. Diese Mischung aus Schlauheit, Schärfe, aber auch stets etwas zum Schmunzeln 🙂

Du bist selbst seit den 90er Jahren als Autor aktiv. Was sind die einscheidendsten Veränderungen in deinem persönlichen Berufsprofil über diesen Zeitraum?

Seit Mitte/Ende der 90er Jahre betreibe ich Musikjournalismus nicht mehr hauptberuflich, insofern habe ich viele Veränderungen als nicht so einschneidend für mich persönlich erlebt, stattdessen bis heute auch einiges an Kontinuität – sporadische, lange Artikel auf der Basis von Interviews und/oder Recherche und/oder Nachdenken, normale Plattenrezensionen. Bis vor kurzem hatte ich auch noch ein Papier-Abo von The Wire als wäre es immer noch 1980. Das kam in Seoul aber immer mit so viel Verspätung an, dass ich zum Jahreswechsel auf ein Digital-Abo umgestiegen bin.

Mir ist aber – selbstverständlich 🙂 – schon klar, dass sich durch das Wegbrechen all der Print-Anzeigenetats, durch die ökonomischen Veränderungen in der Musikindustrie, Blogs, Youtube usw. alles massiv verändert hat, das gilt für den Musikjournalismus genau so wie für die Musikproduktion und – distribution. Manches hat sich ins Feuilleton verschoben, nicht nur weil dort ja immerhin noch – meistens bescheidene – Honorare gezahlt werden, sondern auch weil es dort manchmal noch richtige Leser gibt, die mehr als nur Häppchen mit Links vertragen können. Insgesamt erscheint mir der Bedeutungsverlust aber doch erheblich, im Vergleich zu den Wellen, die man etwa in den 80ern und bis in die 90er Jahre hinein machen konnte. Der interessanteste Musikjournalismus findet für mich heute in Buchform statt, manchmal auch in Blogs, und eher selten in deutscher Sprache.

(Wie) kann man Musikjournalismus in das Storytelling von TikTok und Instagram überführen?

Vermutlich, in dem man sich selbst beim Vorlesen der eigenen Texte filmt? Oder irgendwas in der Art mit KI macht? Aber höchstens zehn Minuten lang?

Stichwort Karriere. Ab wann war Musikjournalismus für dich eine Berufsoption?

Als ich etwa 23, 24 Jahre alt war, regelmäßige Aufträge bekam und mir von den Honoraren meinen ersten Computer zum Schreiben kaufte.

Bereust du die Berufswahl manchmal?

Aber nein! Da ich das Glück hatte, noch in den letzten Tagen der goldenen Ära der Musikindustrie einzusteigen, als sogar Spex-Autoren nach LA und sonstwohin geflogen wurden, bin ich in jungen Jahren ziemlich herumgekommen, an Orte, die ich mir sonst nie hätte leisten können. Das Ausmaß, mit dem man gerade als Spex-Redakteur mit physischen Tonträgern, Konzertkarten, aber auch Aufmerksamkeit und Huldigungen bedacht wurde, war bemerkenswert und eigentlich genau so, wie ich mir das vorgestellt hatte, wenn man nicht über Pop schreibt, sondern Pop schreibt.

Letzter musikjournalistische Beitrag, der dir so richtig gut gefallen hat.

Ich freue mich immer über den Newsletter von Todd Burns, „Music Journalism Insider“. Dort finden sich jeden Monat jede Menge Links, allerdings ausschließlich englischsprachige, sprich US- oder UK-Texte. Da sind praktisch immer drei oder vier dabei, die ich fasziniert lese, oft über das, was ich „Themen“ nennen würde, also keine Künstlerporträts, sondern, was weiß ich, „Sexismus im Emo“, „Der Stand der Dinge im Baltimore Club“ usw. Ich bin ja auch in der Jury des International Music Journalism Awards, da fällt mir das bedauerlicherweise Jahr für Jahr auf, wie sehr der englischsprachige Musikjournalismus dem deutschsprachigen doch nach wie vor meistens überlegen ist…

Verlagssitz
Kaput - Magazin für Insolvenz & Pop | Aquinostrasse 1 | Zweites Hinterhaus, 50670 Köln | Germany
Team
Herausgeber & Chefredaktion:
Thomas Venker & Linus Volkmann
Autoren, Fotografen, Kontakt
Advertising
Kaput - Magazin für Insolvenz & Pop
marketing@kaput-mag.com
Impressum – Legal Disclosure
Urheberrecht /
Inhaltliche Verantwortung / Rechtswirksamkeit
Kaput Supporter
Kaput – Magazin für Insolvenz & Pop dankt seinen Supporter_innen!