Lawrence Weiner – Nachruf

Lawrence Weiner: »Das Leben ist nicht die ›Sesamstraße‹«

Lawrence Weiner (Photo: Jonathan Forsythe), New York, Februar 2014 


Lawrence Weiner wurde 1942 in der New Yorker Bronx geboren. Nach früher Involvierung in die US-amerikanische Bürgerrechtsbewegung entschied er sich Anfang der 1960er-Jahre für ein Leben als Künstler. Weiner prägte die Etablierung der Konzeptkunst maßgeblich mit, öffnete mit seiner »Declaration Of Intent« 1968 den Blick für einen freieren Kunstbegriff, indem er die Idee zu einem Kunstwerk als gleichwertig mit der konkreten Ausführung einstufte. Weiners Arbeiten sind sehr sprachorientiert. Es interessiert ihn, wie verschiedene Kulturen ihre Kommunikationssysteme aufbauen und was das für den Übertrag und Austausch bedeutet. Heute zeugen ein umfangreiches Ausstellungs- und Publikationsverzeichnis davon, aber auch sein mächtig geschundener Körper.

 

Thomas Venker besuchte Lawrence Weiner im Februar 2014 in dessen Townhouse im New Yorker Meat Packing District für ein Gespräch über das veränderte Kommunikations- und Leseverhalten im Social-Media-Zeitalter, das Leben als Künstler und die Syntax als Maß aller Dinge. Fotos: Jonathan Forsythe

Lawrence Weiner ist am 2. Dezember 2021 verstorben. 

 

Lawrence Weiner (Photo: Jonathan Forsythe)


Lawrence, du bist in Vorbereitung deiner nächsten Europareise. Wohin geht es?
Nach Lissabon, Portugal. Ich bevorzuge die Stadt gegenüber Porto, wo ich auch schon öfters war, wo es mir aber zu ländlich ist. Nette Leute, aber man endet immer in der gleichen Bar am Wasser. Das passt zwar, aber genug ist genug: Das Leben besteht nicht nur aus Essen und Trinken. 

Ich habe zuletzt viel über Social Media und den veränderten Sprachgebrauch der Leute nachgedacht. Ein Thema, das unmittelbar zu dir und deiner sehr sprachbezogenen Kunst führt. Ist das ein Thema, das dich trotz deines Alters auch antreibt?
Just, als du gekommen bist, sprach ich gerade mit meiner Assistentin über meine Show mit Liam Gillick, die wir 2011 in Antwerpen inszeniert haben. Sie trägt den Titel »A Syntax Of Dependency« …

… und war das Ergebnis eines mehrjährigen Dialogs zwischen euch, der lange nicht zu etwas Konkretem geführt hat, letztlich aber zu einer gemeinsamen Arbeit über das Potenzial und die Limits von Künstlerkooperationen.
Ja. Ich habe auf Basis der Ausstellung gerade ein Kinderbuch mit der Unesco gemacht. Ich musste die Syntax so anpassen, dass auch Kinder sie verstehen, die nicht das Privileg einer guten Bildung genießen durften.
Wenn ich mit jemandem zusammenarbeite, dann mit Künstlern, die die grundsätzliche Syntax verändern wollen. Die bereit sind zu hinterfragen, was ein Stein oder ein Stück Holz oder Glas sein kann und dass die Frage deine Wahrnehmung der Welt verändern kann. 

In den 90er-Jahren gab es in der New Yorker Public Library eine Retrospektive von dir mit dem Titel »Learning To Read«. Wie gehst du mit dem veränderten Leseverhalten der jüngeren Leute um, ihrer verkürzten Aufmerksamkeitsspanne?
Ich neigte ja nie dazu, lange und komplizierte Essays zu verfassen, wie man an meinem Werk sehen kann. Wenn ich etwas zu erklären hatte, dann war die Ambition immer, es knapp und schnell zu halten. Die Syntax stand immer im Zentrum der Arbeit selbst und nicht im Kontext akademischer oder historischer Strukturen. Insofern erlebe ich das Problem der veränderten Lesegewohnheiten nicht wirklich.
Wenn du von jüngeren Leuten sprichst, dann weiß ich damit zunächst nichts anzufangen. Ich frage zum Beispiel die anderen Künstler, mit denen ich in Gruppenausstellungen meine Arbeiten zeige, nicht nach ihrem Alter. Ich schaue mir ihre Arbeiten an und stimme zu oder eben nicht. Warum sollte ich, ich brauche keine Hierarchie, um zu überleben. 

