Anna Zett im Interview über ihren Beitrag zur Ausstellung „Memory is not only past“ präsentiert Anna Zett aktuell in der Akademie der Künste der Welt

“Was hat diese allgegenwärtige Angst mit Leuten mit Ostbiographie gemacht?”

Videostill aus der Arbeit “Es gibt keine Angst” von Anna Zett (© Anna Zett)

Die Künstlerin und Autorin Anna Zett stellt mit „ihrer emotionalen und analytischen Praxis repressive Strukturen in Frage“ (Quelle ADKDW)„ und öffnet einen Raum für freie Assoziation und eigenes Erleben.“

Im Rahmen der Ausstellung „Memory is not only past“ präsentiert Anna Zett aktuell in der Akademie der Künste der Welt ihr neues Projekt „Neues Forum der Nerven“, eine Kombination aus immersiver Rauminstallation und partizipativen Ereignissen, das sich mit der basisdemokratischen Widerstandsbewegung in der DDR auseinandersetzt. Im Zentrum des Projekts steht die neue Filmarbeit „Es gibt keine Angst“, mit der sie an ihre frühere Filmarbeit „Endarchiv“ anknüpft (ausgehend von einer Recherche im Berliner Archiv der DDR-Opposition).

 

Anna, lass mich mit einigen Überlegungen zu den übergeordneten Themen der Ausstellung beginnen. 
Was bedeutet „Keine Angst vor der Kunst“ für dich persönlich und als Künstlerin?

Anna Zett

Anna Zett: Ich glaube, die Kuratorin Ala Younis hat mich auch deshalb für diese Ausstellung ausgesucht, weil ich mich mit Angst beschäftige – meine Arbeit stellt Angst ins Zentrum. Der Film, der Teil der Ausstellung ist, heißt zwar “Es gibt keine Angst”, aber eigentlich wird schon am Anfang klar, dass es eine Art Thriller ist, wenn auch ohne konkrete Bedrohung. 
Die Frage ist: spüre ich die Angst? Mich interessiert das Gefühl der Angst genau so wie dessen Überwindung.

Es gibt im Raum innerhalb der Installation auch ganz konkret diese fünf Buchstaben: A-N-G-S-T.
Physisch kann man es sich in diesen Sitzsäcken buchstäblich gemütlich machen – Angst als etwas, was aushaltbar ist. Wir können sie spüren und überwinden.
Bedingt durch meinen Hintergrund (Anna Zett ist in der DDR geboren; Anm. der Red.) idealisiere ich das „not afraid of“ nicht, sondern finde es okay, manchmal Angst zu haben und dann eben Wege zu finden, diese Angst auch loszulassen, zu beruhigen.

Ich habe letzte Woche ein langes Gespräch mit der englischen Musikerin und Schauspielerin Keeley Forsyth geführt, in dem es viel um Dunkelheit ging. Dunkelheit wird ja auch – wie Angst – zumeist negativ konnotiert, aber eigentlich zu unrecht, denn beiden Begriffen steckt ja ein unglaubliches Erkennungspotential inne, wenn man sich erstmal von der Angststarre freigemacht hat. Man merkt schnell, dass die Angst vor der Dunkelheit, um beim Beispiel zu bleiben, oft größer ist als in der Dunkelheit.

Ja, es gibt diese Angst vor der Angst. Wir vermeiden dieses Gefühl! Obwohl es eigentlich ein total hilfreiches Gefühl ist und zu uns gehört wie alle anderen Gefühle. Bei diesem großen Assoziationsraum Angst, gibt es erstmal eine starke, negative Aufladung. Deswegen kann ich verstehen, dass Leute das versuchen zu meiden. Es gibt aber auch eine Lust an der Angst, beispielsweise sind Thriller ja deswegen erfolgreich, weil die Leute eine Lust daran empfinden, in kontrollierten Bedingungen Angst zu erleben. Man hat im Kino die Chance, Angst zu durchleben, in dem man sich mit bedrohten Protagonist:innen identifiziert – und am Ende dem Horror entkommt. Wir alle müssen dieses kontrollierte Durchleben von Angst lernen und üben. Wir können das nicht automatisch.
Jeder neue Entwicklungsschritt im Leben ist mit Angst verbunden – und Angst ist quasi der natürliche Beschützer im Sinne von “Ist das jetzt gefährlich? Was könnte passieren? Sei jetzt extra vorsichtig.”
Und es ist ja auch gut vorsichtig zu sein, extra die Sinne zu schärfen, wenn wir was Neues lernen oder neuen Situationen begegnen.
Angst erhöht die Aufmerksamkeit – das ist ja etwas Positives. Aber das wird – zumindest teilweise –  auch missbraucht, wir werden im real existierenden Kapitalismus derzeit immer wieder in einem Zustand der Angst versetzt, dem wir teilweise gar nicht mehr entkommen. Mich interessiert – auch in Bezug auf die DDR-Geschichte – da nochmal genau hinzuschauen und die Angst trotzdem als etwas zu behandeln, das uns hilft.

