Record of the Week meets Hospital Trauma

Pulp im Hospital

v.l.n.r.: Linus Volkmann, Thomas Venker, Jarvis Cocker (Photo: Dominik Gigler, 2001)

Im 47. Jahr ihrer Bandexistenz landen Pulp mit ihrem achten Album „More“ ihren ersten Nummer-eins-Hit im United Kingdom (in Deutschland reicht es immerhin für Platz 9). Was eine normale Plattenbesprechung werden sollte, verwandelte sich allerdings durch eine misslungene Routine-Op in ein wochenlanges Deep Listening Trauma für Thomas Venker.

“It’s just a Sunset” / Someone said / “Something is coming to an end” / “Yes it’s a sunset”
(Pulp, „A Sunset“, 2025)

Als ich am 19. Mai die Recherche für meine Besprechung des neuen Pulp-Albums begann, war alles (fast) noch okay. Entgegen all meiner Erwartungen – was sollte da denn noch kommen außer Verwaltungsarbeit? – zog mich ‚More‘ sofort in seinen Bann. Wenn ich mich richtig erinnere, hörte ich es dreimal durch bevor ich mich überhaupt in die Texte und Linernotes einzulesen begann und erst dann registrierte, dass mein Freund James Ford das Album produziert hatte (Welche Platte hat er zuletzt nicht produziert? Beth Gibbons, Pet Shop Boys, Depeche Mode, Artic Monkeys, Blur…). Ich teilte meine Begeisterung mit ihm und arbeitete weiter an meinem Text, nichts ahnend, dass es die längste und schmerzhafteste Besprechungsgenese meines bisherigen Lebens werden sollte.

Gerade einmal 48 Stunden später landete ich im Krankenhaus – aber dazu später mehr. Bleiben wir vorerst bei Pulp, der Chronologie und der nötigen Strangverknüpfung zuliebe.

Photo: Sarah Szczesny

 

In den Linernotes zu „More“, die neben einem klassischen Infotext auch aus Kommentaren von Pulp-Sänger Jarvis Cocker bestehen, erfährt man viel über die emotionalen und künstlerischen Hintergründe der Entstehung des Albums. Cocker reflektiert die Songs dabei stets im Kontext seiner eigenen Biographie – mit einem Tonfall, der zwischen Selbstanalyse und stilisierter Pop-Melancholie changiert. Besonders interessant ist, wie dabei persönliche Erlebnisse und schöpferische Prozesse nicht getrennt voneinander erzählt werden – eben da Kunst und Leben nie zwei separate Stränge sind, sondern so eng verschlungen wie die Doppelhelix unser DNA, unauflöslich verbunden solange der Puls schlägt.

„Help the aged / One time they were just like you / Drinking, smoking cigs and sniffing glue / Help the aged / Don’t just put them in a home / Can’t have much fun when they’re all on their own / Give a hand, if you can / Try and help them to unwind / Give them hope and give them comfort / ‚Cause they’re running out of time …“
(Pulp, „Help the Aged“, 1998)

Cocker führt aus, wie er mit zunehmendem Alter Veränderungen in seinem Songwriting bemerkt hat. Schrieb er früher primär über „Gedanken, Ideen und Konzepte“, so führten eine Beziehungskrise, der Tod seiner Mutter sowie der Verlust des Pulp-Bassisten Steve Mackey zu einer Hinwendung zu einem von seiner eigenen Gefühlswelt gespeisten Text- und Kompositionsprozess.
Seine langjährige Beziehung lag zu diesem Zeitpunkt auf Eis, und er befand sich, wie er sagt, „inmitten eines Jahres, in dem ich mich fragte, was ich hier eigentlich mache“. Mit dem Ergebnis, dass „More“ der Diskografie von Pulp – 24 Jahre nach dem letzten Album „We Love Life“ – tatsächlich neue Narrative hinzufügt.

Bday-Party JC

Kurzer Einschub:

Die Älteren unter den Kaput-Leser:innen werden sich erinnern: „We Love Life“ war Anlass für Linus Volkmann und mich, Jarvis Cocker damals in London – unter Mithilfe von Pulp-Gitarrist Mark Webber – so lange zu stalken, bis wir Einlass zu seiner Geburtstagsparty bekamen.

