Making Time Festival 2024

Time keep slipping – for relaxing times, make it Making Time time

Making Love with Lauren, Dave P, JG Wilkes (Optimo), Andrew Ferguson and Keith McIvor (Optimo)

„(Keep slipping
Time keep slipping)“
(…)
„Timetables keep turning – like tinseltown
You’ve got the both ends burning – to the boogie down
(Time-time keeps slipping)
They play for time
And work for spaces
Timetables keep turning – and clocks are wound
You’ve got the both ends burning – and worked around
And in their prime
They change their faces“

(Scritti Politti, „Tinseltown to the Boogietown“)

 

Words: Thomas Venker / Photos: Jonathan Forsythe 

Die Zeit läuft uns davon. Ständig. Ein Jahr zwischen zwei Festivaleditionen kann einem da schon mal wie ein Monat oder maximal zwei vorkommen.
Aber die Zeit, sie kann sich auch sirupartig ausbreiten, gefühlt zum fast Stillstand kommen – zumal wenn man mit Druiden der alten Rave-Schule unterwegs ist.

Ich habe schon viele Festivaltage- und -nächte verbracht, aber bis auf einen ganz speziellen Tag auf dem Melt! 2014 dehnte sich keiner so unendlich lange aus wie der Opening Day des diesjährigen Making Time Festivals.

Die Zeit, sie hätte sich allerdings keinen besser Tag für ihren special trick auswählen können, quasi auf den Tag genau ein Jahr (in konventioneller Zeitrechnung) nach dem, was in die Geschichtsschreibung von Philadelphia als der „Flood of Fort Mifflin Day“ eingegangen ist, präsentiert sich die historische Fort-Anlage, idyllisch zwischen dem Flughafen und dem Delaware River gelegen, so makellos, als ob hier nie der Schlamm einen Meter hoch gestanden hätte (die Anlage trägt nicht ohne Grund den Spitznamen „Mud Island Fort“), und so aufgekratzt, als ob es das allerste Mal ist, dass Besucher:innen das Areal betreten seit im Herbst 1777 während des American Revolutionary War die Britische Armee ihre Bomben auf das Fort abgeworfen hat.

Die Sonne scheint, es hat wunderbare spätsommerliche Temperaturen und wirklich alle, die sich zum dritten Making Time Festival eingefunden haben, sind bereit, die besten Tage ihres Sommers hier zu verbringen, egal, ob sie ihm ein Brat voranstellen oder noch nie davon gehört haben, da sie zu alt für Social Media sind – denn neben der sehr jungen Hauptkommune an Besucher:innen gibt es auch eine solide 40+-Kohorte, sehr zur Freude von established ravers wie mir.

Das Lineup an diesem Tag (wie an allen drei Festivaltagen) ist eine kolossale Überforderung, da man sich ständig aus mehren zwingenden Optionen für eine entscheiden muss (selbiges gilt für das absurd gute Gastroangebot, inklusive eines Pop-Up-des Bar-Brutal-Restaurants aus Barcelona).

Denn auch wenn die Zeit ins endlose gedehnt wird, hat man ja trotzdem nicht mehrere Körper, um zugleich überall zu sein (ein physikalisches Grundgesetzt, das immer gilt, es sei denn man heißt Demi Moore und hat Zugang zu ganz anderen Substanzen) – und die Wege zwischen den fünf Bühnen, sie werden auch nicht kürzer, wenn die Sekunden sich ausdehnen.

Das Festival eröffnet gleich mit drei Auftritten von Musikerinnen, deren Releases 2024 für mich wesentlich geprägt haben:

Claire Rousay

Jessica Pratt

Valentina Magdaletti

Der Rest des Tages und Nacht gehört Carista (die, wie schon beim Dekmantel Festival Anfang August, ein mitnehmend dynamisches Set spielt, das sich in den Sonnenstrahlen geradezu auflöst), Job Jobse (den ich viel zu lange schon nicht mehr gehört habe und der beim Auflegen immer so schön strahlt, dass man als Tänzer:in sowieso nicht anders kann, als sich in seinen Sound fallen zu lassen), John Talabot (mit einem seiner zu Recht viel gepriesenen Disco-Sets), und Floating Points (der, ein bisschen Kritikfähigkeit bleibt selbst im Zustand aufgelöster Zeitdimensionen erhalten, gerne nicht auch noch Drum´n´Bass auflegen muss, manchmal ist weniger definitiv mehr; generell an dieser Stelle mal ein Plädoyer für klar definierte Genre-Sets), ein wunderbarer Staffellauf von DJ-Koryphäen, ebenso treffend unterbrochen durch die energischen Konzerte von Model/Actriz und Marie Davidson.

Besser geht kaum, sollte man meinen – wobei der nächste Tag mich widerlegen wird.

Model/Actriz

Während der Musik die Endlosigkeit meiner Wahrnehmung zuarbeitet, wirkt sie sich auf der Heimfahrt weniger anregend aus. Wenn man wirklich sehr dringend auf die Toilette muss, ist es einfach nicht schön, wenn jede Sekunde ein Jahrhundert dauert. Aber irgendwie gehen sich die Dinge ja immer aus, gerade wenn man in anderen Dimensionen steckt.
Notiz an mich selbst: mehr Verständnis im Alltag für andere Menschen entwickeln, denn offensichtlich befindet sich 99% der Menschheit ständig in einer anderen Zeitzone als ich.

Ein Pool ist zum Schwimmen da.