Damit sind wir auch schon beim zweiten übergeordneten Thema der Ausstellung: „Memories is not only the past“. Um der Angst zu begegnen, greifen wir auf unser Gedächtnis, unsere Erfahrungswerte, aber auch auf die Erfahrungswerte unseres Umfelds zurück.

Aus einer neurowissenschaftlichen Perspektive – die meine Arbeit schon lange begleitet – ist es komplett selbstverständlich, dass Erinnerung nicht nur die Vergangenheit betrifft, sondern dass sie unser Skill-Set ist, unser Abbild der Welt, das wir immer wieder erneuern und verändern. 
Erinnerung ist eine Konstruktion, das sagen Neurowissenschaftlerinnen immer wieder. Wir brauchen diese Zurückbindung an alte Geschichten, an alte Erfahrungen und Gefühle, konstruieren sie aber in jeder Aktivierung neu. Du kannst dich nicht einfach an eine Sache erinnern und alles andere unberührt lassen, unsere Erinnerung ist ein lebendiges Netzwerk – alle Links sind veränderlich. Wenn ich eine Sache beginne zu erinnern, dann hat das einen Einfluss auf weitere Teile meines Gedanken-Netzwerks. Bestimmte Verbindungen werden gefestigt, andere werden dünner. So stelle ich mir das zumindest vor. Dabei hängt Erinnerung immer von Emotionen ab – je stärker meine emotionale Reaktion, desto wahrscheinlicher, dass ich etwas erinnere.
Deswegen ist es auch so wichtig, als Gesellschaft immer wieder neu hinzuschauen und empathisch zu fragen: Wie war es, vor der Staatsicherheit oder vor politischer Repression Angst zu haben? Was hat diese allgegenwärtige Angst mit Leuten mit Ostbiographie gemacht? 
Ich persönlich habe diese Angst als Kind erlebt, ohne dass ich konkret gewusst hätte, was politisch eigentlich vor sich geht. Trotzdem habe ich es gespürt. Die Erinnerung an dieses Gefühl zu integrieren, das ist Arbeit, das passiert nicht von alleine. Wir müssen dieser Vergangenheit aktiv begegnen und diese unbequemen Gefühle neu integrieren, wenn wir verstehen wollen, was in der Gegenwart passiert.

Mich interessiert auch, wie das persönliche Gedächtnis mit dem Archivgedächtnis zusammenhängt, wie beides einander helfen kann. Das Archiv ist natürlich erstmal nur abgelagertes Material, das hat zunächst keine integrative Rolle, es kann auch vergessen werden.
Die Gedichte, die in meinem Film vorkommen, die sind als Audioaufnahmen auch in namhaften Archiven vorhanden, nur hat trotzdem niemanden Zugang dazu, weil niemand weiß, dass sie existieren. Die Kassette ist zum Beispiel auch im Getty Archive in L.A., in der Staatsbibliothek, in der Akademie der Künste – sie ist überall archiviert und trotzdem vergessen. Ich habe dabei gelernt, dass es wichtig ist, diese Links persönlich zu aktivieren, auch in Zusammenhang mit eigener physischer Erinnerung. Nur dann können wir mit Geschichte was anfangen, Man sagt ja immer: „Wir müssen aus der Geschichte lernen!“ –  das tun wir aber nicht, wenn wir die Geschichte nicht auch emotional aktiv bearbeiten.

Videostill aus der Arbeit “Es gibt keine Angst” von Anna Zett (© Anna Zett)

Genau diesen Impuls braucht es eben: du hast die Kassette für alle gefunden. Das tangiert eine andere Frage, die mir während deiner Antwort davor gekommen ist. Die Art, was wir erinnern, wie wir erinnern, ändert sich ja die ganze Zeit, 
Nun beschäftigst du dich ja schon länger mit der DDR Aufarbeitung. Wie gehst du damit um, dass die Menschen, die die Dinge wahrscheinlich innerhalb von einem gewissen Zeitraum anders erinnern? Also gar nicht nur faktisch, sondern gerade auch was das Emotionale betrifft. Ich kann mir beispielsweise vorstellen, dass sich das Gefühl der totalen Bedrohung irgendwann setzt und ein nostalgische Färbung einsetzt. Worauf ich hinaus will, wie gehst du damit um, das sowohl das faktische als auch das persönlich-emotionale Material fluide ist?

