Eine Rückführung

Zehn Tage vor zehn Jahren – auf Lesereise mit Torsun (Teil I)

21. März 2023,

Vor zehn Jahren bot sich mir die Möglichkeit, mit Torsun Burkhardt von der Band Egotronic auf eine zehntägige Lesereise quer durch Deutschland zu gehen. “Das Ende des bewaffneten Kampfs ist noch nicht vorbei” lautete der Titel unserer Zusammenkunft. Wir kannten uns vorher kaum. Danach war (nicht nur) das anders. Danke für alles, Torsun!

Das Krokodil und sein Nilpferd: Torsun (links) und Linus Volkmann geben alles.

Ich möchte nicht übertreiben, aber als Bücher schreibender Putzerfisch des Pop-Zeitgeists fiel für mich und meine grelle Schreibe in den Zehner Jahren durchaus ein wenig Ruhm ab. Allein für den wirklichen Durchbruch im Buchgeschäft reichte es dann aber doch nicht.
Da traf es sich gut, dass der schillernde Torsun Burkhardt von Egotronic gerade ein Buch über einen verdrogten Rave-Sommer herausgebracht hatte. „Raven wegen Deutschland“ hieß es und sein Label Audiolith eröffnete mir die Möglichkeit, mit jenem Wahlberliner (Odenwald-Hintergrund) auf eine gemeinsame Lese-Tour zu gehen.
Torsun… ich runzelte die Stirn. Ja, ich hatte diesem verhaltensauffälligen Musiker schon ein paar Mal die Hand geschüttelt, meinte ich mich zu erinnern. Aber mit so jemand zehn Tage auf Tour? Sein Ruf lag irgendwo zwischen einem linksradikalen H.P. Baxxter und Christiane F. Ich schätzte meine Chance, aus der Nummer halbwegs unbeschadet heraus zu kommen auf 20 Prozent ein. Nicht gerade eine beruhigende Quote.
Doch mein damals erschienenes Buch „Kein Schlaf bis Langenselbold“ brauchte dringend einen Push. Ein Push, damit ich mir wenigstens weiter vorgaukeln könnte, ich wäre noch im Rennen um vordere Plätze des langsam verwesenden Genres Popliteratur.
Ich sagte also zu.

Torsun ist nicht so der Typ, der immer nur sitzen möchte. Schon im Schon Schön performte er mitunter im Publikum.

16.11. Mainz / Schon Schön

Der Titel unter dem unsere gemeinsame Gastspielreise fungiert, lautet “Das Ende des bewaffneten Kampfs ist noch nicht vorbei”.
Ich habe mir allerdings aus Vorangst hinsichtlich einer Klassenfahrt mit der pharmakologischen Urgewalt Torsun schon seit Tagen Halsschmerzen eingebildet, Halsschmerzen, die dann mittlerweile auch in echt eingetreten sind.
Selbstverhexung halt. Bleich und unlocker fahre ich mit der Bahn in Mainz ein.
Der erste Termin ist – natürlich – immer ein Richtungsweiser für eine längere Tour, man kann ihn vergleichen mit dem Vogue-Horoskop zum Jahreswechsel.
Unsere Veranstaltung startet einigermaßen vielversprechend. Das klingt vielleicht etwas vage, aber meine Erinnerungen an jenen Abend sind eher spärlich. Aber lautet nicht ein altes Schausteller-Sprichwort „Wenn sich niemand mehr erinnert, darf die Show furios gewertet werden“? Nein, sorry, diese Wendung habe ich selbst noch nie gehört. Schade eigentlich.
Festzuhalten ist zumindest, dass Torsun ein wirklich abenteuerliches Bühnenprogramm in seinem zerschlissenen Rollkoffer mit sich führt. Es schließt auch sowas wie „die Abenteuer von Fix und Toxi“ ein, die überzeichnete Persiflage auf die Jugendcomic-Helden von Rolf Kauka. An einer anderen Stelle im Ablauf wird Torsun stets aufstehen und im Publikum einen fiktionalen Deutschpunktext brüllend vortragen.
Was der sich alles traut?!, denke ich an diesem Abend zum allerersten Mal, das weiß ich noch. Denn es ist Gedanke, der mich ab dann hinsichtlich Torsun immer begleiten wird – und zwar bis heute.

MAINZ Blick aus dem Fenster des Intercity-Hotels. Glamour pur.

