Efdemin: Die lange Tauchfahrt zum Ich
Bevor es so etwas wie Satellitengestützte Navigation gab, beherrschten Seeleute die Kunst alleine anhand der Farbe des Wassers, dem Gang der Wellen und der Beschaffenheit des Windes, sich auf hoher See zurecht zu finden und zielgenau an den gewünschten Ort zu gelangen.
Auf ebenso feinfühlige Art, lädt Efdemin den Hörer auf „New Atlantis“ dazu ein, sich an den Säulen des Herakles vorbei hinaus auf das offene Klangmeer zu begeben, um außerhalb der 12-Meilen-Zone musikalischer Konventionen, hinab zu den versunkenen utopischen Tiefen der Elektronischen Musik zu tauchen.
Kaput Autor Felix Nisblé hat sich mit Phillip Sollmann getroffen, um mit ihm über sein neues Efdemin Album zu sprechen.
Wir haben uns in einem kleinen japanischen Restaurant im Berliner Norden verabredet, dessen Name in großen japanischen Buchstaben auf die Fensterscheibe geschrieben ist und das Phillips Partnerin gemeinsam mit einigen Freund_innen betreibt. Bei ausgezeichnetem Essen, über dessen gesundheitsfördernde Wirkung mich Phillip kenntnisreich aufklärt, wärmen wir uns zunächst für das anstehende Interview auf. Er erzählt, dass er seit einem Studienaufenthalt in Japan regelmäßig dort ist, um das Land zu bereisen und Freunde zu besuchen, erkundigt sich aber ebenfalls interessiert nach meinen Werdegang, wodurch sich schnell ein entspannter Gesprächsfluss entwickelt.
Nach dem Essen machen wir uns auf den Weg zum fußläufig gelegenen Studio, welches sich in einem kleinen Gebäudekomplex mit mehreren Studios befreundeter Musiker_innen befindet. Beim Betreten muss ich unweigerlich an die Sound Houses denken, die vom britischen Philosophen Francis Bacon in seinem Buch „Nova Atlantis“ beschrieben werden, dem Roman, der Titelgeber für Efdemins neues Album wurde.
Als Sound Houses beschrieb Bacon Räume, in denen durch Experimente mit neuartigen Instrumenten ungehörte klangliche Sphären erschlossen werden können. Sozusagen eine frühe Prophezeiung der heutigen Tonstudios. Neben einer Menge analogem Equipment, einer Modularsynthesizer-Sektion und diversen klassischen Drum Maschines, entdecke ich eine Reihe obskurer Instrumente, allen voran Efdemins Drehorgel, eine Helmholtz Sirene und ein mikrotonal gestimmtes Klavier. Phillip vertraut mir an, dass die Synthesizer gerne mal zwischen den Studios hin-und her getauscht werden und man sich auch sonst untereinander gerne mit Feedback zur Seite steht. Ein großer Vorteil, wenn man Kollegen wie Ed Davenport als Studionachbarn hat.
Aufbruch in neue Welten
„New Atlantis“ beginnt mit „Oh Lovely Appearance Of Death“, einem Stück, das auf auf einem Lied von Charles Wesley basiert, der im 18. Jahrhundert Mitbegründer der religiösen Methodistenbewegung in England war, und dessen Text von einem im Raum schwebenden Drone getragen wird.
Ein religiös aufgeladenes Eröffnungsstück für ein auf Ostgut Ton erscheinendes Album? „Ich fand das natürlich spaßig, ein vermeintliches Techno-Album mit einer Lobpreisung über den Tod zu eröffnen“, führt Phillip aus. „Tatsächlich geht es mir in dem Stück nicht so sehr um den Text, sondern vielmehr um die Artikulation. Die Art wie das gesungen ist, hat mich schon immer extrem ergriffen. Die Aufnahme stammt aus einer Kunstvorlesung von Willam T. Wiley, der das Stück ja auch singt. Ich bin eher zufällig damit in Berührung gekommen, als ich die Aufnahme der Vorlesung auf einer Schallplatte gefunden habe. Wir haben ihn dann kontaktiert, um ihn um die Freigabe zu bitten und als er mein Stück gehört hat, war er ebenfalls so ergriffen, dass er sofort zugestimmt hat.“
Auch in musikalischer Hinsicht ergibt es als Eröffnung Sinn, fährt Phillip fort, da in ihm der Drone eingeführt wird, der „New Atlantis“ wie ein roter Faden durchzieht. Womit es an der Zeit für ein Geständnis meinerseits ist, denn der Gesang von „Oh Lovely Appearance Of Death“ will mir schon den ganzen Tag nicht aus dem Kopf gehen, und seit dem Morgen singe ich die Melodie – trotz morbider Thematik – fröhlich vor mich hin. Phillip muss lachen und erzählt mir, dass auch seine dreijährige Tochter ganz vernarrt in das Stück sei und er es ihr immer wieder vorsingen müsse.