Mir zeigt das vor allem, dass ich Teil einer Gegenwart bin, also einer historischen Veränderung. Das bereitet mir keine Sorgen, da ich nicht den Anspruch habe, alles auf einmal sehen zu wollen.
Man kann nie alles sehen, sondern nur teilhaben an einem bestimmten Moment, der auch nicht nur dein eigener Moment ist, sondern in einem sozialen Zusammenhang stattfindet. Es inspiriert mich, wenn ich im Gespräch mit anderen Leuten merke, was gerade in der Gesellschaft los ist. Und ja, wenn man nach zehn Jahren wieder hinguckt, dann war zum Beispiel ein DDR-Aufarbeitungsmoment 2014 ein komplett anderer als heute. Wir können nie die DDR als solches erzählen oder gar abhaken, es lässt sich nicht verbindlich sagen: So war es wirklich! Schon gar nicht für alle.

Ich kann nicht mal für mich – oder für meine Eltern – sagen, wie es wirklich war, weil jeder einzelne Mensch ein komplexes System voller Widersprüche ist, ein lebendiges Wesen, das immer wieder die eigene Geschichte neu erzählt.
Trotzdem gibt es bestimmte historische Problematiken, die alle betreffen, es gibt bestimmte Unterdrückungssysteme, die in einer Gesellschaft etwas anrichten und wo es dann auch wichtig ist, sich zusammen zu tun und quasi zusammen zu erinnern. Eine Gruppe weiß immer mehr als ein Individuum, weil es eben gar nicht möglich ist für ein individuelles Gehirn, alles zu behalten. Ich habe das erst vor kurzer Zeit so richtig verstanden, was es bedeutet, in einer Gruppe zu erinnern – damit meint ich jetzt nicht ein ganzes Land, sondern es kann auch eine Gruppe im privaten Raum sein, beispielsweise eine Familiengruppe. Während man selbst etwas schon vergessen hat, erinnern sich andere vielleicht noch – und wenn man die Puzzleteile zusammensucht, entsteht ein komplexes Bild. Nur wenn ich meine Erinnerung mit anderen Leuten teile, kann ich ein realistisches Bild bekommen, weil ich bestimmte Dinge vergessen habe aus Gründen, die vielleicht auch mit Verdrängung zu tun haben. Meine Erinnerung wird unrealistisch, weil sie beispielsweise von Vorurteilen oder Idealvorstellungen geprägt ist, deswegen ist es sehr wichtig, in der Gruppe zu erinnern, nicht zwingend eine Gruppe von Freund:innen, das können auch Menschen sein, die ich in einem Archiv finde.

Ich war selbst nicht dabei bei der 2. Besetzung der Stasi-Zentrale im September 1990, aber das Videomaterial davon hilft mir die 1980er Jahre zu erinnern. Als Kindergartenkind hatte ich damals einen viel kleineren Möglichkeitsraum als die Leute im Film und brauche deswegen ihre Unterstützung, um aus meiner Erinnerung eine zugängliche Erinnerung zu machen, eine, die nicht ganz so hilflos ist, sondern mit öffentlichen Ereignissen in Verbindung steht.
Trotz der unterschwelligen Angst macht mir der Film auch Spaß, weil die Aktivist:innen einen emanzipatorischen Moment erleben, weil die Musik so berührend ist, weil die Gedichte so präzise sind. Es geht mir nicht darum zu sagen, „es war alles so schrecklich“, sondern darum, fremde Erinnerungen zu finden, die mir im Nachhinein eine Unterstützung sein können.

Du warst ein Kindergartenkind. Inwieweit würdest du trotzdem sagen, dass eine teilnehmende Beobachterin bist, also eine nachträglich teilnehmende Beobachterin? Und wie wichtig ist dabei, dass du selbst aus der DDR kommst?

Ich war noch gar nicht in der Lage, wirklich zu beobachten. Für eine teilnehmende Beobachtung ist viel mehr emotionale Reife notwendig. Kinder können alles Mögliche wahrnehmen, aber sie sind vor allem auf ihre eigenen Lust- und Unlustempfindungen fokussiert.