Am nächsten Tag durften wir ihn dann sogar in seinem Kensington-Privatclub treffen, um ein Interview für die November-2001-Coverstory des Intro-Magazins zu führen.

Good times – zumindest für uns.

Jarvis Cocker & beim Auflegen auf der Geburtstagsparty von Jarvis, London, 2001 (Photo: Thomas Venker)

Aber zurück zu „More“. Cocker erzählt auf dem Album statt egozentrischer Weltbetrachtungen und exzessiven Ausschweifungen Geschichten von emphatischer Sorge um Kinder, Eltern, Freund:innen. Es sind ehrliche Abbildungen von Beziehungsproblemen – keine hedonistisch zur Schau gestellten Ich-Momente mehr. Oder, anders gesagt: Cocker setzt auf „More“ vertraute Narrative in ein neues Licht – und hinterfragt dabei auch frühere Haltungen und Inszenierungen. Etwa das, im Rückblick betrachtet, etwas überinszenierte Früh-Alt-Sein in Songs wie „Help the Aged“ – ein Thema, bei dem er nun, mit real gelebter Erfahrung, tatsächlich angekommen ist. Wie heißt es im Info so treffend: „In vielerlei Hinsicht ist „More’“ ein Album über das Verrinnen der Zeit geworden, über das Reifen und das Verständnis für den eigenen Platz in all dem.“ Ein Satz, der – als ich „More“ später in Endlosschleife im Krankenhaus hörte – in mir besonders tief nachhallte.

„More“ entstand gemeinsam mit den langjährigen Pulp-Mitgliedern Mark Webber, Nick Banks und Candida Doyle – sowie den neueren Mitstreitern Andrew McKinney, Emma Smith, Adam Betts und Jason Buckle. Ergänzt wurde das Line-up durch den String Arranger Richard Jones und natürlich durch Produzent James Ford. 
Ford versteht es wie kaum ein anderer, den Sound und die Patina der 90er- und Nullerjahre aufzugreifen, ohne dabei zeitgenössische Einflüsse außen vor zu lassen. Gerade für eine Band wie Pulp, die seit dem zermürbenden Aufnahmeprozess von „This is Hardcore“ ein empfindliches Verhältnis zu Studioarbeit hat, ist Ford ein Glücksgriff: Er ist bekannt für seine zügige, fokussierte Arbeitsweise – und bringt dabei dennoch Wärme und Tiefe in den Sound.

Photo: Sarah Szczesny

Vielleicht ist jetzt der richtige Moment, um gemeinsam in einige Songs von „More“ einzutauchen – dorthin, wo der „neue“ Jarvis Cocker am greifbarsten wird. Besonders gut eignet sich dafür der zehnte (von insgesamt elf) Songs: „The Hymn of the North“. Er handelt von Cockers Sohn – geschrieben, als dieser 16 war und es für Jarvis plötzlich spürbar wurde, dass sein Sohn bald das Haus verlassen würde, um ein eigenes Leben zu beginnen. Der Song gleitet sanft dahin, getragen von genau der richtigen Prise Pathos – aber nicht ohne ein leicht affektiertes, dramatisch überspitztes Intermezzo von etwa acht Takten, das wie ein kurzes Zucken im ansonsten ruhigen Fluss wirkt. Cocker selbst war von dieser Erkenntnis, wie er sagt, „frightened to death“ – und das spürt man jeder Zeile des Textes an.