Bitte hundertmal an die Tafel schreiben.
Alle.
Wie kann man den überhaupt auf die Idee kommen, seinen überteuerten Drink im Pool trinken zu müssen?

Andererseits braucht man ja immer irgendwas zum mosern, right? Warum also nicht mit theatralischer Miene den Hotelpool verlassen, wo das Festival „netterweise“ einen Nachmittagsfloor am Pool hostet.

Den Samstag, für den ich mir vorgenommen habe, die Ratschläge meiner Druiden auf jeden Fall zu ignorieren und wertkonservativ zu agieren, eröffnet Theo Parrish für uns. Theo, gerne mal grumpy, hat gar keine andere Chance als sich auf unsere Gutgelauntheit einzulassen, als er zu uns in den Hotelaufzug einsteigt und mit Liebe überschüttet wird. Insofern geben wir uns ein bisschen Credits für das wunderbare Sundowner-House-Set, das er nun auflegt.

2many Djs

Weitere Highlights des Samstag im Stakkato, da ja niemand wirklich ellenlange Set-Analysen lesen will:
Nosedrip
–  JDH
2many DJs
– Anish Kumar
Caterina Barberi live
– Paranoid London live

Den Schlusspunkt an diesem geradezu magisch perfekten Festivaltag setzt John Talabot mit einem Set, das mich mit seinem deepen technoiden Charakter sehr an sein legendäres Melt!-2014-Set denken lässt.

Amish Kumar

JG Wilkes (Optimo)

Selbstdisziplin

Der Sonntag erfordert bekanntermaßen bei Festivals schon viel an Selbstdisziplin, wenn man sich nochmals aufraffen will. Im vergangenen Jahr lag ich um 18.50 (zehn Minuten vor dem Set-Beginn von DJ Koze) noch in meinem abgedunkelten Hotelzimmer und schwor mir, nie wieder (also nie nie wieder) auf ein Festival zu gehen, körperlich und seelisch von einem Schlamm-Tsunami in der vorherigen Nacht zugerichtet, bevor die Whats-App-Einschläge meiner Freund:innen mich schließlich doch derart mit FOMO aufladeten und ins Uber beförderten – fürs Protokoll: das Set von Koze war natürlich unglaublich gut.

Heute gestalten das noch immer stabil sommerliche Wetter und das Lineup den Aufbruch weniger dramatisch. Vor Ort belohnen Time is Away (die drei Tage zuvor schon bei einem RVNG Intl. Listening Event gezeigt haben, dass in ihrer Klangwelt Zeit tatsächlich keine Rolle mehr spielt); Optimo (Escacio) (zunächst mit einem mitreißenden Hardcore-Set); Yu Su (wirklich jeder Track, den die New Yorkerin spielt, scheint nur für sie produziert worden zu sein); Paula Tape (leider bekomme ich nur die letzten Takte mit, bei denen man sofort aber gerne mehr gehört hätte, nicht zuletzt, da sie eine unglaubliche Happyness ausstrahlt beim Auflegen); Aurora Halal (ein wunderbar dunkles, energisches, psychedelisches Techno-Set, stilistisch bei sich (was in Zeiten, wo viel zu viele Djs denken, sie müssten möglichst alle Genres einbauen, eine extra Erwähnung wert ist) und dennoch mit offener Geste performt; Nosedrip (diesmal mit einem Techno-Set, das sehr gut in die Grotten der Fort-Anlage passt).

Yu Su

Aurora Halal (left) and Paula Tape

Zum großen Finale des Festivals zieht es uns zur Hauptbühne, wo Bicep ein B2B mit Optimo (Espacio) spielen. Vielleicht nicht das beste Set, das sie in ihrem Leben gespielt haben, aber das ist in diesem Moment auch gar nicht der Punkt. Hinter ihnen stehen Making-Time-Veranstalter Dave P und seine Partnerin in Crime und Fun Lauren sowie etliche team members und genießen das, was Dave später den besten Tag seines Lebens nennen wird.

Ganz ehrlich, als ich 2023 sprichwörtlich aus dem Schlamm vom Gelände gekrochen bin, hätte ich keine Aktien darauf gezeichnet, dass das Making Time Festival nochmals eine Edition erleben würde.
Das Team hat wirklich eine fantastische Arbeit geleistet, angetrieben von ihrer Liebe zur Musik und zu ihrer Heimatstadt Philadelphia, unterstützt von einer internationalen Community aus Künstler:innen, die zu schätzen wissen, was hier besonderes aufgebaut wird – und in 2024 auch mit Unterstützung des Wettergotts Raijin.

Für einen kurzen Moment hadere ich damit, dass ich den Druiden keine Chance mehr gegeben habe, würde dann doch dieser wundervolle Tag nie zu Ende gehen. Andererseits ist es manchmal aber doch gut, wenn Feierabend ist. Während sich also die meisten anderen Besucher:innen auf den Weg zur Aftershowparty machen, erinnere ich mich weise an meine Lektionen aus dem Vorjahr und von diversen anderen Anlässen und erspare meinem Körper die Schmerzen am nächsten Tag und all den bad buzz, den sie für den Rückflug nach Europa bedeuten würden.

Ich werde in 2025 wiederkommen, keine Frage. Allein schon, um den Nachbericht nicht wieder mit einem billigen Kalauer zu beenden, wie dieser Referenz an den Suntory-Whisky-Werbespot in Sofia Coppola´s Film „Lost in Translation“:

„For relaxing times, make it Making Time time“

 

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