Videostill aus der Arbeit “Es gibt keine Angst” von Anna Zett (© Anna Zett)

Stellst du dir beim Blick zurück manchmal die Frage, wie wäre mein Leben eigentlich weiter gegangen, wenn die Mauer nicht gefallen wäre? Wenn die DDR mein Land geblieben wäre? All das, was du jetzt rückblickend dokumentierst wär ja dein natürliches Umfeld gewesen.

Ich weiß für mich persönlich, dass ich die Revolution miterlebt habe. Einfach schon dadurch, dass sich im Kindergarten sehr viel verändert hat 1989. Meine Kindergartenlehrerin zum Beispiel ist abgehauen ist, hat den Job geschmissen. Vielleicht weil sie nie Kindergärtnerin sein wollte, vielleicht aber auch, da sie gespürt hat, dass ihre Methoden in einem neuen System wohl kritisiert werden würden. Plötzlich durften wir viel mehr – wir durften zum Beispiel Essen übrig lassen und mussten nicht mehr den ganzen Tag vor dem Teller sitzen, wenn wir nicht aufgegessen haben. Ich wurde erlöst 1989. Die pädagogischen Methoden der DDR, diese Verzauberung, das gab es auch in Kinderheimen oder in kirchlichen Erziehungsinstitutionen im Westen – man wurde beispielsweise in die Ecke gestellt und durfte da nicht weggehen, bis die Kindergärtnerin dich erlöst hat – du bist wie versteinert. Da zeigt sich deutlich, wie autoritär dieses System war. Ich habe also die Revolution oder den Zusammenbruch miterlebt, ich hatte nur viel weniger Möglichkeiten aktiv zu beeinflussen, was vor sich geht.

Für mich geht es nicht unbedingt um die Frage, was wäre gewesen, wenn die DDR noch weiter existiert hätte – ich war sehr froh, dass es nicht so war. Schon als Kind wusste ich, dass es für mich ganz persönlich ein großes Glück gewesen ist, dass das System zusammengebrochen ist, für andere war das vielleicht anders.
Gleichzeitig hatte ich natürlich keinen richtigen Zugang zu dieser Vergangenheit. Ich habe gemerkt, dass es wichtig ist jenseits von meiner eigenen fragmentarischen Erfahrung an gesellschaftliche Erinnerungen anzudocken.
Dass ich mich nur an die Opposition gewandt habe, das hat auch mit meinem Hintergrund zu tun, da ich aus einem tendenziell oppositionellen Haushalt komme. Aber meine Eltern waren nicht so aktiv wie die Leute im Film. Ich habe durch die Arbeit im Archiv auch gelernt, das einzuordnen. Wo standen meine Eltern innerhalb der DDR-Opposition? Es war hilfreich, mich von der Familienerzählung zu lösen und mein eigenes Bild über den Kontext meiner Kindheit zu schaffen. Meine Eltern sind auch schon sehr lange nicht mehr am Leben, dadurch gab es das Defizit, dass ich sie gar nicht mehr fragen konnte.

Du hast jetzt viel über das Miteinander von individuellen und kollektiven Erfahrungen gesprochen. Das spielt ja auch in der Rauminstallation in der Ausstellung eine Rolle. 
Einerseits präsentierst du eine dokumentative Arbeit – wobei diese nicht rein dokumentativ gehalten ist, sondern persönlich interpretiert, künstlerisch aufgeladen wird –, anderseits eine partizipativ angelegte Rauminstallation. Dieses Einbeziehen der Besucher:innen reiht sich für mich in die Angstdiskussion und das Zusammensetzen der Erinnerungen ein – es geht um das gemeinschaftliche Erleben der Ausstellung in der Verlauflinie zum gemeinsamen Durchleben.

