Bernd Begemann – Interview von Simon Rösel

Bernd Begemann: „Ich bin besessen davon, ein Beobachter zu sein“

Bernd Begemann (Photo: Simon Rösel)

Vor einigen Wochen fand ich einen Umschlag im Briefkasten. Statt eines Absenders war auf die Rückseite ein großes Herz gemalt. In diesem Umschlag war Bernd Begemanns Album „Solange die Rasenmäher“ singen. Eines meiner Lieblingsalbum, das mir als 19-Jährigem erklärt hat, woher meine ganzen deutschsprachigen Lieblingsbands ihre Ideen hatten.
Ich wusste nicht, wer mir das Album geschickt hat, aber eine Sache wusste ich: Ich muss darüber mit jemandem sprechen. Am besten mit Bernd selber. Passenderweise führte er einige Wochen später genau dieses Album in Hamburg im kukuun auf. So wie seine ganzen anderen 25 Alben seit Anfang des Jahres.

Jetzt sitzen wir mittags im Arbeitszimmer seiner Wohnung in Hamburg-Stellingen. Um uns herum liegen Notizen für ein neues Album. Wir trinken Aldi-Sprite, reden über Popukultur und Lieder als kulturelle Form. Ich weiß inzwischen auch, wer mir das Album geschenkt hat. Danke Richard, ohne dich wäre ich nicht hier.

Ein Album am Stück aufführen. Das machen Kraftwerk im MoMa oder irgendwelche Pink Floyd Coverbands. Warum du?
Das ist mein ostwestfälischer Starsinn. Ich möchte am Album als Form festhalten. Ich bin traurig, dass es fast weg ist – außer bei Supernerds. Diese Idee, dass man Lieder als ganzes sieht, dass sie ein Gesamtgefühl ergeben wie ein Film oder ein Buch. Es gab das Album 50 Jahre und jetzt ist es weg.

„Solange die Rasenmäher singen“ ist wie ein Bildungsroman angelegt. Ein Junge wächst auf, durchläuft Beziehungen, Liebe und Schmerz.
Die Entwicklung zeigt sich in den Zeiten der jeweiligen Lieder. Das erste Lied „Sie blieb niemals stehen“ ist in der Vergangenheitsform geschrieben. Der letzte Satz „Da geht sie“ ist in der Gegenwart und ab da sind alle Lieder in der Gegenwartsform. Das letzte Lied „Wir werden tanzen“ ist im Futur geschrieben. Es ist eine vage Hoffnung darauf, irgendwann eine liebende Erfüllung zu finden. Das ist zum Teil autobiographisch.

Was unterscheidet es dann als Musikalbum von einem Roman?
Nur Lieder können Augenblicke vergegenwärtigen. Filme erzählen Konflikte, Bücher bringen dich in den Kopf von jemandem. Augenblicke, die Wendepunkte deines Lebens, sind die Domäne des Liedes. Du schreckst in der Nacht hoch und hast plötzlich eine Erkenntnis. Das können nur Lieder vermitteln.

Was für eine Bedeutung hat das Album heute für dich?
Es vergegenwärtigt mir Dinge, die ich nicht vergessen will. Ich höre fast alle meine Alben einmal im Jahr, um mich zu sortieren. Die Lieder auf „Rasenmäher“ handeln davon, dass jemand eine Gegend verlässt und sie trotzdem mitnimmt. Man entwickelt sich, aber man verbessert sich nicht unbedingt. Man hat an Sachen zu knabbern, die man geographisch hinter sich gelassen. Das ist bei mir bis heute so.

Letztes Jahr hast du „Die Stadt und das Mädchen“ rausgebracht. Eine Art Parallelgeschichte mit einer jungen Frau als Protagonistin.
Die Lieder für das Album existierten alle schon vorher, sie kreisen alle um die eine Frage: Was passiert einer jungen Frau in der Stadt? Ich mochte schon immer Romane wie „Das Kunstseidene Mädchen“ von Irmgard Keun oder „Frühstück bei Tiffanys“ von Truman Capote. Ich bin besessen von dieser Idee, ein Beobachter zu sein.

Einer der größten Beobachter der Liteaturgeschichte ist Honoré de Balzac. Du nennst ihn oft als deinen Lieblingsschrifsteller.
Balzac ist der einzige Mensch, bei dem ich zum sabbernden Fanboy werde. Jeder Künstler und jede Künstlerin kennt Geheimnisse. Balzac kannte jedes Geheimnis von jedem Menschen. Er zog in der Provinz die Vorhänge beiseite und wir durften sehen, was dahinter passiert. Balzac hat mir beigebracht, dass jeder Mensch ein eigenes Feuer hat, ein Innenleben, das für etwas brennt. Gleichzeitig hattte er einen genauen Blick für die Grausamkeiten, die Menschen sich antun. Das ist eine zutiefst humane Weltsicht, die weiterhin Bestand hat.

Balzac erzählte von einer Welt aus Frankreich im 19. Jahrhundert, du singst dagegen über eine Bundesrepublik aus der 1990ern.
Das ist auch eine Welt, die es nicht mehr gibt. Bei uns in Ostwestfalen verhielten sich die Menschen nach dem Motto: „Endlich ist es friedlich und wir wollen das jetzt so behalten.“ Da gab es eine starke darunterliegende Agression: „Es darf sich hier nicht zu viel bewegen.“ Städte wie Hamburg waren damals aufregender. Inzwischen sind wir auch hier wieder in eine 50er-Jahre Spießigkeit gerutscht. Die Menschen machen Handarbeiten und wollen es schön hyggelig haben. Sie verdrängen, was um sie herum passiert. In den echten 1950er-Jahren gab es bunte Heimatfilme und Schlagermusik von den Leuten, die fünf Jahre vorher noch Polen niedergebrannt haben.

