Talking Musikjournalismus: Philipp Kressmann

Philipp Kressmann: “Fragen nicht für sich selbst stellen, sondern die Leserschaft im Blick haben”

Philipp Kressmann

 

Kannst du dich an den ersten musikjournalistischen Text erinnern, den du gelesen hast?

Philipp Kressmann: An diesen einen besonderen Text in einem Magazin erinnere ich mich nicht. Aber ich versank in vielen Musikexpress-Ausgaben. Die Lektüre der SPEX hat mich auch beschäftigt, obwohl ich mit ungefähr sechzehn Jahren noch nicht viel verstanden habe. Damals – heute zum Glück auch noch – habe ich mit meiner besten Freundin und sehr guten Freunden viel über Musik gesprochen. Aber Rezensionen sind ja kein Dialog. Ich glaube, alleine diese naturgemäß andere Struktur hat mich interessiert. Insbesondere Besprechungen von Alben, bei denen ich schon die Künstlerin, den Künstler oder die Band kannte. Dann wurde ich manchmal mit einer neuen Perspektive konfrontiert, die von mehr Distanz geprägt war. Ich erinnere mich etwa an eine Rezension in der VISIONS über Adam Green 2006, den ich damals regelrecht abgekultet habe. Im Text wurde der frühere Antifolk-Musiker aber eher kritisch als Clown porträtiert. Auch andere Argumente fand ich schlüssig. Und auf einmal gab es einen neuen Blickwinkel auf Green…

Gibt es ein Schlüsselerlebnis, das in dir den Wunsch geweckt hat, selbst musikjournalistisch zu arbeiten?

Ein Schlüsselerlebnis war es nicht. Ich glaube, dass das bei vielen Musikjournalist:innen erst einmal mit dem Wunsch beginnt, mit geschätzten Bands und Künstler:innen ins Gespräch zu kommen. So war es jedenfalls bei mir. Und dann entwickelt man den Anspruch, Fragen nicht für sich selbst zu stellen, sondern die jeweilige Leserschaft im Blick zu haben. Magazine über Popkultur haben mich immer begeistert. Meine Jugend waren die Nullerjahre. Ich war neidisch auf die Menschen, die viel früher als ich neue Musik hören konnten. Das sehe ich auch heute noch als Privileg, auch wenn die sogenannte Gatekeeper-Funktion in unserer Zeit natürlich ganz anders aussieht. Alles ist für fast jede:n schnell abrufbar. Andererseits birgt das ja auch Chancen.

Was reizt dich am Format Musikjournalismus? Was zeichnet für dich guten Musikjournalismus aus?

Guter, unabhängiger Musikjournalismus unterhält und informiert. Er fragt: Was hat das mit unserer Gegenwart zu tun oder mit der Zukunft? Er ist kritisch, hinterfragt Trends und darf sich meiner Meinung nach auch gerne an Details abarbeiten und aufhalten. Kritik ist natürlich sehr wichtig und essentiell – nicht nur in Bezug auf Veröffentlichungen, sondern auch im Hinblick auf bestimmte Begriffe, die heute ein Eigenleben entwickelt haben. Auch glattpoliert klingende Bands, die von Anfang an bei Major-Labels unter Vertrag stehen, werden heute etwa als „Indie“ gelabelt — sowas verwundert mich immer wieder. Aber Musikjournalismus sollte auch euphorisch sein dürfen, sich für Künstler:innen und Alben aufrichtig begeistern können. Was einen idealen Text auszeichnet, lässt sich für mich aber nicht final beantworten. Manchmal ist die radikale Subjektivität mitreißend und völlig plausibel – schön ist aber auch, wenn sie dabei nicht nur bei rein individuellen Geschichten bleibt, sondern auch mögliche Anknüpfungspunkte für Leser:innen bietet. Aber ich schätze auch zurückhaltendere Texte sehr; Beiträge, bei denen sehr viel recherchiert wurde und die popkulturelle Archiv-Arbeit leisten. Sich dieser unterschiedlichen Modi und Herangehensweisen bewusst zu sein, sich immer wieder neuer Musik anzunähern und sich dann für das Fazit auch wieder raus-zu-zoomen, das ist für mich sicher ein Reiz von Musikjournalismus. Und der hat zudem weiterhin eine Chronistenpflicht.

