And Do You Feel Addressed? I Do.
And Do You Feel Adressed? I Do.
Ganz im Sinne von slow journalism geben wir uns in diesem Monat nicht dem nächsten und neusten Hype hin. Stattdessen nehmen wir uns Zeit und hören genauer hin, suchen die explizit feministische Perspektive auf Popkultur.
Annett Scheffel macht den Auftakt und hat sich tief reingehört in „When I Get Home“, das neue Album von Solange Knowles. Sie schreibt über dessen politische Relevanz für unsere Zeit – und darüber, was die Musik einer schwarzen Amerikanerin mit ihr selbst zu tun hat.
1. Solange und viele Fragen
Wie ist das eigentlich, wenn man Musik liebt, die man gar nicht komplett verstehen kann? Wenn man das Gefühl hat, diese Musik spricht zu einen, zu eigenen Stimmungen und Gefühlen und Überzeugungen, auch wenn man weiß, dass man gar nicht gemeint ist? Wenn es in dieser Musik um Erfahrungen und Lebensumstände von Menschen geht, die tausende Meilen weit weg sind – mental und geografisch? Wie eng kann mein Verhältnis sein, als weiße Europäerin, zu Popmusik, die vom Schwarzsein in Amerika erzählt? Ist es vermessen, zu behaupten, ich fühle mich dieser Musik nah?
Oder ist es ganz anders und man ist doch gemeint, weil Musik immer alle meint oder meinen kann? Weil sie verbindet, was erstmal nicht zusammenzugehören scheint? Weil sie ist wie ein großer Raum, in den man durch viele Türen gelangen kann und in dem viel Platz für alle möglichen Projektionen? Und: Wird ein Song, ein Album, ein Musikvideo erst für mich relevant, weil ich mich in ihm wiedererkenne? Oder erkenne ich mich ihn ihm wieder, weil es relevant ist?
Fragen über Fragen. Nicht dass es das erste Mal ist, dass ich sie mir stelle, aber im Angesicht der Musik von Solange Knowles, verdichten sie sich zu einer großen Selbstbefragung. Warum liebe ich diese Musik so sehr, die vom Leben einer schwarzen Frau erzählt? Warum interessieren, ja faszinieren mich die kunstvoll schwebenden Soul- und R’n’B-Tracks bis in die kleinsten Feinheiten, warum sprechen sie zu mir, und was sagen sie? Wie es ist, Schwarz zu sein in einer amerikanischen, vermeintlich post-rassistischen Gesellschaft? Kann ich das von Europa aus überhaupt verstehen? Kann ich das als Weiße verstehen?
Es gibt viele Erklärungen für meine Bewunderung. Einigen will ich in diesem Text nachgehen, über andere habe ich schon an anderer Stelle gesprochen. Die aller meisten davon hängen mit der künstlerischen Vision zusammen, die hinter Solanges Musik steht. Für andere musste ich tiefer graben, hinein in eine Welt, die über die Grenzen der Musik hinausweist, die sie umhüllt und einbettet in seine Zeit.
2. This shit is for them
Solange ist längst viel mehr als eine Popsängerin – und mehr als Beyoncés kleine Schwester ohnehin. Sie ist eine eigensinnige Popfigur, sie ist Songwriterin und ihre eigene Produzentin, sie ist Choreographin, Tänzerin, Performance-Künstlerin und Videoregisseurin, und sie ist Aktivistin, Role-Model und Chefin ihrer eigenen Firma Saint Heron (einer Mischung aus Plattenlabel, Kreativagentur und schwarzem Thinktank). Über eingeweihte Indie-Kreise hinaus wurde sie durch ihr Album „A Seat At The Table“ bekannt, auf dem sie 2016 in warm und Sirup-artig fließendes Neo-Soul-Songs die essentiellen Stimmungen und Gedanken des schwarzen Amerikas destillierte. „A Seat At The Table“ kam wie aus dem Nichts, ohne Ankündigung, ohne Vorahnungen – und wie kaum eine andere Platte traf sie damals den Nerv der Zeit. Und sie traf mich. Überrollte mich mit ihrer Schönheit und dem Mut, mit dem Solange der Frustration über die Marginalisierung von Schwarzen eine strahlende Zuversicht entgegensetzte. Es ist für mich das wichtigste Album des Jahrzehnts. Ich wüsste nicht, was noch kommen sollte.