Dass die Platte mit einem Stück über den Tod eröffnet, bewegt mich außerdem zu der Frage, ob der Gedanke, dass ein Neubeginn immer auch den Verfall von etwas Altem mit einschließt, bei der Produktion der Platte eine Rolle gespielt hat? „Ich habe das Gefühl, dass sich mir mit dieser Platte neue Räume eröffnen und ich mit ihr neue Wege beschreiten kann“, antwortet Phillip. Dafür gelte, da unterscheidet sich ein Album eben nicht vom normalen Leben, dass alte Sachen zuerst zu einem Ende kommen müssen. „Ich habe in den letzten Jahren immer den vermeintlichen Druck gespürt, einen Hit produzieren zu müssen“, gesteht er. „Tatsächlich war dem auch so bei dieser Platte. Es wäre ja auch eine geile Chance gewesen, eine Ostgut-Platte zu machen und da zehn Abgeh-Tracks draufzupacken. Doch stattdessen eröffne ich das Album mit einem Lied über den Tod und versteige mich in Drone-Dub-Techno. Aber ich konnte die Platte eben nur genau so machen!“
Ein Künstler wie Phillip Sollmann kommt eben nicht gegen sein Naturell an. Der Zufriedenheit, die er jetzt für das Album empfindet, ging jedoch ein intensiver und nicht immer leichter Entwicklungsprozess voraus. „In dem Album steckt viel Zeit, Arbeit und Leid. Viele Jahre, in denen ich als DJ gereist bin und mich manchmal gefragt habe: Will ich das überhaupt in der Form? Als Ergebnis gibt es jetzt diese logische Verknüpfung von Dingen, die schon die ganze Zeit parallel existiert haben. Wenn ich die 909 laufen lasse und dann meine Drehgeige darüber spiele, komme ich dadurch zu mir.“
Die Auflösung im Sound
Die besagte Drehgeige ist eines von vielen akustischen Instrumenten, die, teils von Phillip selbst, teils von befreundeten Musikern wie Nika Son oder John Gürtler für das Album eingespielt wurden. Es finden sich darauf aber auch ebenso viele Sounds klassischer Maschinen wie der Roland SH-101 oder der 808, die sich in den komplexen, mit Fieldrecordings angereicherten Texturen gemeinsam mit den instrumentalen Sounds zu einem organischen Klanggewebe vermischen. Und doch kommt der Drehgeige eine besondere Rolle zu, sodass sie ist in fast allen Stücken tragend präsent ist.
Beispielsweise im Titelstück „New Atlantis“, das Phillip zu Beginn des Rekordsommers 2018 produziert hat. In jener Anfangsperiode begann er damit sehr schnelle Tracks um die 140 BPM zu produzieren – und die Drehgeige lieferte die noch fehlenden crispen Obertöne, die sich jetzt komplett durch das fast 15-minütige Stück ziehen. In der Mitte wechselt der Track in einer überraschenden Transposition in Dur. Ein Wechsel der Tonart, der dem Stück sowohl eine positive Wendung als auch eine unglaubliche Sogwirkung verleiht, die den Hörer in umgekehrter Gravitation immer weiter hinab in die atemberaubende Tiefe zieht. Dem Track unterliegt außerdem die Aufnahme eines Tribut Konzertes zu Ehren des 2016 verstorbenen Künstlers und Experimentalmusikers Tony Conrad, welches Phillip mit seiner Band PNIN in Hamburg gegeben hat.
Abseits davon gibt es noch einen weiteren Grund, warum die Drehgeige einen wichtigen Dreh- und Angelpunkt in Phillips Leben bildet: „Als Kind habe ich Cello spielen gelernt, das Instrument bildet meine Urerfahrung von Sound.“ Dadurch, dass die Drehgeige mit Cellosaiten bestückt ist, findet eben diese Urerfahrung nun Einzug in das Album. Ein sich schließender Kreis, der Phillip total glücklich macht.