Gibt es einen Lieblingsbeitrag (von anderen Musikjournalist:innen)?

Spontan ein aktuelles Beispiel: Ich fand den ARD-Podcast über die Band Tocotronic von Stefanie Groth sehr gelungen, der Ende 2023 erschien. Sie hat es geschafft, die Bandgeschichte auch für Neueinsteiger:innen spannend zu erzählen und dabei immer wieder auch gesellschaftliche Entwicklungen und historische Ereignisse zu streifen. Das war toll aufbereitet und ich habe den Eindruck, so ein Podcast kann unterschiedliche Hörer:innen begeistern. Auch das sollte ein Anspruch von Musikjournalismus heute sein.

Dieselbe Frage auch für dich selbst: welchen Beitrag aus deinem Werkskatalog ordnest du aktuell als deinen wichtigsten ein?

Spontan denke ich an Beiträge für Deutschlandfunk Kultur. Ich habe einmal über Musik recherchiert, die den rechten NSU-Terror thematisiert. Dafür habe ich mit mehreren Künstler:innen gesprochen. Und für die Sendung Tonart habe ich auch an die rechte Gewalt in Hoyerswerda Anfang der Neunziger Jahre erinnert und recherchiert, welche Songs wie darauf reagiert haben. Beide Beiträge findet man in der Mediathek des Deutschlandradios.

Gibt es einen unveröffentlichten Beitrag von dir, den du schon immer gerne mal publizieren wolltest, es sich aber nicht ergeben hat? Kaput bietet sich im Rahmen der Serie gerne dafür an. 😊

Nein. In meiner Schublade gibt es keinen fertigen Beitrag. Aber ich erstelle Dossiers zu bestimmten Themen, die mir wichtig sind und nicht an einem bestimmten VÖ-Date hängen. Manches davon möchte ich sicher einmal umsetzen – wo und wann, steht aber noch nicht fest. Vielleicht ein Beispiel: Ich bin in zwei Stücken schon kurz auf die meiner Meinung nach hochproblematische, antisemitische Israel-Boykott-Kampagne BDS zu sprechen gekommen, aber das war in diesen Fällen nicht das eigentliche Hauptthema.

Deine 3 Lieblings-Musikjournalist:innen?

Martin Büsser! Von ihm stammt auch das erste musikjournalistische Buch, das ich gelesen habe. Seine Texte haben mir gezeigt, zu welchen Analysen guter Musikjournalismus fähig ist. Büssers Recherchen über Antifolk, die New Yorker Subkultur, haben mich beschäftigt. Ich schätze auch seine Bezüge zur kritischen Theorie, also beispielsweise zu Adorno. Das Themenspektrum von ihm war breit: Er hat über rechte Tendenzen im Pop geschrieben, aber auch eher vergessene Künstler:innen in der Pop-Historie gewürdigt. Außerdem hat er sich gegen Nationalismus im Pop engagiert. Für manche Texte muss man sich sehr konzentrieren, aber das ist ja etwas Schönes. Die Lektüre lohnt sich. Ich glaube, er hat Pop-Kultur verdammt ernst genommen. Naja, das sollte man ja auch…

Jens Balzer ist ein toller Autor und versierter Chronist. Sein Buch über die Neunziger Jahre, das Gesellschaftsgeschichte im Spiegel der Pop-Kultur und andersherum erklärt und reflektiert, war eines meiner Lieblingsbücher im vergangenen Jahr. Außerdem schreibt Balzer auch über aktuelle Themen und Diskurse, es gibt zum Beispiel einen Essay über kulturelle Aneignung. Ich glaube aber, dass er sich gar nicht primär als Musikjournalisten bezeichnen würde. Er kennt sich mit Deleuze genauso aus wie mit Public Enemy. Ich finde das inspirierend.