In der Kunst, die sie macht, erkennen sich viele schwarze Amerikaner wieder, besonders schwarze Frauen. Und auch ich sah etwas darin, That’s how you face the world, dachte ich. Und hatte gleichzeitig keine Ahnung. „They don’t understand / What it means to me / Where we chose to go / Where we’ve been to know”, sang Solange in „Don’t Touch My Hair”. Und sie verteidigte in „F.U.B.U.“ ihre Blackness gegen die Fetischisierung und Vermessenheit eines weißen Publikums: „This shit is for us!“ Die Linie, die sie hier wie mit weißer Kreide auf einen Gehweg zog, schloss Weiße, schloss mich aus. Trotzdem muss ich nicht Schwarz sein, um so viel zu verstehen: Sie schützt sich vor Übergriffen, indem sie sie ausspricht und anklagt, laut und klar. Grundwerkzeug jeder Emanzipation. Mut kann das jedem machen. Auch denen, die keine Berührungspunkte haben mit dieser speziellen Form der Ungerechtigkeit. Auch mir.
Von derselben Kraft lebt auch das neue, im März erschienene Album, „When I Get Home“. Es beschäftigt sich auf deutlich experimentellere und fragmentarischere Weise mit den Bildern und Imaginationen eines schwarzen Amerikas. Wo „A Seat At The Table“ deutlich aussprach, ist „When I Get Home“ eher eine kunstvolle, freiassoziierte Vorstellung von schwarzer Identität. Einerseits macht das ein Verständnis im Außenblick noch schwieriger. Andererseits: Ist es nicht oft viel einfacher Dinge und Wahrheiten zu fühlen, als sie zu benennen?
3. Eine unvorhergesehene Liebe
Natürlich kann man nicht auf Solanges Musik blicken – und überhaupt auf R’n’B, Soul, Hip-Hop oder jedes andere moderne Popgenre mit afroamerikanischen Wurzeln – ohne sich den komplexen Verstrickungen von Kultur, Rasse und Musik bewusst zu sein. Wie schrecklich einfach wäre es, wenn Musik nur Musik wäre, wenn dabei Dinge wie Hautfarbe und Geschlecht keine Rolle spielen würden. Aber die Sache ist komplizierter. Denn das Publikum ist nicht objektiv und das Publikum hat eine Hautfarbe.
Dennoch war mein eigener Blick auf afroamerikanische Musik in seinen Anfängen erstmal naiv. So wie jede Liebe vielleicht. Damals in diesen Tagen zwischen Kindheit und präpubertären Suchbewegungen ähnelte meine schnellentdeckte Begeisterung für Aretha Franklin, Erykah Badu oder De La Soul in ihrem historischen Bewusstsein zunächst dem Phänomen des Northern Soul: jener britischen Musikszene, die sich ab Ende der 60er um wieder- und neuentdeckte amerikanische R’n’B-Musik entwickelte. Die (größtenteils weißen) jungen Briten hatten keine Ahnung von den Verhältnissen im Ursprungsland. Sie liebten einfach die Musik, ihre Tanzbarkeit und groovende Wärme. Musik, die für ein europäisches Publikum überhaupt nicht vorgesehen gewesen war, in der sie aber eine Authentizität entdeckten, die vielleicht noch stärker wirkte, weil sie aus einer fremden Wirklichkeit zu ihnen hinüberdrang. Ungefähr so war es auch bei mir: Ich verstand schwarze Musik, ihre Stimmen und Beats zuerst emotional, bevor nach und nach die gesellschaftlichen Zusammenhänge in mein Bewusstsein drangen. Bevor ich genauer hinhörte, was Nina Simone, Gil Scott-Heron oder Public Enemy da über Revolution, Stolz und die Black Community sagten.