„Life still needs to be filled none the less / So go and find something to love / But just promise me this one thing, yes: / Please stay in sight of the Mainland / Please stay in sight of the Mainland / I know you’ve got to go / I don’t want you to go …“

Ein weiteres Beispiel – und für mich einer der Hits des Albums – ist „Grown Ups“. Schon das wunderbar beschwingte, rund 45 Sekunden lange Intro hätte eigentlich für sich stehen können: eine kleine hypnotische Endlosschleife, die auf charmante Weise nirgendwohin will. Aber natürlich kommt dann Jarvis’ Stimme ins Spiel – und hebt den Song sofort auf ein anderes Plateau. Man hängt an seinen Lippen, lauscht, und spätestens beim Refrain croont man mit.
„Grown Ups“ ist ein älterer Song, entstanden bereits während der „This is Hardcore“-Ära. Doch erst jetzt, rund drei Jahrzehnte später, fand Cocker die passenden Worte. Nomen est omen: Vielleicht musste er tatsächlich erst erwachsen werden, um diesen Song beenden zu können. Jarvis sagt dazu: „Perhaps I had to become a grown up before I could finish it. I’ve always had a bit of an obsession with age. I don’t know why, but I wrote a song called ‘Help the Aged’ when I was 33. And I’ve always not really wanted to grow up. So to say that I am grown up now is a big achievement actually. The thing I do remember when I was younger is wanting to be older because I thought I would be less awkward then.“

Es ist diese Mischung aus Selbstbeobachtung, Ironie und leiser Melancholie, die Cocker bis heute zu einem der spannendsten Erzähler im britischen Pop macht – gerade weil er seine Unbeholfenheit nie ganz ablegt, sondern sie als Teil seiner Wahrheit akzeptiert.

„The moon went behind a petro-chemical p lant / I had a feeling I didn’t understand / I was shivering on crutches / More dead than alive / It was Xmas 1985 / It was the night they let me out of the home / It was the night I caught the bus on my own (….) Trying so so hard / To act just like a grown up / & it’s so so hard / & we’re hoping that we don’t get shown up / & everybody wants to grow up / Finally part of the new generation / Finally part of the pub conversation / & somehow this leads to mature life decisions (…) Playing all night / To get in somebody’s Knickers / & I am not ageing / No, I am just ripening / & life’s too short to drink bad wine (…) Cos nobody wants to grow up / One last sunset
One final blaze of glory / & I know it’s all about the journey / Not the final destination / But what if you get travel sick / Before you’ve even left the station? …)
(Pulp, „Grown Up´s“, 2025)

Es sind aber nicht nur die großen Reflexionen, die Cocker auf „More“ mit uns teilt – sondern auch die kleinen Fragmente seines Lebenspuzzles. So erzählt er in „Tina“ von einem Mädchen, das er vor langer, langer Zeit in Sheffield aus der Ferne anhimmelte – sich aber nie traute, anzusprechen.

„ (…) Does she still wear the t-shirt / With the horizontal stripes? / The one she wore / The night I almost spoke to her / Tina’s always attentive to my needs / We’re really good together / cos we never meet (…) Welcome back to Dreamland / We all know your name / T.i.n.a. still reads her book on the train / Tina / Tina / Tina / Well tonight I have been thinking about Tina.“
(Pulp, „Tina“, 2025)

Unfree Hospital

Und damit wären wir im Krankenhaus. Oder: im Hospital – wie ich es in fast allen Textnachrichten nannte, die ich während dieser drei Wochen mit Freund:innen austauschte. Die Zwischenüberschrift? Eine Referenz an Tocotronic. „Free Hospital“ – einer ihrer schönsten Songs. Und, zumindest zur Hälfte, ein erstaunlich passendes Abbild meiner eigenen Hospital-Gefühlslage.

„ … Das Ticken der Wanduhr ist wie ein Lied / Die Dinge um mich bilden ein Muster / Das mich unbeweglich umgibt (…) Hier aus dem Dunkeln schauen zwei Augen / Und ihr Blick ist finster (…) Ich merke es genau doch kann es kaum glauben / Wir werden verwundet durch das was wir sehen / Free / Free / Hospital / Free / Free
/ Hospital / Hospital)“.

