Talking Musikjournalismus: Andre Bosse

Andre Bosse: “Ab da wusste ich: Ein Schreiben über Musik geht”

Andre Bosse (Photo: Marcus Pietrek)

Kannst du dich an den ersten musikjournalistischen Text erinnern, den du gelesen hast? (Wenn ja: um was drehte er sich? Was gefiel dir daran besonders?)

Die Bravo-Texte handelten zwar von Musik, journalistisch waren sie aber eher nicht – daher nenne ich die Zillo und hier ein Review des ersten Albums von Ride („Nowhere“ von 1990), in dem die Autorin (ich glaube, es war Kiki Borchardt) genau die Begriffe gefunden hat, die ich beim Hören der Musik fühlte: Wellen von Sound, eintauchen in den Sound, etc. Ab da wusste ich: Ein Schreiben über Musik geht.

Gibt es ein Schlüsselerlebnis, das in dir den Wunsch geweckt hat, selbst musikjournalistisch zu arbeiten?

Siehe oben: Als ich spürte, dass ein Schreiben über Musik möglich ist, wollte ich das auch machen. Ein weiterer Auslöser waren die Kataloge des Malibu-Versandes back than (Ende der 80er, Anfang der 90er): Da gab es einen Text zu jeder bestellbaren Platte, und ich dachte mir: Wie großartig muss es sein, diese Musik hören und beschreiben zu dürfen? Das Treffen von Musiker:innen – also die Interviews – waren für mich zunächst noch gar kein Thema, es ging mir in erster Linie um die Reviews.

Was reizt dich am Format Musikjournalismus? Was zeichnet für dich guten Musikjournalismus aus?

Um noch mal Bezug auf die Antworten oben zu geben: Die richtigen Worte zu finden, über das, was Musik ist, wie sie klingt, wen sie wie erreicht. Darüber hinaus – vor allem bei den Features und Interviews – gibt es zwei Dimensionen:

Erstens den Werkstattbericht, sprich: Wie entsteht Kreativität, welche Bedingungen fördern sie, welche hindern sind, wie arbeiten Musiker:innen und die Teams dahinter?
Und zweitens die kulturelle Resonanz von Popmusik, ihre sich immer wieder wandelnden Bezüge zu Kultur, Gesellschaft, Wirtschaft, Politik…

Gibt es einen Lieblingsbeitrag (von anderen Musikjournalist:innen)?

Ich weiß gar nicht, ob ich die genannte Besprechung des Ride-Albus aus der Zillo heute noch so toll finden würde 😉 Sehr, sehr gut finde ich die Porträts, die Alexander Gorkows ganz ab und an mal für die SZ schreibt, über Bill Withers oder Holly Johnson zum Beispiel. In diesem Texten steckt das ganze Leben, der ganze Pop – und sehr, sehr viel Liebe.

Dieselbe Frage auch für dich selbst: welchen Beitrag aus deinem Werkskatalog ordnest du aktuell als deinen wichtigsten ein?

Puh, wichtig… Vielleicht ist es ja eine Stärke von Musikjournalismus, dass er eben nicht „wichtig“ ist. Aber da ich die Frage schon auch beantworten möchte: Für GALORE habe ich ein Interview mit Nicholas Müller, Sänger von Jupiter Jones, geführt, in dem er erstmals über seine Panik-Attackten gesprochen hat. Dass das Thema in irgendeiner Form Relevanz besaß zeigte sich zum Beispiel daran, dass es von Nachrichtenagenturen aufgegriffen wurde und ich dafür für den Rocoo-Klein-Preis nominiert wurde.

Aktuell habe ich einen Essay über die Frage geschrieben, wie man damit umgehen kann, wenn immer mehr Acts, die man liebt(e) moralisch/ethisch wegzubrechen drohen. In dem Text stecken Gedanken mehrerer Monate, aus vielen Gesprächen. Wenn es gelingt, aus diesem komplexen Gemengelangen einen Text zu zimmern, fühlt sich das ganz gut an.

Und dann noch ein drittes Beispiel: Ende November verstarb Shane MacGowan, ein großer Held von mir. Ich hatte die Gelegenheit, den Nachruf für Die Zeit zu schreiben, der von sehr vielen Menschen gelesen wurde. Es gab hier auch tolle, berührende Kommentare unter dem Text, die mir gezeigt haben, dass ein solcher Nachruf viel Trost spenden kann. Und das ist ja auch wichtig.

Gibt es einen unveröffentlichten Beitrag von dir, den du schon immer gerne mal publizieren wolltest, es sich aber nicht ergeben hat? Kaput biete sich im Rahmen der Serie gerne dafür an. 😊

Hm, ne, eigentlich nicht.. Ich habe zuletzt mit meinem alten Musik-Buddy Sebastian Voß eine Hommage über Nikki Sudden geschrieben, die in eine Buch erscheinen soll (herausgegeben von Christoph Jacke) – falls das Buchprojekt doch nichts werden sollte, wäre das einer – dann melde ich mich noch mal 😉

Deine 3 Lieblings-Musikjournalist:innen?

Julie Burchill von NME, weil sie einfach immer wusste, was cool ist.