17.11. Karlsruhe / Vanguarde

Wir verlassen das Intercity-Hotel Mainz und begeben uns nun also gemeinsam auf die Reise. Mein zehntägiger Lebensabschnittspartner, um nicht zu sagen, frisch vermählter Tour-Ehemann Torsun und ich. Hallo Schienennetz, my old friend, I‘ve come to talk with you again.
In Karlsruhe sind wir schnell und kommen an diesem Tag unter im Schupi. Wow, einem… 30-Sterne-Hotel? Ganz normal in Baden-Württemberg möglicherweise. Der Ton in diesem exklusiven Hideout wirkt allerdings eher rau. Die Hotelbesitzerin versteht das Ausfüllen des Meldezettels beispielsweise als eine Art Einbürgerungstest und lässt keinen Zweifel aufkommen, dass sie alle Daten gleich mit dem BKA-Rechner abgleicht.
Später entgleisen ihre Gesichtszüge, als Torsun sie bittet, uns ein Taxi zu bestellen. Hätte er gefragt, ob sie ihm ihre Zahnbürste und einen Hunni leihen könne, der Ekel hätte nicht größer sein können. Taxiruf geht dann aber eh nicht. Nach sechs “könne man nicht mehr raustelefonieren”.


Überhaupt Taxis. Am besten lernt man Leute ja immer noch beim Thema Geld kennen. Torsun gibt dem Fahrer heute über fünf Euro Trinkgeld. Ich staune. Ist er vielleicht doch Reemtsma-Erbe, einer von den Guldenburgs – oder einfach ein ganz großzügiger Mensch?
Ich muss das alles im Auge behalten!
Doch vorher gilt es noch, die abendliche Show zu überstehen. Die findet in einem irgendwie kathedralen-ählichen Raum statt und Torsun hat Bock auf Trinken. Am Ende stehen auf unserem Lesetischchen eine zweistellige Anzahl leerer Bierflaschen. Ich habe zu dieser Zeit kein Bier sondern nur Schnaps-Schorlen getrunken – daher lässt sich das alles auch im Nachhinein gut zuordnen. Ich vergesse die Sache mit den 5-Euro Trinkgeld wieder und versuche lieber zu erklären, wie man soviel Bier zu sich nehmen und dennoch ohne Ausfälle performen kann. Ich hätte mich lallend eingenässt unter diesen Umständen, Torsun hingegen war nicht mal auf dem Klo. Überhaupt ist das Einzige, was Torsun auf unserer Lesereise an Rauschmitteln zu sich nimmt, Bier. Dass ich mich hier auf einem May-Day-Rave-Himmelfahrtskommando befinde, scheint gar nicht der Fall. Wie soll ich das bloß den Schaulustigen daheim erklären? Naja, „daheim“ ist eh gerade nur noch eine ferne Erinnerung.

KARLSRUHE Dieses Bild von jener Veranstaltung ist auch noch überliefert. Ich schicke es an die Lieben daheim. Rückfrage damals von jenen: „Oh, Gott! Sind das etwa Maden?“

18.11. Heidelberg / Karlstorbahnhof

Der Lese-Abend findet statt in einer Art Loft, das statt auf Wände einzig auf Fenster setzt. Fenster, Fenster, Fenster! Von überall kann man so die lächerlich pittoreske Kulisse der ganzen Stadt überschauen. Heidelberg, das ist Porno für Touristen aber Gift für unser subkulturelles Nerd-Programm. In diesem malerischen Kaff kommt jedenfalls irgendwie keiner zu unserem geilen Bromance-Abend. So starren wir durch die gefühlt hundert Fenster aufs Neckar-Panorama und ziehen natürlich trotzdem durch. Hauptsächlich für die Leute von der Garderobe, die aus Interesse (Vermutung: Mitleid) motiviert mit im fast leeren Saal hocken.

HEIDELBERG Mehr Fenster als Fame für uns.

HEIDELBERG Seltener als ein vierblättriges Kleeblatt auf dem Mond: Bestelldienst Ultra Torsun kocht in der Künstlerwohnung was auf einem Herd.

HEIDELBERG Gespräch in der Werbeagentur: „Wir können nicht damit werben, dass Rod Stewart ein aufregendes Leben hatte. Die Leute verklagen uns den Arsch ab bei diesem öden Buch!“ „Schreiben wir doch ‚ziemlich aufregendes Leben‘, dann denkt jeder, okay, wir waren gewarnt.“