Interessant. Ich glaube, ich bin dann doch irgendwie auch geprägt von bestimmten kollektiven Vorstellungen. So kritisch ich auch der DDR gegenüber bin, hat es mich wohl auch geprägt, dass ich teilweise kollektivistisch erzogen worden bin. Ich bin nicht mit dieser Vorstellung aufgewachsen, das eigene Fortkommen sei das wichtigste im Leben.
Karriere war z.B. in allen Kontexten, in denen ich aufgewachsen bin, immer negativ konnotiert. Ich komme aus einer Welt, in der es wichtig ist, dass das, was du tust, immer mit dem drumherum zu tun hat, mit der Gesellschaft, mit der Gruppe, mit einem größeren Projekt. Das ist auf jeden Fall auch ein Hintergrund, warum ich heutzutage politische Arbeiten mache, partizipativ arbeite. Ich will etwas tun, das zusammen mit anderen erlebt werden kann. Es geht mir nicht nur um ein Statement, oder eine Ästhetik, die ich ausstelle als autonomes Werk. Oder dass ich versuche, mit einer künstlerischen Geste möglichst viel Geld zu verdienen oder möglichst berühmt zu werden. Das sind alles Ziele, die sehr stark von der kapitalistischen Erzählung geprägt sind – und die ist mir weiterhin fremd, ich habe sie nicht verinnerlicht, auch wenn ich sie zum Teil übernommen habe, um in diesem System handlungsfähig zu sein. Mir ist es in meiner Arbeit wichtig, dass ich meinen eigenen Zugang zur Geschichte finde und mich darin als Teil der Gesellschaft wahrnehme, in Beziehung zu anderen. Ich will mich nicht aufopfern – das ist nämlich die schlimme Seite des Kollektivismus, wenn einzelne Personen sich zu stark einem Ideal der Aufopferung verschreiben. Ich möchte stattdessen in Kontakt sein mit der Welt, möchte spüren, was die Leute erleben durch meine Arbeit. Deswegen mag ich zum Beispiel Filmscreenings manchmal lieber als Ausstellungen – weil ich dann im Raum spüren kann, wie etwas ankommt. Diese Resonanzerfahrung ist mir wichtig. 
Gleichzeitig mach ich auch nicht Theater – immer auf der Bühne zu sein, immer als Körper präsent zu sein, das wäre mir zu viel. Die bildende Kunst erlaubt es, nicht sich selbst, sondern ein Werk zu zeigen und sie gibt dem Publikum mehr Freiraum.

Ansicht des „Memory is not only past“-Raum von Barış Doğrusöz

Beim Karrierebegriff zuckt immer etwas in mir. Gerade amerikanische Künstler:innen oder Freund:innen benutzen das Wort sehr gerne. Ich spreche hingegen lieber von Biographien. Es ist ja auch oft so, dass die Leute, die das Wording benutzen, selbst gar keine Karriere im klassischen Sinne haben, sondern irgendwie durchkommen, aber ihnen wird der Duktus als Versprechen aufoktroyiert.
Deine Arbeit ist nicht die einzige in der Ausstellung, die sich mit Überwachung auseinander setzt. Wo du dabei den Schwerpunkt auf den Widerstand gegen das System richtest, konzentriert sich Barış Doğrusöz auf die Überwachungsinfrastruktur.
Wie empfindest du Eure Arbeiten räumlich nebeneinander platziert in der Ausstellung?

Ich mochte, dass es hinter meinem dunkel gehalten Raum noch einen weißen Raum gibt. Der Raum hat eine ganz anders Stimmung als meiner – wo die Besucher:innen wegen der Dunkelheit teilweise mit Taschenlampe herumlaufen. Ich denke das eher von der Stimmung her, nicht so sehr von der Bedeutung der Arbeiten.
Wenn ich Barış Raum mit den vielen geometrischen Formen betrete, dann komme ich in einen ganz anderen physischen und mentalen Zustand. Ich verlasse einen dunklen, emotional aufgeladen Raum, in dem Audio eine große Rolle spielt, und komme in einen hell erleuchten Raum, der 100% visuell dominiert ist, wo ich eingeladen bin, Formen zu erkennen und zu verstehen. Zu mir sprechen die Arbeiten eher durch diesen Kontrast und nicht durch die Thematik. Die Geschichte der Überwachung, die dahinter steckt, die erschließt sich mir nur, wenn ich den Text von Barış lese. Ansonsten sind es ja erstmal nur Formen, konfrontiert er uns mit einer geometrischen Perspektive. Die Idee, den Raum mit Fluchtpunkt in seiner Dreidimensionalität als komplett überwachbar, visuell beherrschbar zu präsentieren, war ja Teil der wissenschaftlichen – und kolonialen – Eroberung der Welt während der Renaissance oder der sogenannten Neuzeit. Ich betrete hier also keinen subjektiven Raum, sondern einen rationalistischen, geometrischen Raum. Darin liegt für mich vielleicht auch dieses Moment der Überwachung.