Nach diversen Cliffhangern ist es an der Zeit, die Ereignisse zu benennen, die mich ins Hospital gebracht haben.
Ende April ließ ich – nach langem Zögern – ambulant eine sogenannte „Routine-OP“ an meinem linken Sprunggelenk durchführen. Drei Ärzte, die ich konsultierte, nannten den Eingriff unisono unproblematisch.
Und zunächst sah es tatsächlich nach komplikationsloser Heilung aus. Doch dann entwickelte sich eine Entzündung – langsam, aber doch stetig hochkochend. Der behandelnde Arzt wollte das so jedoch nicht wahrnehmen. Das Ergebnis: Nach mehreren besorgten Praxisbesuchen kollabierte ich zuhause und wurde per Krankenwagen ins Hospital gebracht.
Drei Wochen sollte ich dort bleiben. Vier weitere Male wurde ich operiert. Ich muss vermutlich nicht extra erwähnen, wie traumatisch, wie angsterfüllt diese Tage und Nächte waren. Wie fremdbestimmt sich alles anfühlte. Selbst jetzt, eine Woche nach der Entlassung, bin ich noch weit entfernt von Ruhe. Dies ist der erste Moment, in dem ich wieder schreiben kann. Davor: Fieberwallungen. Schmerzmedikamente. Eine kurze, verschwommene Oxycodon-Episode – ein Tag, vielleicht zwei –, an die ich mich kaum erinnere. Die Wunden sind noch offen. Und mit ihnen auch die Angst: Dass wieder etwas kippt. Dass es zurückkommt.

Photo: Sarah Szczesny

Ich sprach vorhin über „Grown Ups“ und das Erwachsenwerden – ein Zustand, den wir, die im Kulturbetrieb tätigen Berufsjugendlichen, gern für ewig von uns wegschieben. Bis es nicht mehr geht. Bis uns die Endlichkeit einholt – durch ein Kind, eine Krise, das Ende einer Beziehung. Oder, wie in meinem Fall: durch Krankheit.

Jarvis Cockers Weg zu einem neuen Songwriter-Paradigma habe ich weiter oben bereits skizziert. Und während sich die Stunden und Tage im Krankenhaus zogen – vor allem die Nächte, in denen ich trotz Schlafmittel nur dämmerte, unruhig, bewegungslos, im Loop meiner Gedanken – dachte ich oft an diesen Song. Und an das Album als Ganzes. Vielleicht war das auch der Moment, in dem sich die Idee verfestigte, diese beiden scheinbar unvereinbaren Dinge – Albumbesprechung und Hospitalverarbeitung – miteinander zu verweben. Weil sie sich für mich ohnehin nicht trennen ließen.

„I was waiting for a knock on the wall / Waited all night did not hear anything at all / Thinking of my lips on your lips / Working on a partial eclipse / Welcome to the home of the hits / Sorry to insist / On this partial eclipse / Of the sun. / A brand new shape to the universe / This is what it looks like with polarities reversed / Expansion becomes contraction / Repulsion becomes attraction…“
(Pulp, „Partial Eclipse“, 2025)

Beim ersten Hören zuhause hatte sich „Partial Eclipse“ nicht wirklich bei mir festgesetzt. Im Hospital aber sollte sich das ändern. Vielleicht, weil Jarvis Cocker in diesem Song – mit jener von ihm so elegant kultivierten flachen Dramaturgie – ausgehend von der Sonnenfinsternis 2015 von einem „Verlassen der Erde“ träumt. Einer Flucht vor all dem Negativen, das diese Welt zu bieten hat. Seine Version eines Sun-Ra’schen Space-Eskapismus.
Und plötzlich passte dieser Song erschreckend gut zu meinem himmellosen Alltag im Krankenhaus: In der ersten Woche sah ich keinen Himmel. Danach nur, wenn ich mich auf Krücken ans Fenster schleppte. Oder wenn mich jemand im Rollstuhl in den Garten schob.

Fürs Protokoll: Die Erlebnisse der vergangenen Wochen haben bei mir nicht das „Grown Ups“-Narrativ geprägt – vielmehr ist es, wie der Plural schon sagt, das aktuellste von mehreren Erfahrungen, die das Thema in mir zum Vibrieren bringen. Ein heftiger Fahrradunfall vor dreizehn Jahren, ein weiterer vor fünf Jahren sowie – ähnlich wie bei Jarvis Cocker und wahrscheinlich vielen von euch, den Kaput-Leser:innen – diverse persönliche Verluste und Krankheitsgeschichten im nahen Umfeld haben das Narrativ über die Jahre immer zentraler in meiner Wahrnehmung verankert.

