Record of the Week – Besprechung: Anne Otto

The Doctorella “Mondscheinpsychose, Bordsteinrose”

The Doctorella
“Mondscheinpsychose, Bordsteinrose”
(Bohemian Strawberry)

Man kommt nachts bei Regen in einer Stadt an, in der man schon war, fährt mit Bahn oder Taxi durch die Straßen – und verliert plötzlich fundamental die Orientierung. Für einen Moment scheint alles Upside Down. Als wisse man nicht mehr, wie die Dinge liegen. Eine wohltuende Art, verloren zu gehen, die oft nur Minuten anhält, bis irgendwo ein vertrauter Punkt auftaucht, die Leuchtreklame einer Bar, eine markante Straßenecke und sich alles neu zusammenfügt.

Etwas ähnliches habe ich beim Hören des neuen Albums “Mondscheinpsychose, Bordsteinrose” der Schwestern Sandra und Kersty Grether erlebt: Die Pop-Hit-Americana-Strawberry-Aktivismus-Atmosphäre, die durchs Vorgängeralbum wehte – das ich häufig und gern gehört habe – scheint verschwunden und überwunden. Jetzt geht es anders: Noise-Pop, Dark-Psychedelic, Post-Punk-Parts, lange Spannungsbögen, mal repetitiv, mal ausgreifend melodisch bestimmen den Sound. The Velvet Underground, The Breeders oder King Hannah klingen an. Manchmal scheint auch eine beschwipste Prog-Rock Band am Werk zu sein, die ihre Arrangements zwar gut ausgefeilt hat, aber übermütig von den Songstrukturen abweicht. Wird das jetzt auseinander fallen? Nein, doch nicht.

All das ist überraschend, überragend, verstörend. Etwa im heimlichen Ohrwurm „Cliffhanger“ oder dem drängenden „Oh Antonio.“ Die Arrangements lassen sich mühelos mit den Texten des Albums verknüpfen. Es dreht sich um die Themen, für die beide Musikerinnen seit Jahrzehnten stehen: Feminismus, Aktivismus, die Alltäglichkeit von Ausnahmezuständen, die Fragilität von Beziehungen. Doch der Ton ist existenzieller geworden. Alles ist Kippfigur: Selbstermächtigung ringt mit Ohnmacht, weibliches Begehren kann befreiend oder von Gewalt bedroht sein.

Man hört das Ringen darum, sich zu entfalten, während man gleichzeitig versucht, den ganzen Wahnsinn zu überleben. Zeilen wie „Wir sind immer noch die, die wir waren, als wir vergewaltigt worden sind“, „Ich hör auf, für dich zu lügen“ oder „Ella hält und Ella fällt, sonst wäre es nicht Ella“ sind Splitter aus unterschiedlichen Songs, passen aber zusammen. Trotzdem ist jedes Stück eine Welt für sich. Das liegt sicher auch an der Produktionsweise: Jede Schwester hat eine Reihe Songs allein fertiggestellt, erst im Studio wurden Gesänge, Gitarren oder Sound-Ideen der jeweils anderen beigesteuert.

Dass die Produktion so kühn ausgefallen ist, mag auch daran liegen, dass die beiden sich mit dem Multi-Instrumentalisten Daniel Benyamin (Sea and Air) zusammengeschlossen haben, der als Produzent und Schlagzeuger die Sound-Vision des Albums umgesetzt und angestachelt hat. Die dunkelgeträumten, hook-poetischen Songs wie „Cliffhanger“ stammen von Kersty, Sandras Lieder klingen post-punkig, etwa das wütende und irgendwie auch witzige „Saint white Male“ oder deep-folkig, zum Beispiel „Komm wir kaufen Sommerkleider“, eine Freundschaftsgeschichte, die an Kindheitsnachmittage und Spinnenkeller erinnert, wo der 4/4-Takt in einen Walzer übergeht, der einen dann durch den Tag tanzen lässt. Ein Sofort-Lieblingslied, eine vertraute Klangfarbe. Aber nur kurz. Dann geht es weiter mit der Fahrt durch die Dunkelheit, velvet und noisy. Gut so.

Anne Otto

 

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