Linus Volkmann finde ich sehr unterhaltsam und humorvoll. Ich habe früher in der Intro diese 50:50-Sparte gemocht, wo zu einem Album zwei Meinungen abgedruckt werden. Ein fantastisches Format. Linus hat mich oft überzeugt. Und ich habe mit der Zeit gemerkt, dass ein – anders als erst einmal vermutet – keineswegs einfach zu schreiben ist. Durch diverse Porträts von ihm habe ich zudem neue Bands entdecken können, im letzten Jahr zum Beispiel Bipolar Feminin. Ende 2023 hat er Lesungen über seine Bravo-Heftsammlung gemacht. Das war lustig und unterhaltsam, aber gleichzeitig auch aufklärerisch und mit Haltung versehen.

Du bist selbst seit den Zehnerjahren als Autor aktiv. Was sind die einscheidendsten Veränderungen in deinem persönlichen Berufsprofil über diesen Zeitraum?

Ich sehe heute natürlich strukturelle Veränderungen. Die Streaming-Dienste prägen die Hörgewohnheiten. Generell ist es kein Geheimnis, wie Technologie Einfluss auf Komposition, Songlänge etc. nimmt. Wie gesagt, die Gatekeeper-Funktion ist heute anders. Durch Instagram, TikTok etc. melden sich heute viele Künstler:innen oft selbst zu Wort – manchmal ist das spannend, manchmal irrelevant.

So oder so: Es ist insgesamt schnelllebiger geworden. Das merke ich auch als Konsument.

Was mir zuletzt auffiel: Während der Corona-Pandemie hat man mehr über die Infrastrukturen innerhalb der Musikbranche gesprochen. Dass das gefühlt mehr Thema wird, finde ich gut und wichtig. Und ich gewinne zunehmend auch den Eindruck, dass mehr Künstler:innen offen über ihre ökonomische Situation sprechen wollen.

Und über den eigenen Horizont hinaus: wie empfindest du den Status Quo des Biotops Musikjournalismus im Jahr 2024 im Vergleich zu früher?

Ich glaube nicht, dass meine Erfahrungen mich schon befähigen, einen historischen Vergleich zu wagen. Was ich sagen kann: Es gibt extrem viele Veröffentlichungen, aber paradoxerweise hat es der Musikjournalismus heutzutage insgesamt viel schwerer als früher.

Ende der Zehnerjahre ist mir aufgefallen, dass immer mehr Musikthemen auch im Feuilleton auftauchen, dessen Umfang insgesamt aber ja nicht gewachsen ist. Trotzdem stellt das natürlich eine positive Entwicklung dar, wenngleich zum Beispiel die SPEX analog und auch digital nicht „überlebt“ hat.

Gleichzeitig merke ich bei mir selbst, dass ich immer mehr Bücher über gesellschaftliche Themen entdecke, in denen Pop-Musik wenn nicht die Hauptrolle, aber doch eine sehr relevante Rolle spielt. Und für das Format Podcast gibt es ja anscheinend auch noch das nötige Quantum Aufmerksamkeit. Zudem nimmt man da niemanden eine Fläche weg.
Ich glaube, dass Musikjournalist:innen weiterhin ihr Spektrum erweitern werden, also nicht nur klassische Reviews schreiben und Interviews führen müssen. Denn Pop-Musik ist heute ja ohnehin viel zugänglicher. Insgesamt könnte es für meinen Geschmack auch noch mehr interdiszplinäre Projekte geben: Journalist:innen aus unterschiedlichen Ressorts arbeiten zusammen. Mehr davon würde ich mir jedenfalls wünschen.