Was mich in diesen drei Wochen im Hospital besonders beschäftigte, waren nicht nur meine eigenen körperlichen Erfahrungen. Wenn man so nah mit fremden Menschen zusammenlebt – oft nur durch 30 bis 50 Zentimeter und eine Wand aus Kissen und Decken getrennt, die man sich baut, um zumindest ein Restmaß an Intimität zu haben –, denkt man sich ganz automatisch in ihre Leben hinein und spiegelt sie zurück ins eigene. Es gibt wohl niemand, der im Krankenhaus nicht über die eigene Vergänglichkeit nachdenkt. So scheiße sich alles für mich anfühlte, hielt ich doch immer an der Hoffnung fest, dass es besser wird. Einige meiner Mitpatienten – und das sagten manche sogar offen – hatten diese Hoffnung längst aufgegeben, sei es wegen ihres Alters, ihrer Krankheit oder beidem.

Natürlich weiß ich, dass meine Erlebnisse nichts im Vergleich zu jenen sind, die in Kriegsgebieten oder anderen Krisenregionen jahrelang mit unvorstellbarem Leid konfrontiert sind. Trotzdem habe ich mich entschieden, diese Eindrücke zu teilen. Das Schreiben war für mich schon immer ein Ventil, eine Form der Selbsttherapie. Ebenso wie mir die Anteilnahme von Freund:innen und Bekannten in den letzten Wochen und noch immer Kraft geben und dabei helfen, mich gegen die anklopfenden depressive Wallungen aufzubäumen.

Doch nicht nur die unmittelbaren Eindrücke vom Leid der anderen gingen mir nahe, sondern auch viele kleine Beobachtungen und Erkenntnisse: Zum Beispiel, dass man nur so gut behandelt wird, wie man seine Rechte selbst einfordert. Nicht, weil Ärzt:innen oder Pfleger:innen es nicht wollen – im Gegenteil, das gesamte Team des St. Vinzenz Krankenhauses, das hiermit einmal ausdrücklich genannt werden soll, verdiene meinen größten Dank, ich fühlte mich in besten Händen – sondern weil das Tempo und die Belastung in der Hospital-Welt so brutal sind, dass kaum Zeit für mehr bleibt. Alle sind ständig am Limit, von der Notaufnahme bis zum Stationsdienst.

„Light all your candles / Light all your candles for me now / Cos all your birthdays came at once / & don’t you try to hide to hide / It cannot be denied / I’ve waited far too long / To believe / To believe in the words / I once wrote to this song: / You’ve got to have love / Oh. / Without love you’re just making a fool of yourself …“
(Pulp, „Got to have Love“, 2025)

Entlassen wurde ich quasi als vorgezogenes Geschenk am Vortag meines Geburtstags. Die Heimkehr war und ist ein Moment der Euphorie, eine Rückkehr zu zumindest etwas Normalität. Auch wenn sich das danach schnell in eine Achterbahn aus Hoch- und Tiefphasen verwandelt – man ist halt doch immer nur so lange optimistisch, bis die dunklen Wolken sich im Kopf breitmachen und plötzlich Jochen Distelmeyer „Ich hab Angst vor Morgen / Ich hab Angst vor Heute / Ich hab Angst vor Gestern“ singt und einem einflüstert, dass Prozac die Lösung sein könnte (Blumfeld, „Testament der Angst“).
Aber keine Sorge: Das Erste, was ich nach dem Hospital machte, war erstmal die Schmerzmitteln abzusetzen.
Vielleicht dauerte es deswegen einige Tage, bis ich mich daran erinnerte, dass ich in den ersten zwei Krankenhauswochen ein eingesprochenes Tagebuch geführt hatte. An Tippen war nicht zu denken, aber ich hatte das Gefühl, dass sich meine Frustration und all die anderen Gefühle, die in mir pulsierten, so kanalisieren ließen und nicht frei in mir herumschwammen wie die Bakterien in meiner Wunde.