Das war nicht hierarchisch gemeint, eher deskriptiv und offen fragend.
Der Job eines Künstlers ist nicht, etwas zu sagen, sondern etwas zu zeigen. Man muss den Leuten nicht alles erklären: woraus etwas ist, was die Intention ist … Jede einzelne Kultur tanzt auf ihre eigene Art dazu. Wenn es passt, tanzen sie, wenn nicht, bleiben sie stehen.

Das klingt sehr tolerant und offen. Aber du hast doch sicherlich auch Erwartungen an die Leute, die sich mit deiner Kunst auseinandersetzen.
Natürlich habe ich Erwartungen. Wenn man 18 ist und die erste Show hat, will man ein reicher und berühmter Künstler werden. Aber das ändert nicht das, was du eigentlich zeigen willst. Wenn man sieht, dass etwas, was man zeigt, nicht in die Welt passt, dann darf man es nicht ändern, nur um die eigenen Erwartungen erfüllt zu bekommen. Es ist hart, zu meiner Arbeit zu tanzen, aber das ist dein verdammtes Problem und nicht meins. Du musst eine Lösung finden. Ich hatte das Glück, dass meine Arbeit nach einer gewissen Zeit wahrgenommen wurde. Viele meiner Kollegen versuchten ihre Sachen anzupassen.

Du bist noch immer sehr aktiv, aber dennoch in einem Alter, wo man auch mal rückblickend bilanzieren kann. Bist du zufrieden angesichts dessen, was da hinter dir liegt?
Lass es mich so sagen: Die Leute tanzten zu meiner Kunst, und die Art, wie manche von ihnen dazu tanzten, war eine Überraschung. Es befriedigt mich sehr, dass meine Werke es in den Kanon der Kultur geschafft haben und dort auch bleiben werden. Es ist faszinierend, wenn man mit Leuten auf der ganzen Welt über etwas eine Konversation haben kann, die nicht von einem selbst handelt. Das ist der Schlüssel. Deswegen fallen langfristig gesehen Dinge wie Facebook auseinander. Sie handeln nur von einem selbst. Du magst am Montag interessant sein, aber am Dienstag schon nicht mehr. 

Das ist ja das Spannende an unserer Zeit: Die Leute haben die Idee der Publikation an sich gerissen – was grundsätzlich im Sinne von Do-It-Yourself und Punk sympathisch ist, als Selbstermächtigung. Aber sie vergessen zumeist, dass es wirklicher Inhalte bedarf.
So kannst du auch auf die Kunstwelt schauen. Sehr oft ist sie nur auf den Kontext zugeschnitten. Sie funktioniert akademisch, aber sie gibt niemandem wirklich etwas. Die Leute können nur eine Unterhaltung über das haben, worüber sie sich am Vortag unterhalten haben. Der Kontext gehört zu unserer Arbeit, er ist jedoch nicht der Inhalt. In den 1980er-Jahren war ich auf dem Cover des artforum mit der Headline »I am not content«. Das ist auf Englisch ein Witz und meint: »Ich bin nicht happy« und zugleich »Ich bin kein Inhalt«. Das wurde verstanden. Die Leute haben ihre Entscheidungen getroffen. Jeder sollte das Recht besitzen, seine Entscheidungen zu treffen. Ich weiß nicht, ob meine immer richtig waren, aber ein Künstler muss Risiken eingehen. Als Künstler hat man immer unter Strom zu stehen. Die meisten Leute, die selbst nicht künstlerisch aktiv sind, können es sich nicht vorstellen, wie sich ein Künstler nach der Performance fühlt. Sie sehen nicht, dass wir dem Risiko ausgesetzt sind, verrückt zu werden, oder auch irrelevant. Beide Sachen wiegen schwer auf einem Menschen. Künstler müssen sich dem täglich stellen.

Hinterfragst du deine Entscheidungen oft?
Das musst du jeden Morgen tun! Es ist nicht romantisch, nicht dramatisch, es ist ein Job. Das Gute daran ist: Du hast ihn gewählt. Noch ist es der letzte Beruf, für den man keine Qualifikationen braucht. Aber das ändert sich gerade. Ich verfolge ja die sozialen Medien, und es ist traurig: Da findet sich unter den Postings der Bilder von Künstlern zu ihren Ausstellungen, die man oft nur vage erahnen kann, doch tatsächlich ein ganz normaler Lebenslauf zum Künstler, mit Informationen, wann er geboren wurde, wo er zur Schule ging, wen er kennt und so. Die wollen doch nur was verkaufen. Was interessiert es mich, wo sie zur Schule gegangen sind? Das hat mit dem Lisbon Agreement zu tun, in dem geregelt wurde, dass öffentliche Institutionen nur noch Kunstwerke erwerben dürfen, die von einer Akademie zertifiziert worden sind. 