Bob Stanley (auch Musiker von Saint Etienne), weil er so unglaublich viel über Musik weiß und dieses Wissen in sehr humorvoller Weise auf Papier bringen kann

Birgit Fuß (jetzt Rolling Stone), weil es ihr gelingt, ihr Fan-tum nicht zu verstecken und trotzdem nicht nur für Fans bzw. aus Fan-Perspektive zu schreiben.

Ehren-Nennung: Joachim Hentschel, weil seine Texte im Rolling Stone in den 90er-Jahren sehr prägend für mich – und mir immer klar war: Was er mag, mag ich auch.

Du bist selbst seit den 90er Jahren als Autor aktiv. Was sind die einscheidendsten Veränderungen in deinem persönlichen Berufsprofil über diesen Zeitraum?

Zunächst mal: Was ziemlich gleich geblieben ist, sind die Honorare. Was mit Blick auf die Inflation natürlich eine Katastrophe ist 😉

Natürlich hat sich der Zugang zur Musik geändert, als junger Musikjournalist wurde man kaum bemustert, das geschah ja noch mit CDs – und man bekam zunächst nur etwas, wenn man von der Redaktion den Auftrag bekam, über ein Thema zu schreiben. Nach und nach bekam ich immer mehr Bemusterungs-CDs, was zunächst großartig war, irgendwann nervte – wohin damit? Heute findet die Bemusterung digital statt, was der beste Weg ist. Super ist an dieser Stelle das Magazin MINT, das ausschließlich LPs bespricht. Mit der Folge, dass ich einmal im Monat ein dickes Vinyl-Paket erhalte – so muss sich das früher angefühlt haben 😉
Was weniger geworden ist, sind die Reisen: Die ganz goldenen Jahren in den 90ern habe ich nur am Spielfeldrand erlebt, als ich voll einstieg, wurden die Budgets für Trips schon kleiner, dennoch war ich in den Nullerjarhen sehr viel unterwegs: ständig in London, häufig in den – Fünf-Tage-Trip für 30 Minuten mit Beyoncé. – aber natürlich auch der Wahnsinn. Dass hier heute Zoom neue Möglichkeiten schafft, ist nicht sehr romantisch, aber vernünftig. Auch mit Blick auf Klima. Und was natürlich auch neu hinzugekommen ist, ist Social Media – wobei ich hier mehr oder weniger bewusst nur wenig aktiv bin.

Und über den eigenen Horizont hinaus: wie empfindest du den Status Quo des Biotops Musikjournalismus im Jahr 2024 im Vergleich zu früher?

Es gab eine Zeit in den 10er-Jahre, als ich den Eindruck hatte, dass sich das Biotop Musikjournalismus so sehr demokratisierte, dass an allen Ecken Menschen über Musik schrieben. Einerseits super, andererseits wirkte es ein wenig so, dass man einen Text vor allem mit Emotionen vollpumpen musste, um Leser:innen zu finden. Die Fanzines früher waren anders, die hatten Humor, hatten selbstironische Brüche – das fehlte in dieser zweiten „Demokratisierungswelle“ des Blog- Zeitalters.
Heute ist das wieder anders: In Social Media wird Musik häufig eher verlinkt, geteilt, in Kanäle gepumpt. Die Bewertung, Einordnung und Kritik daran übernehmen wieder die professionell tätigen Musikjournalist:innen. Ein Beispiel: Durch den Einsatz im Film “Saltburn” ist “Murder On The Dancefloor” von Sophie Ellis-Bextor erstmals auch ein Hit in den USA. Fans „machen“ diesen Hit, in dem sie den Song wie verrückt in Playlists packen und strreamen. In Magazinen (Online, Podcasts und Print) gibt es kluge Gedanken zu dieser neuen Form von „Hit“-Entwicklung. Eigentlich eine gute Aufteilung, wie ich finde.

(Wie) kann man Musikjournalismus in das Storytelling von TikTok und Instagram überführen?

Siehe oben: Über diese Kanäle findet die Verbreitung statt, die Reflexion gibt’s dann auf anderen Portalen oder in anderen Heften. Wobei es natürlich auch super ist, wenn es in diesen Netzwerken Ecken für Musik-Talk gibt, BookToc ist da ein gutes Beispel aus dem Literaturbereich. Und dass Social Media ein Kanal sein kann, um gemeinsames Hören von Musik und den Austausch darüber fördern kann, zeigten in der Pandemie Die Listening Parties von Tim Burgess auf Twitter.

Stichwort Karriere. Ab wann war Musikjournalismus für dich eine Berufsoption?

Nachdem ich als Volontär bei einer Tageszeitung in Münster nicht übernommen wurde. Übrigens war meine Volontärs-Genration die erste, der das passierte. Wäre ich da geblieben, hätte ich heute wohl ein Haus in Münster-Wolbeck und würde über eine Karnevalsveranstaltung mit den Namen „Ziegenbocksmontag“ schreiben.

Bereust du die Berufswahl manchmal?

No way! Wobei, manchmal hätte ich gerne einen Trecker….

Letzter musikjournalistische Beitrag, der dir so richtig gut gefallen hat.

Julia Lorenz’ Review des neuen Stones-Albums – weil es ihr gelang, die Nostalgie außen vor zu lassen.

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