für Keith McIvor

Über Freundschaft und Vergänglichkeit – zwischen Fuji, Unsound und Making Time

Osaka by night (Photo: Thomas Venker)

Wir schreiben den 5. September 2025 und ich tanze. Es ist nicht nur Schweiß, der mir während des vierstündigen Sets von DJ Sprinkles (Terre Thaemlitz) die Stirn und mehr herunterläuft, es sind auch Tränen der Freude. Nach sich wie Jahre anfühlenden Monaten traue ich meinen Beinen wieder zu, mich durch eine Nacht zu tragen – oder zumindest durch vier Stunden wie in dieser in Osaka im Socore Factory Club. Ich habe an anderer Stelle darüber auf kaput geschrieben und will es damit heute auch belassen. Nur so viel: man nimmt es immer für gegeben, dass man sich bewegen kann und mit anderen soziale Räume teilen darf, aber es ist ein Geschenk, das man gar nicht genug wertschätzen kann.

Ich habe das große Glück, in meinem Leben schon zwei Handvoll Sets von Terre Thaemlitz erlebt haben zu dürfen, darunter auch vier Sprinkles-Sets. Aber jenes in dieser Nacht, als Teil des Unsound Festivals, wird mir für immer Sekunde für Sekunde in Erinnerung bleiben. Eine einzige große Welle der Freude. An dieser Stelle sei der Clubbetreiber gegrüßt, dessen übersprudelnde Euphorie das Maß für alle im Nachtleben aktiven Menschen sein sollte.

Rewind. Oktober 2022. Unsound Festival in Krakau. Zu meiner Schande muss ich gestehen, dass es meine erste Reise überhaupt nach Polen war und somit auch mein erstes Unsound. Jahrelang lag es parallel zum CMJ in New York, dann gingen mir die Ausreden aus – aber in diesem Herbst habe ich mich mit meinem Freund Oli Isaacs nach Krakau begeben. Ich mach es kurz: es war ein fantastisches Wochenende voller nachhaltiger Begegnungen und ebensolcher Performances; natürlich ausführlich für kaput dokumentiert.

Erwähnen muss ich aber explizit, dass ich mir während des B2B-Sets von Tim Reaper und Kode9 meine bis dato einzige Covid-Infektion geholt habe. Das weiß ich so genau, da ein Tänzer sehr, sehr laut und sehr, sehr bestimmt „Heute Nacht holt ihr euch alle Covid“ in unsere Ohren geschrien hat. Damals war das eine große Angst, auch wenn es – zumindest bei mir – relativ unaufgeregt verlief. Trotzdem war es generell eine Zeit, in der wir alle zum ersten Mal kollektiv ein Gefühl dafür entwickelt haben, was es heißt, verwundbar zu sein – ein Zustand, den man gemeinhin negiert, bis das Schicksal eben zuschlägt.

Ich bin in Osaka nur zufällig beim Unsound gelandet. Eigentlich bin ich für fünf Wochen in meinem Lieblingsland auf Heilreise – ein Wording, das ich zum ersten Mal im Gespräch mit einer sagen wir mal unsensiblen Mitarbeiterin meiner Krankenkasse gewählt habe, um ihr zu verdeutlichen, dass ich selbst diese Reise während meiner Krankschreibung nicht als normalen Urlaub empfinde, sondern eben als Reise an einen Ort, an dem ich mich immer so wohlfühle, dass ich mir auch in meinem angeschlagenen Zustand dort den entscheidenden Fortschritt bei meiner Genesung erhoffe. Ich scheiterte im direkten Austausch, es bedurfte einer Amtsärztin, um die Angelegenheit offiziell zur Heilreise zu machen.

Dementsprechend sensibilisiert für Krankheit und all the mess, das dranhängt, bin ich in diesen Tagen. Und so trifft mich am 19. September die Nachricht vom Tod von Keith McIvor umso heftiger. Es wäre zu viel gesagt, dass wir enge Freunde gewesen wären, aber man kannte und mochte sich über mehr als zwei Jahrzehnte, hat nicht wenige Nächte und auch Tage geteilt.

Jonnie Wilkes & Keith McIvor (Optimo), Primavera Festival 2022 (Ausschnitt aus einem Photo von Vivan Thi Tang)

Sein Tod kam nicht überraschend, die Erkrankung war zwei Monate zuvor in ihrer ganzen Drastik bekannt geworden und hatte eine große Welle der Anteilnahme und Unterstützung hervorgerufen. Ein kleiner Trost, dass er noch zu Lebzeiten spüren konnte, wie sehr ihn alle respektierten, ja liebten.