Der – zugegebenermaßen sehr pathetische – Titel des Dokuments: „Ich möchte einmal in der Zeit der Glücklichen leben“. Wenn man erst mal drei Wochen im Hospital war, ist Scham sowieso ein Fremdwort. Insofern hier einige Passagen aus meinen Fiebernotizen, ungeschönt, lediglich orthographisch korrigiert – und teilweise auch für mich beim Wiederlesen harter Tobak. Es sei aber versichert: So, wie es hier steht, wurde es eingesprochen – chronologisch von Einlieferung gen Entlassung.

Mercy, help the Aged!

  •  „Bislang schlimmste Nacht. Kein Schlaf ab 2:00 Uhr. Anscheinend schon alle Schmerzmittel verbraucht. Der Kopf explodiert. Absolute Hölle. Ich möchte zum ersten Mal in meinem Leben nicht mehr leben.“
  •  „Seit fünf Tagen ohne Toilette. Die Nase fängt auch an zu laufen. Das Immunsystem ist unten. Ich übergebe mich gleich. Und gerade jetzt kommt die Pflege nicht wie sonst um 6 Uhr, sondern erst um 7.“
  • „Die Nacht war wieder grausam. Ich gebe lediglich eine 9 auf der Schmerzskala, um einen Trend nach oben zu setzen. Aber die ganze Zeit Schmerzen.“
  •  „Den Samstag habe ich im Delirium verbracht. Dem Doping sei Dank. Hätte mir die eine Krankenschwester nicht aus Versehen den Rollstuhl gegen das Bein gestoßen, ich hätte auch das Pokalendspiel verschlafen. So habe ich es immerhin im Fernsehen gesehen – auch wenn ich immer an meine Haupttribünenkarte denken musste.“
  •  „Was im OP wirklich nervt: die Gespräche von den Leuten hören zu müssen, bevor die Betäubung endlich rein kickt. Aber noch schlimmer: wenn sie mit einem Small Talk machen wollen.“
  •  „Nach dem OP hängt plötzlich ein Beutel an mir, in den die ganze Zeit Blutplasma abgepumpt wird. Wundreinigung. Und so sehe ich plötzlich, wie in einem fort bakterielles Blut meinen Körper verlässt.“
  • „Es gibt nichts mehr zu erzählen. Der Donnerstag (wir befinden uns am 8. Tag meines Aufenthalts; Anm. des Autors) war einfach nur langweilig. Die Schmerzen lassen nichts zu außer schlafen und ein bisschen Musik hören.“
  • „Ich muss an meinen Vater denken. Das letzte Mal habe ich ihn in der Rehaklinik bei Dresden gesehen. Auch er hatte damals eine offene Wunde – am Knie. Ich dachte immer, es lag nur an seinem Übergewicht, doch nun habe ich das gleiche.“
  • „Alex, der in Marokko unter ein Auto gekommen ist, noch bevor die Abifeier ausgeklungen war. Kiese an einem Baum aufgehangen nach der Arbeit. Nächste Zeile fressen nächste Zeile.“ (Ich musste offensichtlich an zwei viel zu früh verstorbene Freunde denken; Anm. des Autors)
  • „Das ist mein Blutcontainer, der die ganze Zeit piepst. Anscheinend kommt seit einer Dreiviertelstunde niemand mehr. Es piepst und piepst und piepst. So fühlt man sich also in der unteren Klasse des Gesundheitssystems.“
  • „Der 3. OP – die Narkose hat dann auch nicht mehr so angeschlagen wie davor. Sie erzählten mir, dass sie nachlegen mussten. Egal. Happy, dass ich weg war. (…) Wenn ich nicht auf das MRT bestanden hätte, hätten sie aber nie den zweiten Herd gefunden. Dann wäre die Nacht wieder so grauenhaft geworden.“ (Offensichtlich ist die Timeline ein bisschen durcheinander…; Anm. des Autors)
  •  „Zu wenig Schmerzmittel. Aber meine eigene Schuld, sagt die Nachtschwester. Ich soll halt mehr fordern. Sie steuern nach Patientenwunsch. Really? Aber was soll ich denn fordern? Spritze, Pille, Infusion? Von was? Absurd. Nur damit am Ende nur der Patient Schuld haben kann, wenn was schiefgeht.“
  • „Wie kann eine Person nur so viel klagen und schnarchen wie der Typ neben mir? Immerhin, gerade endlich die Schlaftablette bekommen. Gleich bin ich weg.“
  • „Gerade hat mir ein Doc die Wunde beschrieben: 12 Zentimeter lang. 3 breit. 2 tief. Man wird mir beim OP jetzt oder OP 5 dann Haut vom Oberschenkel nach unten verpflanzen, damit sie schneller verheilt. Kann man mich bitte endlich betäuben und erst wieder aufwecken, wenn alles gut ist?“
    Genug Pain Report.