Für einen Moment verlassen wir New Atlantis und er erzählt mir wie es sich damals für ihn angefühlt hat, sein Cello als Teil eines 50köpfigen Ensembles zu spielen. „Das ist die schönste Erfahrung, die ich je in meinem Leben gemacht habe, und zu der ich immer wieder zurück kehren will. Es fühlt sich an, als ob man sich im Sound auflöst, zu einer gemeinsame Stimme wird, einer Stimme, die du selber nicht mehr hörst. Du hörst dich nämlich nur, wenn du falsch spielst. Spielst du aber richtig, bist du ein Teil des Ganzen und summst einfach nur dieses tolle, physikalische Vibrieren. Hinter dir sind die Kontrabässe, neben dir die Celli, auf der anderen Seite die Geigen und hinten rechts die Bläser. Du sitzt mitten im Sound. Das ist einfach nur ergreifend.“
Diese Erfahrung des Auflösens im Sound ist vielleicht gar nicht so weit entfernt von jenen wochenendlichen Ereignissen auf den Dancefloors. Nur dass der Orchestermusiker durch den hervorgebrachten Klang zur Einswerdung mit dem Publikum beiträgt und der Tänzer durch die in der Bewegung hervorgebrachte Energie.
Dieses Gefühl an etwas Größerem teilzuhaben in Verbindung mit dem Verlust des Zeitgefühls, das waren auch die Erfahrungen, die Phillip in jungen Jahren zur Elektronischen Musik und in die Clubs gebracht haben. Zweifelsohne ist auch auf „New Atlantis“ eine zeitlose Atmosphäre zu spüren. Beim Hören stellt sich ein Effekt des langsamen Verlustes von Raum und Zeit ein. Ich muss sofort an meine ersten Dancefloorerfahrungen denken.
Als ich Phillip davon erzähle, freut er sich sichtlich: „Genau darum geht es mir! Ich würde ja gerne Musik produzieren, in der noch weniger passiert oder wo der Hörer gar nicht mitbekommt, dass gerade was passiert ist – und die trotzdem nicht langweilig ist, denn die Gefahr besteht natürlich.“ Insofern sei es vielleicht eine unbewusste Prozessentscheidung gewesen, die Stücke im Studio von allem zu befreien, was zu offensichtlich gewesen wäre und gewöhnliche Ideen von Trackentwicklung und Effektsetzung bedient hätte. „Eigentlich steht alles in sich, weshalb das, was ich da mache, eine Art statische Musik ist. Nur der Rhythmus schreitet fort und dadurch gibt es die Zeitebene.“ Außerdem, ergänzt Phillip, habe er viele mikrotonale Konzepte verarbeitet, wo es mehr um die Genauigkeit in der Textur ging als um die Erzählung. Für ihn ist „New Atlantis“ eine „sehr unnarrative Musik, die gut widerspiegelt, was ich sonst so installativ mache.“
Das Installative in der Musik von Efdemin ist die Verbindungslinie zu all den anderen Projekten in Phillips vielseitigem künstlerischem Schaffen. 2017 hatte ich die Möglichkeit in Bochum eine Aufführung seines Stückes „Monophonie“ zu erleben. Eine Komposition, die er für die selbstgebauten Instrumente des Komponisten Harry Partch geschrieben hat und die auf ebendiesen imposanten Klanggebilden aufgeführt wurde., Als Bühnenbild wirken die Instrumente wie ein hölzerner Klanggarten, auf dessen außergewöhnlichen Formen das Ensemble einen ebenso außergewöhnlichen Sound entstehen lässt.
Besondere Instrumente haben es Phillip Sollmann angetan. Für ein anderes Projekt, das er gemeinsam mit dem befreundeten Musiker Konrad Sprenger betreibt, bauen sie zusammen eine Orgel aus ausrangierten Orgel- und Posaunenpfeifen, die, wenn sie in mühevoller Arbeit gestimmt richtig wurde, über Midi angesteuert und gespielt werden kann. Während der Klanghappenings (unter anderem gastierten sie im letzten Jahr beim Meakusma Festival), befinden sich die Zuhörer_Innen in der Mitte der Orgel und können so die volle 360-Grad-Klangerfahrung machen.