Ich war neulich in einer dieser Wohnung, wo die Heizung und das Licht und so digital von Außen gesteuert werden konnte. Und plötzlich fragte ich mich, ob vielleicht auch Kameras das Innere der Wohnung bereits aus der Distanz überwachen. 
Plötzlich kommt dieses Momentum des Überwachens, das in anderen Ländern schon viel mehr Alltag ist, auch bei uns an. Im Museum nimmt man das ja schon immer wahr.

Bei mir geht es bei der Angst vor der Stasi gar nicht so sehr um technologische Überwachung. Das hört man ja oft, dass Leute die Überwachungsstrategien der Stasi mit den heutigen vergleichen, um zu sagen heute sei es genauso schlimm. Ich würde sagen, dass das eine komplett andere Problematik ist. Wenn man heute überall Kameraüberwachung hat, dann ist die anonym, die schaut sich größtenteils auch niemand an, die wird möglicherweise später ausgewertet, oder auch nicht. Da geht es auch um Angst, aber vielleicht eher um die Angst der Leute um ihren Privatbesitz, den sie mit der Erweiterung um ein fremdes Auge schützen wollen.
Oder dass Institutionen eine bestimmte Macht demonstrieren wollen, darüber dass sie Kameras installieren und sich dadurch mit der Polizei auf eine Stufe stellen. Wir haben ja die Problematik, dass diese Form von Überwachung nicht unbedingt vom Staat organisiert wird, sondern dass sich das wie ein Trend einfach immer weiter ausbreitet. 
Natürlich gibt es auch in westlichen Ländern Institutionen wie den Geheimdienst, die nochmal ein ganz anderes Level von Überwachung praktizieren, aber von denen kriegen die meisten nicht viel mit. Das könnte sich natürlich ändern jetzt, da wir in Deutschland mehr politische Repression erleben. Da könnte es schon sein, dass der Geheimdienst ein Unterdrückungfaktor wird, wie es in der Bundesrepublik auch früher phasenweise gewesen ist.

Die Stasi hat das Gefühl der Angst allerdings vor allem durch die inoffiziellen Mitarbeiter:innen verbreitet, dadurch, dass du nie wusstest, ob jemand da ist, der dich verrät. Es ist ein Verratsdrama. Es geht darum, kann ich dir vertrauen oder nicht? Kann ich offen reden oder petzt jemand das?
Zur Problematik gehört auch, dass sich die Stasi Geschichten ausgedacht hat. Das war ein paranoides System. Die haben in ihren Akten die seltsamsten Thesen aufgestellt. Vor allem aber haben sie dann danach gehandelt, Leute beschattet, sabotiert und teilweise verhaftet auf Basis sachlich unhaltbarer Theorien. So haben sie ein unglaubliches Angstklima kreiert, einen unglaublichen Druck.
Ich sehe derzeit tatsächlich weniger die Kameraüberwachung als Problem, sondern die unbewusste Verengung des Sichtfeldes auf angstgetriebene Narrative, die von Seiten des Staates verhindern, dass es eine inklusive Debatte gibt. Da hört dann ein Rechtsstaat phasenweise auf zu existieren. Das empfinde ich jetzt auch im Rahmen der Palästina-Israel-Dramatik als schwierig, da landen wir schnell bei großer Ungerechtigkeit.

Hoerner/Antlfinger “Dollhouse for Dinosaurs” (Copyright Hoerner/Antlfinger)

Die meisten Kameras machen einem ja nichts aus, weil man sich damit beruhigt, dass sich eh niemand für einen interessiert. Wenn ich beispielsweise durch London laufe, wo die Kameradichte schon seit vielen Jahren sehr hoch ist, beruhigt man sich damit, dass man sich da nicht im Visier befindet. Die Kamera ist dann nur ein abstraktes Werkzeug.

Die Frage ist, wessen Werkzeug ist die Kamera? Wer nutzt dieses Werkzeug? Aber vor allen Dingen: wer kann Polizei und Gerichte dazu aktivieren, Leute zu verfolgen und zu bestrafen?
Viele bauen Kameras ja lediglich zur Abschreckung auf. Manchmal sind sie dann aber tatsächlich auch hilfreich – wenn Gewalttaten passieren geht darum, Beweise zu finden. Dank der Kameras können Menschen beweisen, dass sie Gewalt erfahren haben, auch wenn niemand anderes dabei war. Es ist ein komplexes Thema.

Das ist ja auch der spannende Turn-Around bei der Thematik – der Staat legt die Kamerastruktur an, um zu überwachen, aber plötzlich werden sie genutzt zur Kontrolle der Staatsakteur:innen.