 

Zurück zu Pulp.

Mein Lieblingssong auf „More“ ist „Slow Jam“, ein Song, für den Jarvis ganze acht Jahre gebraucht hat, um die passende Form zu finden – was man ihm absolut nicht anhört. Ursprünglich war er für sein Soloalbum „JARV IS…“ gedacht, doch irgendwie passte er nicht: Die Musik war zu langsam, die Worte zu depressiv – und der passende Beat nicht in Sicht. Es war Chilly Gonzales, der Cocker den Tipp zum Jersey Beat gab, einem HipHop-Beat, der nur eine Bass Drum benutzt.

Der depressive Text geht ungefähr so: „(…) Slow Death / That’s what our love has turned into / So how about we talk about something new? / You claim the Bible is a lie / You claim it is a work of fiction / Pray then how do you explain / This morning’s crucifixion? / Jesus died upon the cross / Then Jesus came back from the dead / So, I had a word with Jesus / & this is what he said: / Jesus said “I feel your pain / God knows I share it too. / Slow Death? / Now you know just what I went through /So how about we talk about something new? …“
(Pulp, „Slow Jam“, 2025)

Inspiriert wurde der Text von Jarvis Cockers langsam zerbröckelnder erster Ehe, die sich gegen Ende wie ein taumelnder Abstieg anfühlte: „I wrote the second verse, about the Bible, when I was with my first wife. We had a massive row on Good Friday and I went and sat in the park in Paris in a really bad mood. So that’s where those words come from. I suppose it’s the kind of song I wouldn’t have been able to write when I was younger because it’s about the way that when you’re in a relationship for a long time it can become a slow death. But that’s only if you let it become that. So how about trying to turn it into a slow jam?“

Épilogue

Ich widme diesen Text Sarah – auch wenn sie das garantiert hasst. Ohne ihre Liebe und unermüdliche Unterstützung hätte ich die vergangenen Wochen niemals überstanden und wäre das, was noch ansteht nicht bewältigbar.
Ebenso danke ich Pulp und all den Musiker:innen, deren Songs mich durch die Tage und Nächte getragen haben. Musik ist und bleibt die healing Force of the Universe.

PS: Ich hatte gerade diesen Text fertiggestellt, als ich erfuhr, dass auch Jarvis Cocker einmal im Krankenhaus gelandet war. In seinem Buch „Good Pop, Bad Pop“ öffnet er seinen Dachboden und lässt uns durch die Relikte seines Lebens stöbern – halbvergessene Flyer, hingekritzelte Songtexte, leere Batterien. Und irgendwo dazwischen, wie ein kaputtes Spielzeug, das zu viel Bedeutung trägt, um es wegzuwerfen, liegt die Geschichte des Sturzes.
1985: ein Mädchen, ein Fenster, eine falsch eingeschätzte Bewegung. Er fällt. Landet für Wochen im Krankenhaus.
Und hier liege ich nun, überrascht von diesem unheimlichen Echo. Seltsam, wie einen solche Geschichten finden, wenn der Körper weich ist und die Abwehr unten.

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