Ich halte die klassischen Formate weiterhin für sehr wichtig. Aber man sollte schon versuchen, sich breiter aufstellen. Heute bekommen bestimmte Themen – zum Glück – mehr Aufmerksamkeit. Damit haben sich Musikjournalist:innen sicher auch schon früher beschäftigt, aber heute sieht es vermutlich nochmal anders aus. Das ist ja auch eine Chance für den Musikjournalismus: Wie steht es mit Diversität im Pop-Betrieb und auf Festivals? Oder ein anderes Thema: Wie unterschiedlich sind die Bezahlmodelle von Streaming-Plattformen? Auch so etwas sollte uns Musikjournalist:innen ja beschäftigen. Ein letztes Beispiel: Es gibt ja mittlerweile auch mehr Beiträge in Form von Artikeln, Podcasts oder Talks, in denen Menschen aus der Pop-Kultur über Mental Health sprechen. Das ist kein musikjournalistisches Thema, aber auch hier spielt Pop-Musik oft eine Rolle.

(Wie) kann man Musikjournalismus in das Storytelling von TikTok und Instagram überführen?

Bei TikTok würde ich wohl aktuell kapitulieren. Das soll gar nicht kulturkonservativ klingen, zeigt mir gerne positive Beispiele! Bei Instagram sehe ich persönlich aber mehr Potential. Generell: Es muss unterhaltsam sein und trotzdem eine gewisse Tiefe wagen. Was man dort wohl weniger braucht: Einen Stil, der sich zu sehr an Schriftsprache orientiert. Theoretisch wären Interviews ja auch via einer Story durch eingebettete Video-Antworten von Bands und Künstler:innen gut machbar. Ich wundere mich manchmal, warum das nicht häufiger versucht wird. Die ausführlicheren Artikel kann man dann schließlich auch verlinken. Das kann man natürlich auch selber bewerkstelligen…

Stichwort Karriere. Ab wann war Musikjournalismus für dich eine Berufsoption?

Ich habe beim Campusradio gearbeitet und dort erste Erfahrungen sammeln können: Rezensionen schreiben, Sendungen aufbereiten, Interviews führen. Das war eine prägende Zeit, in der ich viel gelernt habe und die sicher Weichen gestellt – auch wenn da noch einiges eher autodidaktisch ablief.
So oder so: Ich kann Praktika bei Campusradios nur empfehlen. Wenn es zeitlich möglich ist, sollte man solche Angebote wahrnehmen.

Aber klar, ein wenig Glück gehört auch dazu. Bei mir hat es sich dann neben anderen Tätigkeiten mit der Zeit ergeben. Ich habe als freier Autor beim Radio angefangen. Und damals dann unter anderem auch für die SPEX geschrieben – heute schreibe ich frei für den Musikexpress und manchmal Reviews für die VISIONS. Aber es gibt ja auch im universitären Bereich durchaus Raum für Pop-Kultur und Pop-Musik im weitesten Sinne. Das interessiert mich ebenfalls sehr, zumal es da Veranstaltungen gibt, die auf Praxiserfahrungen angewiesen sind.

Bereust du die Berufswahl manchmal?

Nein – ich würde nicht sagen, dass ich das bereue. Natürlich kann es manchmal stressig sein. Und ich ertappe mich manchmal dabei, dass ich die Arbeit gedanklich mit in die Freizeit nehme. Da bin ich als freier Kulturjournalist sicher kein Einzelfall. Es sind schließlich oft Themen, für die ich mich privat interessiere. Das kann durchaus ambivalent sein. Aber ich glaube, man lernt mit der Zeit, das ein wenig besser für sich handzuhaben.

Letzter musikjournalistischer Beitrag, der dir so richtig gut gefallen hat.

Ich erinnere mich noch gut an einen Text von Ulrich Gutmair über DAF und Gabi Delgado – es war kein Nachruf. Gutmairs close readings von DAF-Songs fand ich sehr erhellend. Leider finde ich den Text nicht mehr online.

Den Nachruf von Linus Volkmann auf Torsun von Egotronic fand ich zuletzt berührend:

Außerdem habe ich 2023 das Buch „Punk statt Putin“ von Norma Schneider mit Gewinn gelesen. Es setzt sich mit der Sub- und Gegenkultur in Russland auseinander. Norma Schneider ist Lektorin und Autorin. Ich kann auch in diesem Fall nicht mit Sicherheit behaupten, ob sie sich überhaupt primär als Musikjournalistin begreift. Und das gilt ja auch für einen anderen Autor, den ich hier erwähnt habe…

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