19.11. München / Feierwerk

München, wer kommt schon gern nach München? Na, ich bestimmt nicht. Mein Begleiter allerdings freut sich bereits tierisch auf diesen Abend. Nanu! Die Erklärung: Jüngst auf einem Tourstopp in der „bayrischen Landeshauptstadt“ (Quelle: Wikipedia) habe er sich hier … verliebt. Richtig gelesen! Der mir bis dahin eher asexuell anmutende Mann, den man von Außen mit Pillen oder seinem Sequencer verheiratet wähnen würde, ist Feuer und Flamme – und das in Bayern. Spannend! Selina würde heute zur Veranstaltung kommen. Sie wäre wunderschön und seine Traumfrau.
Ich vermute daher, dass er gleich nach der Lesung mit ihr abhauen wird. Bestimmt wollen sie sich ausufernd paaren. Man kennt sowas. Ich bin ja nicht von gestern. Während ich das denke, schaue ich mich in den verwinkelten riesigen Schlafsälen und Katakomben des Münchner Feierwerks um. Hier also heute Nacht allein in einem der Raum mit acht Stockbetten pennen? Himmel, in diesem Shining-Ambiente traut sich doch niemals jemand zum Pinkeln raus. Notiz an mich: Unbedingt eine Flasche nebens Bett stellen.
Doch meine egoistische Sorge ist unbegründet – vorerst. Denn Torsun und Selina hängen nach der Show noch mit mir und einigen Egotronic-Fans Backstage ab. Das Thema Israel ist in der antideutschen, hedonistischen Linken, die Torsun maßgeblich mitgeprägt hat, zu jener Zeit omnipräsent. So finden sich auch wir hier im Backstage schnell in einer Diskussion dazu wieder. Einmal getriggert lässt Torsun den Gesprächsfaden bald nicht mehr los und brettert jegliche Gegenrede nieder. Ein gescholtener Fan sinkt immer tiefer ins Mobiliar. Selbst schuld, hätte er halt vor einer halben Stunde mal nicht „ja, aber“ sagen sollen. Dennoch wirken alle zufrieden.
Dann drängt Selina doch irgendwann zum Aufbruch. Immerhin sehen sie sich heute erst zum zweiten oder dritten Mal in echt. Torsun geht mit ihr, ich bleibe in einem der vielen leeren Schlafräume allein zurück. Unheimlich.
Ich habe an diesem Punkt natürlich keine Ahnung, dass ich sechs oder sieben Jahre später bei der Hochzeit von Selina und Torsun dabei sein werde. Bitte hier Herz-Emoji denken, mehrere.

MÜNCHEN, Schlafsaal Feierwerk. Sieht komisch aus? Hey, vielleicht haben sich kurz vor mir hier Lady Gaga, Oasis, Billy Talent oder Bratze in den Schlaf geweint. Aufregend!

20.11. BAYREUTH / Glashaus

Eine der zehn relevantesten deutschen Städte muss unserem Tourrider zufolge also Bayreuth sein. Verrückte Vorstellung – oder eine bizarre Verwechslung? Nein, ist alles ernst gemeint. Und ich erlebe hier wieder, welchen Unterschied gute Läden für die Szene-Kultur machen können. Wir laufen ein in gewachsene Strukturen und bei engagierten Leuten. Der Rest geht bei solchen Voraussetzungen dann meist wie von selbst. Und tatsächlich erleben wir einen zugewandten Abend mit reichlich Publikum. Ich höre bloß einfach immer weg, wenn wieder jemand davon anfängt, dass es hier in Bayreuth die meisten (oder besten? Oder beides?) Brauereien gäbe. Über diesen internalisierten lokalpatriotischen Hopfen-Abzess sehe ich großzügig (lies: Augen rollend) hinweg.
Ach so, in diesen doch sehr zünftigen Zusammenhängen bleibt mir noch hängen, dass es als Catering … Schweinshaxe gibt, auf die – jetzt kommt’s – Torsun sich schon seit Tagen freut. Nicht so sehr wie gestern auf Selina, aber im Vorfeld fällt dieses schreckliche Wort (Haxe) mehrfach. Meine Toleranz hinsichtlich Fleisch essen darf 2012 dabei ungefähr ähnlich groß vermutet werden, wie die von Torsun hinsichtlich „berechtigter Kritik am Staate Israel“.
Ich ziehe eine Fresse und esse Nüsse, Snickers und Laub. Überhaupt versuche das große Haxe-Gelage, was sich nun tatsächlich mit vielen Beteiligten des Ladens Bahn bricht, allen irgendwie madig zu machen. Aber mein Bad Vibe verfängt nicht bei diesem Mahl, das auch gut ans Ende eines Asterix und Obelix Comics gepasst hätte. Ich fühle mich wie der in den Baum gehängte Barde. In der Rolle kenne ich mich wenigstens aus. Irgendwann ist dieser Wirtshaus-Alptraum dann ja auch vorbei und wir lassen uns von den Gästen durch unser gut gelauntes Programm hofieren.

BAYREUTH Am Ende signiert Torsun noch einer Person ihren Schuh.

BAYREUTH „Seht nur, dieser Autonome fischt alle unsere Kuscheltiere aus dem Automaten und der andere Vogel fotografiert das. Jagen wir sie mit Fackeln und Mistgabeln nach Bamberg!“

… Ende des ersten Teils
Freut euch auf die Fortsetzung in den illustren Städten Dresden, Berlin, Hamburg, Münster und Braunschweig.

Text: Linus Volkmann

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