Du siehst Kunst als einen ganz normalen Job?
Wenn man sich für das Leben als Künstler entscheidet, dann, um die Art zu verändern, wie die Leute sich und die Welt wahrnehmen. Wenn du es schaffst, als Künstler zurechtzukommen, dann kommst du auch als alles andere zurecht. Es ist doch so: Die Leute wollen sich Dinge leisten können, also schieben sie den Wagen durch die Straße. Ich bin ein Künstler, ich kann mir den Luxus gönnen, dabei zuzuschauen. Aber nur, weil ich die Entscheidung getroffen habe, ein Künstler zu sein. Man muss sich einen Kurs setzen, darf ihn unter keinen Umständen ändern. Wir riskieren unsere Existenz dabei.

Kannst du dir denn einen Ruhestand vorstellen?
Ich mache mal einen schlechten Witz: Wenn du dir die meisten Künstler anschaust, dann haben sie sich schon vor langer Zeit zur Ruhe gesetzt. Sie machen immer wieder das Gleiche.

Ich musste die Tage an eine frühere Aussage von dir denken: Der Künstler benutzt Geld, um sich Zeit zu erkaufen.
Ergibt das nicht sofort Sinn? Deswegen sollten sie bezahlt werden, um dann etwas zu schaffen, was andere interessiert.

Ich kam durch den Tod des früheren Merve-Verlegers Peter Gente darauf. Er lebte zuletzt im thailändischen Chiang Mai, da er sich mit seiner Nicht-Rente von circa 300 Euro in Deutschland den Ruhestand nicht leisten konnte. Siehst du viele Künstler deiner Generation mit ähnlichen Problemen?
Oh ja. Es ist ein großes Problem. Ich will hier keine Namen nennen … Vieles im Leben hat ja damit zu tun, zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort gewesen zu sein. Dafür gebührt dir noch keine Anerkennung, na ja, vielleicht eine kleine. Meistens ist es doch so: Man sieht eine aufregende Sache und bringt sich in diese ein – manche Leute jedoch können dies aufgrund ihrer ökonomischen Situation nicht. Sie bleiben also außen vor, und das nächste Mal, wenn etwas ansteht, sind sie nicht da. Das hat aber wenig mit der Qualität ihrer Arbeit zu tun.

Lawrence Weiner (Photo: Jonathan Forsythe)

Lass uns zurück zu deinem Umgang mit Sprache kommen: Du arbeitest mit vielen verschiedenen, da du weltweit ausstellst. Wie muss man sich den Prozess vorstellen, mit dem du dich einer fremden Sprache annäherst?
Oft ergeben sich Schwierigkeiten bei den Übersetzungen. Das gehört aber zum Leben, niemand hat gesagt, dass es immer leicht sein wird. Das Leben ist nicht die »Sesamstraße«. Es geht darum, die regionalen Eigenarten zu verstehen, die Leute müssen mit der Sprache umgehen können. Ich verstehe meine Arbeit als eine Skulptur. Wenn eine solche von Japan nach Deutschland gebracht wird, haftet ihr erst einmal nichts Exotisches an. Ein Stein bleibt ein Stein. Er sieht in Japan nicht genauso wie in Deutschland aus, aber es bleibt ein Stein – wenn man ihn ins Wasser schmeißt, dann sinkt er.