Wie wirkt sich das auf heutige Biographien aus?
Wer Anfang zwanzig ist, macht so unglaublich viel. Menschen in der Großstadt müssen alles können. Du machst ein Musikprojekt, einen Podcast, eine virale Kampagne, kannst gut kochen, hast alle Soft Skills und musst dich dauernd präsentieren. Von ihren Fähigkeiten her sind die Menschen viel besser, als sie es früher waren.

Wo ist dann der Haken? Was versuchen die Leute zu verdrängen?
Ich hab mal mit jemandem geredet, der hatte einen Nervenzusammenbruch und sagte, er fühle sich äußerlich wie ein Apple-Produkt. Glatt, keine Kanten, schön und begehrenswert. Doch innendrin sei er verfault und kaputt. Der Film „Frances Ha“ bringt das auf den Punkt. Die Heldin sitzt mit anderen Leuten beim Abendessen, die Leute am Tisch lachen und witzeln rum. Sie versucht auch mitzuwitzeln und sagt zu einem der Typen: „Du bist so clever.“ Der Typ schaut sie an mit einer unglaublichen Traurigkeit und sagt: „Wir sind alle clever.“ Das ist brilliant. Das wäre auch so ein Moment, der gut in ein Lied passen würde.
Das äußert sich auch in so einem Phänomen wie „Tribute von Panem“. Das war der erste Film, den meine Tochter heimlich mit ihrer Freundin geschaut hat, als sie zehn war. Alle kennen den Film und reden darüber. Die Fabel ist perfekt. Ihr seid ein Haufen Menschen und werdet aufeinander gehetzt. Die meisten von euch werden draufgehen. Es ist furchtbar. Aber auch für den Gewinner ist es letztendlich furchtbar.

 

Ich findes es interessant, dass diese Fabel im Prinzip neu ist. Da gibt es kein erzählerisches, antikes Vorbild wie Odysseus, Herkules oder Ödipus.
Das Computerspiel Fortnite lebt auch komplette davon. Deshalb finde ich Populärkultur so interessant. Ich hab schon immer gerne Trash-Fernsehen geschaut. Das war meistens weiser als die Schulweisheit. Du musst die ganzen Nebengeräusche ausblenden und zu dem Kern vordringen, den eine bestimmte Kulturform in sich trägt.

In deinen Liedern behandelst du oft den Umgang mit einer Liebe, die nicht das große Glück ist. Ich denke da an Lieder wie „Sein Mädchen macht ihn glücklich“, „Irgendwie klappt es mit uns“ oder „Bis du den Richtigen triffst, nimm mich“.
Solche Lieder sind die Realität, ein Gegenentwurf zu den normalen Popsongs. Da ist jemand in deiner unmittelbaren Nähe. Du wirst dich auf vielerlei Art mit dieser Person verbinden können. Aber nicht auf jeder Ebene. Mit jemandem zusammenleben ist das Schwerste und das Schönste. Das ist meine mickrige Schlussfolgerung nach all den Jahrzehnten.

Glaubst du, dass jeder Mensch für sein Unglück selbst verantwortlich ist?
Natürlich nicht. Aber als Mensch in Europa hast du zu vielen Zeitpunkten die Möglichkeit, dein Unglück hinter sich zu lassen. Viele Leute halten es oft fest, aber das ist ein anderes Thema. Wir leben in einer Gegend wo man sich wohlfühlen kann und das ist schon einmal eine Menge. Europa ist heute die goldene Stadt auf dem Hügel, der Ort zu dem die Menschen aufblicken und wo sie gerne sein wollen. Das ist eine enorme Verantwortung. Ich habe große Angst vor der Europawahl.

Wovor genau?
Wenn Europa sich noch weiter zersetzt, kann es ganz furchtbar werden. Die nächsten 140 Jahre sind Crunchtime für die Menschen. (Anmerkung d. Red.: Das sagt der Professor Philip Gingerich in Bezug auf den Klimawandel) Es gibt für alle Probleme eine mögliche Lösung, doch die Frage ist, ob die Menschen wirklich zusammenarbeiten wollen. Und obendrein fühle ich mich als Science Fiction-Fan persönlich beleidigt, wenn wir nicht bald eine friedliche und säkulare Weltregierung haben.

Dann vielen Dank für das Gespräch und ich freu mich auf das Konzer heute Abend.
Ich freue mich, dass du dich freust.

Verlagssitz
Kaput - Magazin für Insolvenz & Pop | Aquinostrasse 1 | Zweites Hinterhaus, 50670 Köln | Germany
Team
Herausgeber & Chefredaktion:
Thomas Venker & Linus Volkmann
Autoren, Fotografen, Kontakt
Advertising
Kaput - Magazin für Insolvenz & Pop
marketing@kaput-mag.com
Impressum – Legal Disclosure
Urheberrecht /
Inhaltliche Verantwortung / Rechtswirksamkeit
Kaput Supporter
Kaput – Magazin für Insolvenz & Pop dankt seinen Supporter_innen!