Du meinst jetzt so Sachen wie Bodycams. Da kommt man dann ja oft auch relativ schnell an den Punkt, wo die Kameras abgestellt werden oder ausfallen.

Das Schwarzbild ist auch ein großes Thema.
Je mehr Kameras wir haben, desto spannender wird es zu schauen, wann sie laufen, laufen nicht und warum. Oder sind sie wirklich nicht gelaufen?

Wie lange ist es überhaupt noch möglich, real aufgezeichnetes Material von künstlich generiertem Material zu unterscheiden? Irgendwann, hören Überwachungsbilder vielleicht auch auf, einen Beweischarakter zu haben.
Ich habe mich in meinem Film bewusst nicht mit Überwachungskamera-Footage beschäftigt.

Die Menschen waren ihre Kameras.

Genau. Ich habe auch nur Footage verwendet, was aus aktivistischer Perspektive gefilmt war, was den Blick der Gegenöffentlichkeit repräsentiert. Ich hätte Skrupel gehabt, Kameraüberwachungsmaterial in meinem Film zu verwenden, weil es eben eine Perspektive der Macht ist. Ich habe auch Probleme mit Dronenbildern, weil ich die als entfremdet wahrnehme, sie zeigen eine militärische Perspektive.

“The front of 28. (200 RIYAL)”, Salwa Aleryani, 2023 / © Marc Doradzillo

Was mich zum Ende unseres Gesprächs hin noch interessieren würde, wie hat denn deine Familie es aufgenommen, dass du dich so intensiv beruflich mit der DDR beschäftigst?

Meine Eltern und Großeltern leben schon lange nicht mehr. Meine Schwester hat es nicht wirklich wahrgenommen. Mit meinem Cousin, dem Tänzer und Choreographen Hermann Heisig habe ich im Rahmen des Forschungsprojekts „Resonanz – Postsozialistische Gruppenimprovisation“ zusammengearbeitet. Wir haben dann auch mal seine Mutter, also meine Tante, und Leute aus ihrem Freundeskreis für unser partizipatives Format eingeladen. Das war auch herausfordernd, ab einem bestimmten Alter wollen die Leute scheinbar vor allem ihre eigene Geschichte erzählen, nicht mehr zuhören. Die fanden es dann auch weird, dass viel jüngere Leute meinten, etwas Eigenes über die DDR sagen zu können.

Deine Eltern waren also auch schon tot, als du die Arbeit an „Endarchiv“ begonnen hattest?

Meine Eltern wissen gar nicht, dass ich Künstlerin geworden bin. Ich mache diese Arbeit ohne die Reaktion der Generationen vor mir.

Hast du das Gefühl, dass dein eigener Bekanntenkreis sich bedingt durch deine Arbeit mehr mit der DDR auseinandersetzt als es sonst der Fall wäre. Und bemerkst du da noch Unterschiede zwischen Ost- und Westfreund:innen?

Das fände ich schön, wenn meine Arbeit diesen Effekt hätte. In einigen intensiven Beziehungen ist es vielleicht auch so, gerade zu Westdeutschen. Für Ostdeutsche ist diese Auseinandersetzung tendenziell etwas sehr Persönliches. Unser Improvisationsformat war da für einige ein wichtiger Resonanzraum in den letzten Jahren. 
Bei Screenings im Westen stoße ich noch auf viel Fremdheit. Junge Leute im Westen haben wenig Bezug zur DDR. Ältere Leute sind noch geprägt von der ganzen TV-Berichterstattung über die DDR, die haben ideologisch geprägte Vorstellungen. Da passen meine Arbeiten scheinbar erstmal ganz gut rein, die Bilder sind zumindest wiedererkennbar. Aber es ist dann am Ende doch etwas total anderes, weil es aus einer viel persönlicheren, assoziativeren Auseinandersetzung kommt. 
Junge Leute aus dem Westen können mit dem historischen Inhalt oft wenig anfangen. Das habe ich zum Beispiel in Köln beim Kurzfilmfestival bemerkt, wo ich gefragt wurde, ob die Volkspolizisten Security Leute sind. So etwas Banales wie die Volkspolizei ist dort – trotz Aufschrift – scheinbar nicht mehr lesbar für alle. Das ist im Osten vermutlich anders.

Wobei man denken sollte, dass die anstehenden ostdeutschen Landtagswahlen in diesem Jahr da doch für ein geschichtliches Interesse sorgen.