Funktioniert das in allen Regionen gleich gut?
Deutschland war immer perfekt für mich, aufgrund der Kunstverein-Struktur. Sie brachten junge und alte Künstler zusammen, bekannte und unbekannte, bezahlten eine kleine Gage und kümmerten sich um alles. Heute, wo die Kunstwelt so akademisch geworden ist, gibt es Probleme. In Amerika sind wir kurz davor, dass nur noch eine Klasse Zugang zur Kunstwelt hat. Früher war diese ein Zirkus für die unzufriedenen Kinder aus allen Schichten. Ich schätze die Idee einer Kunstwelt als Zirkus. Dort geht es nicht um Qualifikation, sondern nur darum, dass du es auf das Seil und auf die andere Seite schaffst. Du zeigst den Leuten etwas. Du bist ein Künstler. Ich will sagen: Was die Vermittlung angeht, sehe ich kein Problem mit den verschiedenen Kulturen. Jedoch nehme ich die unterschiedlichen Lebensstile wahr und sehe die daran hängenden Erwartungen an das Leben. Jede Kultur erweckt in ihren Leuten gewisse Bedürfnisse. Die Kunst mag dann an diesem Ort weniger Sinn machen, aber sie bleibt im Kern ihres Wesens dieselbe. Generell ist die Kunstwelt aber nicht schlimmer geworden. Es gibt nicht weniger Künstler, die sich morgens nach dem Aufstehen den Dingen stellen. Die Kunstwelt ist größer geworden. Früher gab es zehn Künstler, sechs waren engagiert, vier wollten nur Kariere machen. Heute sind es 6000. Das ist der Unterschied. Die zwei Klassen gab es schon immer.

Und jede Kultur hat ihre eigenen gesellschaftlichen Probleme. Diese Probleme sind es, die dich antreiben?
Ja, ich ärgere mich über die Konfiguration der Welt. Ich bin nicht glücklich damit, und deswegen mache ich Kunst. Wir leben in spannenden Zeiten, zu denen man viel sagen kann. Die Idee von Multikulturalismus ist ein großes Problem geworden. Manche Kulturen stehen im Widerspruch zu anderen. Wie gehe ich als Künstler damit um? Mir steht ein freies Spektrum zur Verfügung, denn ich arbeite mit materiellen Objekten. Mein Material ist, man kann das mit Musik vergleichen, meine Sprache.

Wie gingen deine Eltern mit deiner Entscheidung um, Künstler zu werden?
Sie haben mich nicht in meiner Ambition gefördert. Meine Mutter hat sich um mich gekümmert, aber ich verließ das Haus früh. Sie schaute mich nur an und sagte: »Es wird dir das Herz brechen. Kunst ist für reiche Leute und Frauen.« – Heute ist es so gekommen, das sind die Studenten an den Kunsthochschulen.
Ich war mit 18 etabliert in der gewerkschaftlichen US-amerikanischen Bürgerrechtsbewegung, aber ich entschied mich dafür, mit Kunst die Gesellschaft zu verändern, und fühlte mich danach lange schuldig. Heute erfahre ich eine gewisse Befriedigung, da ich etwas mitverändert habe. Aber es war ein Risiko. Das ist bei Musikern genauso: Nicht jeder kann ein Charlie Parker sein. Er ist ein hohes Risiko eingegangen. Diese Musik war zu schnell, um kommerziell erfolgreich zu sein. Er hat sie trotzdem nicht langsamer angelegt. Es ist eine sehr ernste Lebensentscheidung, das zu sein, woran man glaubt. Die Möglichkeit zu haben, das zu sein, was man denkt, wie Menschen leben und sein sollten, das ist verdammt gut! Die meisten haben das Privileg nicht. Und um es zu haben, muss man eine Lebensstil-Entscheidung treffen. Sehr viele sehr arme Leute auf der Welt haben die Chance nicht, diese Entscheidung zu treffen. 

1968 hast du deine »Declaration Of Intent« verfasst, die einfach ausgedrückt besagt, dass bereits die Idee das Werk sein kann, es also nicht unbedingt ausgeführt werden muss. Hast du noch offene Sachen, die du zwar mal formuliert hast, aber sie trotz des Willens nicht verwirklichen konntest?
Nein, ich kann selbstbewusst sagen, dass ich nichts, was ich machen wollte, nicht gemacht hätte. Selbst wenn ich kein Geld hatte, habe ich die Dinge gemacht. Vielleicht nicht so, wie ich es gerne gemacht hätte, aber ich habe es. Es gibt keine Wunschliste, was das angeht. Mir wäre es nur lieber gewesen, wenn mein Leben physisch leichter gewesen wäre, dann hätte ich heute nicht so viele Probleme. Wenn ich bessere Ressourcen und Unterstützung erfahren hätte, dann hätte ich meinen Körper nicht so zugerichtet. Ich mag die Idee, wenn die Gesellschaft manchen Künstlern hilft, das ist besser, als keinen zu helfen. Man macht bessere Kunst, wenn man nicht hungrig ist und eine Heizung hat – ich habe die meiste Zeit meines Lebens ohne Heizung gelebt. 

Lawrence Weiner, 10.2.1942.2.12.2021

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