Ich hoffe, es klingt jetzt nicht anmaßend, wenn ich meine im Rückblick sicherlich klein erscheinende Verletzung im Kontext einer so brutalen und auch finalen Erkrankung erwähne. Aber für einige Wochen hat es sich für mich definitiv nicht so klein angefühlt. Ich erwähne es vor allem, da es meine Nachdenklichkeit über Verletzlichkeit und auch Endlichkeit potenziert hat. Wenn man viel liegt, kommt das von allein. Man realisiert, wie dünn die Membran zwischen gesund und krank ist. Es ist eine Trivialität, aber wie oft entgehen wir schlimmen Dingen nur um Millimeter – und erfahren es nie. Aber wenn etwas passiert, dann ist es eben faktisch. Solche Gedanken und noch ganz andere schwirren einem in langen Krankenhausnächten stetig durch den Kopf.

In den Stunden nach der Nachricht von Keiths Tod muss ich viel an den September 2024 denken. Ich bin wieder mit meinem Freund Oli Isaacs unterwegs, diesmal in Philadelphia auf dem Making Time Festival unseres Freundes Dave P.

Ich muss nur das Aufmacherbild des damaligen Artikels anschauen – und schon kommen mir die Tränen. „Making Love with Lauren, Dave P, JG Wilkes (Optimo), Andrew Ferguson and Keith McIvor (Optimo)“ lautet die Bildunterschrift. Man sieht also unter anderem neben Keith noch seinen Optimo-Partner Jonnie Wilkes und Andrew Ferguson, die eine Hälfte von Bicep auf dem Bild – eigentlich hätte an diesem Abend auch Matthew McBriar, die andere Bicep-Hälfte, mit dabei sein sollen, aber aufgrund eines Gehirntumors war er nicht in der Lage.
So was lässt sich nicht einfach abschütteln, schon gar nicht, wenn man in seinem Leben schon einige Menschen durch einen Tumor verloren hat. Es schwebten also viele Gedanken über dem Set für mich. Aber ganz sicher nicht der daran, dass es sein könnte, dass einer der drei anderen Djs, die nach ihrem Set so begeistert gefeiert wurden und selbst so happy waren, nur ein Jahr später nicht mehr leben würde.
Ich weiß nicht, ob das nachvollziehbar ist, aber in der Nacht von Keiths Tod und auch noch die Wochen danach machten mich diese Gedanken ziemlich irre.

Wir alle – zumindest gehe ich mal davon aus, dass ich damit nicht alleine bin, sondern dass es ein kollektiver Wesenszug ist – sehnen uns und bemühen uns um so etwas wie Sicherheit und Verlässlichkeit in unseren Leben – weil es sich gut anfühlt, aber auch, weil man sonst irre wird.
Ich weiß noch sehr gut, wie meine Mutter uns zum ersten Mal dieses Kinderlied „Morgen früh, wenn Gott will, wirst du wieder geweckt“ vorsang – mehr als Drohung, uns gut zu benehmen, denn als etwas anderes. Das Lied, übrigens von Johannes Brahms komponiert, ist gleichermaßen christliches wie familiäres Druckmomentum, um Kindern Angst zu machen und sie auf Bravsein zu konditionieren. Was auch eine Zeit lang funktioniert, bis man eben die Bigotterie und das banale Kalkül dahinter versteht.

In jener Nacht, als ich vom Tod von Keith erfahre und an das Jahr 2024 und die Erkrankung von Matthew denken muss, kriechen plötzlich die Erinnerungen an so viele viel zu früh verstorbene Bekannte und Freund:innen heraus: meine Mitstudierende Katrin, die binnen Wochen vom Krebs zerfressen wurde; mein Schulfreund Alex, der unter einem das Stoppschild ignorierenden LKW in Marokko nur Wochen nach dem Abitur so sinnlos starb; mein Kindheitsfreund Kiese, der seine Depression nie offenbart hat und einfach eines Tages einen hohen Baum hinaufkletterte, um nie wieder herunterzuklettern; meine Freundin Jessi, die so tapfer und energisch gegen ihren Gehirntumor kämpfte …

Ich muss auch an meine Japanreise 2023 denken, als ich – ein Pandemieversprechen an mich selbst und eine Reaktion auf all die Erlebnisse in dieser Zeit – allein Hokkaido zu Fuß und per Zug umrundet habe und letztlich in meiner Durch-die-Wand-immer-Weiter-Manie mein Fußproblem selbst verursacht habe; was nicht heißt, dass das, was daraus wurde, nicht Schuld eines narzisstisch-ignoranten Arztes war und ist.
Aber hier soll es nicht um mich gehen, wovon ich hoffe, dass das deutlich wird, sondern um uns alle, um unsere Verletzlichkeit, um die dünnen Fäden, die Leben und Krankheit oder eben Tod trennen, und die jederzeit, da müssen wir uns nichts vormachen, getrennt werden können.

Was die Ableitung aus all dem? Nun, für mich auf jeden Fall, dass ich jeden Moment mit Freund:innen noch intensiver als früher zu schätzen weiß. Denn nichts ist schöner, als sein Leben mit jenen zu teilen, bei denen man sich wohlfühlt. Es klingt so trivial, aber das ist es nicht. Und deswegen war es mir auch so wichtig, es an dieser Stelle niederzuschreiben.