Neben solchen Zeit- und Arbeitsintensiven Projekten, ist Phillip aber natürlich weiterhin auch als DJ aktiv und absolviert neben seiner Residency im Berghain einen umfangreichen internationalen Tourplan, der ihn zwischen Südamerika und Australien quasi schon in alle Ecken des Planeten geführt hat. Was seine Homebase das Berghain angeht, hat er über die Jahre eine Wanderung durchs Haus vollführt. „Von oben in der Panorama Bar, wo ich 2006 als Resident angefangen habe, bin ich so langsam die Treppe runter zum Berghain Floor gewandert. Jetzt spiele ich viel mehr unten. Im Moment finde ich den Floor unten auch viel spannender, weil es dort eben mehr um Sound geht, während oben die Party und so Hands-in-the-air Momente im Mittelpunkt stehen. Das finde ich gerade nicht so spannend und andere Künstler können das zur Zeit auch glaub ich einfach besser als ich. Bei mir geht es gerade viel mehr um die Ohren als um die Füße.“
Grenzüberschreitende Technomusik
Mit der Klangerfahrung als zentrales Element des Efdemin-Universums lässt sich eine Brücke, von den Orgel-Installationen über das Berghain bis hin zu „New Atlantis“ bilden. Mit seinem neuen Album ist es Phillip gelungen, all seine musikalischen Facetten gemeinsam zum Klingen zu bringen. Dabei ist ihm bewusst, dass er sich mit dem speziellen Album Format von „New Atlantis“, mit seinen langen, statischen Tracks und dem dahinterliegendem Konzept, antizyklisch zu derzeitigen musikalischen Entwicklungen bewegt. Die allgemeine Aufmerksamkeitsspanne scheint – nicht nur im puncto Musik – stetig zu sinken und auch im Techno sind schnell produzierte Hits nach zwei Wochen wieder aus dem Bewusstsein und den Playlists verschwunden. Mit „New Atlantis“ verfolgt Phillip einen gänzlich anderen Ansatz, der den Hörer_Innen Zuwendung und Hingabe abverlangt und so das Ohr vor neue Herausforderung stellt. Schmunzelnd versichert er mir, dass er es natürlich niemandem übel nehme, wenn er nicht die Geduld besäße sich die Platte in Gänze zu Gemüte zu führen. Für all diejenigen aber, die bereit sind sich auf diese Reise einzulassen, hält „New Atlantis“ eine Fülle von Möglichkeiten bereit, die unendlich tiefe Wirkung von Musik und Klang wiederzuentdecken.
Dass wir uns nicht im zeitlosen New Atlantis sondern im sehr realen Berlin befinden, wird mir wieder bewusst, als Phillip sich irgendwann freundlich danach erkundigt, wie viele Fragen ich denn noch hätte, da er bald seine Tochter von der Kita abholen müsse.
Und so stelle ich ihm nur noch eine Frage, die mir im Zuge der Recherche über „Monophonie“ und Harry Partch in den Sinn kam. Partch hatte sein musikalisches Stimmungssystem als einen bewussten Gegenentwurf zur omnipräsenten wohltemperierten Stimmung von Bach entworfen, um die Menschen sozusagen von dessen klanglicher Herrschaft zu befreien. Ich möchte wissen, ob es seiner Ansicht nach im Techno heutzutage ähnliche Konventionen und Paradigmen gäbe, die es zu überwinden gelte?
Phillip nimmt diesen Gedankenanstoß interessiert auf und erzählt: „Das was Harry Partch mit den Stimmungen gemacht hat, findet ja zunehmend Einzug im Techno. Zum Beispiel durch Künstler wie Aleksi Perälä mit seinen Colundi Sequences. Viele meiner Stücke sind ja auch mikrotonal. Nicht ganz so radikal, aber ich verwende reine Stimmungen. Wenn du die mit anderen Stücke spielst, passt es oft so gar nicht. Zum Beispiel mein Stück „Move Your Head“. Da haben viele gesagt: „Ey das hat so eine Sogwirkung, was ist denn da los?“ Das kommt halt durch die Stimmung, die nur ganzzahlige Intervalle enthält. Das ist man nicht gewöhnt und für viele Leute klingt das erstmal schräg. Ich finde es aber sehr gut, wenn sich Techno in so eine Richtung entwickelt. Ich hab eine total große Sammlung von grenzüberschreitender Technomusik, die immer so halb disfunktional oder experimentell, dafür aber Soundmäßig superstark ist. In meinem Kopf habe ich immer nur den Gedankenfehler gemacht, dass es nicht funktioniert, wenn ich zu viel davon in meinen Sets spiele. Aber genau das Gegenteil ist der Fall, es wird immer interessanter! Denn generell ist da noch so viel mehr Raum für das nicht so offensichtliche.“