4. Die neue schwarze Kulturmacht
Das gerade Solanges „A Seat At The Table“ 20 Jahre später eine so starke Wirkung auslöste, liegt auch an dem Moment, in dem es in die Welt trat: damals im Herbst 2016, in jenen Wochen vor und nach dem US-Wahlsieg von Donald Trump, in denen der Schock tief saß zwischen Rechtspopulismus, Brexit und #BlackLivesMatter und in denen eine ganze Generation auf unangenehme Weise neu politisiert wurde. Und in der amerikanischen Unterhaltungsindustrie begannen die Stimmen schwarzen KünstlerInnen lauter zu werden: Kendrick Lamars „To Pimp A Butterfly“ war im Vorjahr erschienen, Beyoncé hatte in ihrer Super-Bowl-Halbzeit-Show mit Black-Panther-Referenzen gespielt, im Frühling 2017 gewann Regisseur Barry Jenkins für „Moonlight“ den Oscar und über Jordan Peeles gesellschaftspolitische Satire „Get Out“ wurde so viel diskutiert, wie schon lange über keinen Horrorfilm. 2018 folgte der erste schwarze Marvel-Superheldenfilm, Childish Gambinos „This Is America“ wurde zum meistdiskutierten Videoclip des Jahres und Jay-Z und Beyoncé eigneten sich mit „Apeshit“ medienwirksam eine sehr weiße Kulturinstitution an, den Pariser Louvre.
Das sind nur einige Beispiele, aber sie spiegeln eine Zeit, in der das öffentliche Bewusstsein konditioniert ist auf Themen wie Rassismus, Polizeigewalt und Black Empowerment. Auf eine Besonderheit dieser Entwicklung der letzten Jahre machte mich vor ein paar Monaten Barry Jenkins in einem Interview aufmerksam: „Immer mehr Arbeiten von schwarzen KünstlerInnen kommunizieren miteinander. Musiker, Schriftsteller, Regisseure inspirieren sich gegenseitig.“ Elemente und Bedeutungen würden an verschiedene Stellen wiederauftauchen und weiterentwickelt werden. Eine Videoästhetik tauche in einem Kinofilm wieder auf, der Film als Referenz in einem Songtext, der Song in einem Roman. Dieser „wachsende Kosmos“, seine Größe und Macht, sei eine Besonderheit unserer Zeit.
5. Imaginationen im interdisziplinären Erkundungsraum
Solange ist Teil dieses Kosmos. Für mich, die ich seit 20 Jahren von außen auf diese Sphäre schaue, ist sie sein Mittelpunkt. Weil sie in ihrer Kunst die Disziplinen so schlau und elegant verbindet wie niemand sonst. Das neue Album zeigt das noch klarer als zuvor, vor allem wenn man sich den 30-minütigen Film anschaut, den Solange zu „When I Get Home“ gedreht hat. Zusammen mit ihren skizzenhaften Songs, den Moog-Synthesizer und gedämpften Drum-Patterns ergeben die surrealen Bilderwelten zwischen schwarzen Cowboys, kühlen Stadtabsichten und wundersamen Tanzformationen eine besondere Art von Multimedia-Kunst. Solange, die in den letzten Jahren auch bei Video anderer KünstlerInnen Regie geführt hat (SZA – „The Weekend“), hat mittlerweile eine eigene Ästhetik entwickelt: schwerelose Bewegungen, schwarze Körper inmitten von brutalistischer Architektur und langsame, weite Zooms.
Wie weit Solange ihre Arbeit mittlerweile in Richtung Kunstwelt erweitert hat, zeigt sich besonders in einer Sequenz gegen Ende des Films: Mehrere Dutzend TänzerInnen versammeln sich hier inmitten eines kreisförmiges, weißen Kunstobjekts in einer kargen Steppe. Die artifizielle, riesenhafte Skulptur in mitten der Landschaft und die meditativen Ausdruckstänze machen den Videoclip zu Videokunst – Popmusik zum interdisziplinären Erkundungsraum. Sie habe sich vorgestellt, sagte Solange bei einem Album-Release-Event in Houston, wie das wäre, wenn ein junges, schwarzes Mädchen in 20 Jahren nach einer Referenz suchen könnte, nach einer schwarzen Künstlerin, die Kunstwerke dieser Dimension in der Landschaft gemacht hat. Und dass es etwas schaffen wollte, was dieses Mädchen aus der Zukunft entdecken kann.
Dieser Fokus auf die Kunstwelt deutete sich bei Solange schon vor einigen Jahren an: Ein erstes Anzeichen waren die ambitionierten Live-Shows zu „A Seat At The Table“, in denen sich Tanz, Musik und Kunst-Performance vermischten. Damit trat sie unter anderem im Guggenheim Museum in New York auf. Außerdem zeigte sie Performance-Videos im Hammer Museum (Los Angeles) und Tate Modern (London). Die Idee dahinter ist so einfach wie revolutionär: Schwarze Kunst, besonders die von schwarzen Frauen sollen hinein in die immer noch überwiegend weißen Kunstinstitutionen (eine Idee, die Beyoncé und Jay-Z mit ihrem Louvre-Video übernommen haben). Darüber wie feinselig sie dort oft immer noch behandelt werden, hat Solange einen sehr lesenswerten Essay geschrieben, sein Titel: „And Do You Belong? I Do“.