Um ehrlich zu sein, eigentlich sollte hier auch noch ein weiterer, längerer Exkurs folgen über Leute, die mich zuletzt enttäuscht haben – nicht zufällig oft „rich kids“, die so vieles anderes machen, positive Strukturen und Beziehungsgeflechte stiften könnten – aber es eben nicht tun. Doch jetzt, wo ich all das andere geschrieben habe, will ich sie alle nur in den Arm nehmen, da sie den falschen Göttern dienen.

Im Text des New-Order-Songs „Crystal“ finden sich die Textzeilen: „…Here comes love / It’s like honey / You can’t buy it with money“. Sie ergeben nicht wirklich Sinn, aber trotzdem sind sie bei mir hängen geblieben. Wahrscheinlich, weil sie genau so schief liegen wie der Glaube, dass das Leben an sich fair wäre. Es ist nicht fair. Aber wir können es fair leben. Fair im Sinne davon, dass wir verstehen, dass nur eine gemeinsam geteilte Welt eine schöne ist.

Die Stichworte zu diesem Text tippe ich in mein Telefon, während ich von Tokio nach München fliege. Nach verzweifelten Sichten des Filmangebots habe ich quasi als resignativen Akt „Köln 75“ ausgewählt. Der Film erzählt die Geschichte wie die damals 18-jährige Vera Brandes Keith Jarretts berühmtes „Köln Concert“ organisiert. Der Film ist so medioker wie erwartet, aber dann trotzdem nicht so schlecht wie gedacht. In den Sequenzen zwischen all dem Klamauk und sinnlosen Rumgerenne, wie man es nicht anders von einem deutschen Film erwartet, finden sich immer wieder irritierend nachdenkliche Momente, in denen uns entweder der Keith-Jarrett-Charakter oder der Musikjournalist (der als erklärender Erzähler fungiert), die Welt und Musik erkoren wollen – ich bleibe an dem Moment hängen, an dem Keith Jarrett über Stille philosophiert, was nichts anderes bedeutet, als dass er sie sich wünscht. Was natürlich einleuchtet für „ihn“ als Künstler. Ich aber muss aber an meine Mutter denken, die am liebsten den ganzen Tag Stille hätte, nicht als Zustand, um ihre Kreativität zu stimulieren, wie es hier im Film gemeint ist, sondern als Idealzustand ihrer Welt. Und sie ist damit sicherlich nicht allein, sehr viele Menschen sehnen sich nach permanenter Stille. Denn Geräusche, Stimmen sind für sie der Anfang von potenziellen Problemen.
So unterschiedlich sind wir Menschen. Andere, und da zähle ich mich dazu, sind stetig auf der Suche nach Sounds und Stimmen und den interessanten Gedanken in diesen (um Frank Spilker zu zitieren).

Fuji (Photos: Sarah Szczesny)

Der Flug führt diesmal übrigens zum ersten Mal nicht gen Westen zurück aus Japan, sondern gen Osten, also über Alaska, Kanada und die Arktis. Was insofern bemerkenswert ist, da man ja, wenn man aus Japan abfliegt, am gleichen Tag in Deutschland landet, da man (so die bisherige Logik) mit dem Tag reist. Wieso wir diesmal aber offensichtlich andersherum gereist sind und trotzdem am gleichen Tag ankommen, erscheint mir zumindest gerade jetzt, tief in der Nacht, wie ein Rätsel. Aufklärung wird gerne erfahren. Muss aber auch nicht sein, schließlich ist ja der Großteil unserer Existenz und des Universums und überhaupt ein Rätsel und wird es bleiben.

Negativer Effekt der Flugroute: uns bleibt ein letzter sehnsüchtiger Blick auf den Fuji verweht. Deswegen seien an dieser Stelle eine besonders schöne Aufnahmen geteilt.

Ich möchte diesen Artikel, der final geschrieben wurde, während ich alle auf meiner Japanreise gekauften Platten gehört habe (was Keith sicherlich sehr gefreut hätte, da er ein großes Herz für obskure Musik hatte), mit diesem Link zu einem Beitrag von Kaput-Grafiker und DJ Christian D enden, der Jonnie Wilkes aka DJ Wilkes 2025 zehn Fragen stellte, illustriert von einer Collage von Sarah Szczesny, auf der Christian Jonnie auf die Backe küsst:

Meine Lieblingsantwort ist jene auf die Frage, ob es eine Platte gibt, die er jede Nacht spielen könnte: „Keine passt jede Nacht. Nein. Du musst wissen, ich hatte schon wirklich sehr seltsame Nächte in meinem Leben.“
Ich denke, das können wir alle zum Glück unterschreiben – und das ist ja auch das Tolle am Leben. Auf dass wir mehr solcher seltsamen Nächte und auch Tage zusammen erleben dürfen.

Der Biwa See, 19.9.2025 (Photo: Sarah Szczesny)

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