Im Westen? Die Leute denken halt da gab es eine Diktatur, dann gab es die Neonazis in den 90er Jahren … Bilder im Westen über den Osten sind oft Klischees, sie dienen vor allem der eigenen Entlastung. Ich habe schon den Endruck, dass es viele Leute interessiert, aber es gibt wenig Vorwissen, wenig Andockpunkte und oft auch wenig Empathie.
Wir haben jetzt vor allem über den Film gesprochen, aber es gibt ja noch die anderen Elemente im Raum, die mir wichtig sind. Also die Sound Installation und die Objekte. 
Ich habe mich gefreut, als Besucher:innen mit mir geteilt haben, was sie während der hellen Stellen im Film im Raum sehen konnten und was sie dabei gespürt haben. Mir ist es wichtig, dass der Film den Raum nicht total dominiert. Mich interessiert, ob die Leute nach dem Film, während der Audio-Installation noch im Raum bleiben, schauen sie sich mit der Taschenlampe die Objekte an, lesen sie den Begleittext „Ansätze zur Basisdemokratie“? Themen wie Selbstorganisation sind auch heute wichtig, so wie die Frage „Was ist eigentlich Demokratie“, die die Ausstellung durchzieht.
Abseits von meiner eigenen emotionalen Aufarbeitung ist es mir wichtig, diese Fragen in die Gegenwart zu holen. Sich in Gruppen zu organisieren, das heißt oftmals nicht unbedingt, dass du dich durchsetzt. Basisdemokratie bedeutet, dass du Teil einer Gruppe bist, die zusammen Entscheidungen trifft. In so einem Rahmen auch mit Kränkungen umzugehen, das lernen wir heute kaum, weil viele von uns keine Basisdemokratie betreiben.

Wir hören wenig zu. Es geht ja oft gar nicht nur um die finale Entscheidung, sondern den Weg dahin. Zuhören bedeutet ja immer auch potentiell, dass man die eigene Position durch Argumente der anderen in Frage stellt und gegebenenfalls modifiziert.

Genau. Also rein emotional betrachtet ist die basisdemokratische Erfahrung die, dass du das Gefühl hast, etwas gesagt zu haben, dir wurde zugehört und dein Beitrag hat etwas zum Prozess beigetragen. Wenn ein Vorschlag sich am Ende nicht in der Gruppenentscheidung niederschlägt, kann das mit Kränkungen verbunden sein, aber wenn die Gruppe damit gut umgeht – das ist ein Lernprozess – dann fühlt sich niemand ausgeschlossen und alle bleiben drin, machen weiter und lernen so dazu.
Das ist ein schwieriger Prozess. Das wollte ich verdeutlichen, in dem der Text sich im dunklen Raum befindet und nur im Licht der eigenen Taschenlampe lesbar wird. Es geht darum, dass diese Materialien und Methoden immer wieder neu entdeckt werden müssen.

Das ist auch ein guter Bogen zu dem, was ich ja vorhin gesagt habe, dass Angst und Dunkelheit sehr oft miteinander assoziiert sind. Man muss den Blick anders schärfen. Aber dadurch schaut man auch genauer hin – und entdeckt so Dinge, die einem in einem hellen Raum vielleicht entgehen würden.

Genau.

Dunkle Räume ermöglichen uns einen anderen Blick auf die Welt.

Ich schätze die Dunkelheit sehr. Es hat mich dazu inspiriert, noch weiter mit dunklen Räumen zu arbeiten. Warum soll in Kunsträumen immer alles hell erleuchtet sein? Du wirst dabei gesehen, wie du dir die Ausstellung anschaust – man könnte auch sagen, dass du dabei überwacht wirst. Die Dunkelheit hat auch was Schützendes. 
Sie ist auch ein Raum, in dem ich mich frei bewegen kann. In der Dunkelheit bin ich bei meinem eigenen Blick, nicht beim Blick der anderen.

Danke für das lange und spannende Gespräch.

Doa Aly “The Simorgh”


Im Rahmen der Ausstellungen „Memory is not only past“ finden noch drei Veranstaltungen mit Anna Zett statt:

24.5., 19 Uhr: „Es gibt keine Angst“ – Filmvorführung & Gespräch mit Anna Zett und Matti Gajek (Musik)

14.6., 18 Uhr: „Neues Forum der Nerven“ – Listening Session / Öffentlicher Dialog mit Gästen

15.6., 15 Uhr: „Neues Forum der Nerven“ – Listening Session / Workshop

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