Deswegen zeigt sie im „When I Get Home“-Film auch Versatzstücke schwarzer Alltagskultur als kunstvolle Artefakte amerikanischer Geschichte: Grills, die zeitlupenhafte Screwed & Chopped-Musik, Twerk- und Pole-Dancing, das Abhängen auf Parkplätzen. All das wird dramaturgisch mit so viel Bedeutung aufgeladen, dass es wirkt wie eine afrofuturistische Zeremonie, wie sie Sun-Ra, Rotary Connection oder dem Stevie Wonder der „Journey Through the Secret Life of Plants“-Phase gefallen hätte. So schafft sich Solange ihr eigenes Referenzsystem – unabhängig von dem, was gerade populär ist und sich gut verkaufen könnte. Mit „When I Get Home“ befreit sich Solange auf spektakuläre Weise von der Vorstellung, Popmusik müsse im Zeitalter von Spotify und YouTube schnell erfassbar sein. Solange will woanders hin, sie will keine 15 Minuten Aufmerksamkeit, sie will tiefer ins Bewusstsein.
6. Being black, being a woman
Solanges Kunst erzählt davon, wie es ist eine schwarze Frau zu sein. Den ersten Teil davon kann und werde ich nie verstehen, den zweiten allerdings schon: Ich weiß, was es bedeutet, in dieser Welt eine Frau zu sein. Ich verstehe die Wut auf die Ungleichheit und den Wunsch ihr etwas entgegenzusetzen. Natürlich ist Rassismus und Sexismus nicht das gleiche. In beiden Fällen geht es aber um Macht und Deutungshoheit. Und in beiden Fällen wirken schädliche Rollenbilder und diskriminierende Strukturen zusammen. Potenziert wird die Ungleichheit, wenn sich verschiedene Formen von Herrschaftsverhältnissen verschränken. Ein Mechanismus, mit dem sich die intersektionale Theorie beschäftigt.
Wie stark Sexismus und Rassismus miteinander verzahnt sind, zeigt ein Blick in die Kommentare unter einem Feature des New York Times Magazines über Solange: Es ist fast erschreckend, wie viele der Kommentatoren (und wir bewegen uns hier im liberalen amerikanischen Leserspektrum!) es für nötig und angemessen halten, über die Art und Weise zu urteilen, wie freizügig und „unverhohlen sexuell“ sich Solange auf den Bildern zeigt, die das Feature begleiten, und sich darüber zu beschweren, dass der Text sie als „Universalgelehrte“ beschreibt. Eine andere Kommentatorin bemerkt wunderbar klug: „May be it’s the smug urge to assert one’s presumption of being the true judge of greatness, whose title must solely be attributed to Michelangelo or Frank Sinatra, and not some avantgarde R’n‘B artist they’ve never heard of.“
In Museen mag es zu wenig schwarze KünstlerInnen geben – viel weniger noch als weibliche – aber es gibt auch immer noch zu wenig Frauen. Und auch in der Musikindustrie ist das Frauenbild, das Solange verkörpert, noch keine Selbstverständlichkeit: die selbstbestimmte Künstlerin, die alle kreativen Fäden ihrer Musik selbst in der Hand hält. Es geht nicht nur um das schwarze Mädchen, das in 20 Jahren zurückblicken wird, es geht darum, wie wir überhaupt dort hinkommen.
Dafür brauchen wir starke Frauen, wie Solange, die den alltäglichen Angriffen ihre eigene Erzählung entgegensetzen. Die uns daran erinnern, dass Gesellschaften an verschiedenen Perspektiven wachsen. Die uns von ihrer Welt erzählen, die wir vielleicht nie ganz verstehen, aber von der wir lernen können. Über das Schwarzsein, das Frausein, das Menschsein. That’s how you face the world.
Annett Scheffel ist freie Journalistin und Redakteurin, u. a. für den Musikexpress und die Süddeutsche. Sie sagt, es braucht mindestens fünf Anläufe, um Solanges Knowles’ Musik zu verstehen. Sie lebt in Berlin.