Berlinale Streifzug 2018 Teil 4: „Eldorado“, „Twarz“, „In den Gängen“, „Ága“...

Flüchtende und Suchende

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“Los débiles” (“The Weak Ones”, von: Raúl Rico, Eduardo Giralt Brun © Diego Rodríguez)

Filme aus dem Reich zwischen Dokumentation und Inszenierung

Wettbewerb, vorletzter Tag, und die erste von zwei Dokumentation: In „Eldorado“ verknüpft der Schweizer Regisseur Markus Imhoof ein persönliches Kindheitserlebnis mit den aktuellen Bildern von Flüchtlingen im Mittelmeer. Seine Familie hatte im Zweiten Weltkrieg ein italienisches Mädchen aufgenommen, nun verfolgt er die umgekehrten Flüchtlingsströme vom Mittelmeer über Italien in die Schweiz, die sich noch mal ganz anders abriegelt als die EU. Die abstrusen und zuweilen perversen ökonomischen Zusammenhänge – illegale Afrikaner ernten Tomaten, die ihre Verwandtschaft in der Heimat mit deren Geld einkauft – sind immer wieder Thema dieser Doku, denn gesucht wird schließlich das wirtschaftliche Eldorado. Am Ende bleibt nur eine gold glitzernde Rettungsfolie.

„Museo“ von Alonso Ruizpalacios rekapituliert einen Raub von Maya-Kunst, den Mitte der 80er Jahre zwei naive Studenten im Nationalmuseum erfolgreich durchführten und damit die ganze Nation in Atem hielten. Lustig und tragisch, schnoddrig und stylisch begleitet Ruizpalacios seine komplett überforderten Helden. Ein verschwurbelter Abenteuerfilm, eine Gaunerkomödie und ein Roadmovie im Sinne von Filmen wie „Abenteuer in Rio“ mit Jean-Paul Belmondo. Und plötzlich geht es einem Auf: Gael García Bernal ist ein Belmondo-Widergänger!

In der Dokumentation „Touch me not“ von Adina Pintilie steht eine Frau im Mittelpunkt, die Körperkontakt nicht erträgt. Sie unternimmt verschiedene Versuche, ihre Ängste zu überwinden: Ein Callboy wird ebenso bestellt wie ein Intersexueller und ein Körpertherapeut. Auch eine Therapiegruppe wird porträtiert. Der Film lotet die Annäherungen aus, und schließlich ist auch die Regisseurin mehr Teil als Urheber des Projektes. Ein – warum auch immer – betont strenger und kühler Film.

Das Gegenteil: „Kad budem mrtav i beo“ („When I am dead and pale“) aus dem Jahr 1967 von Živojin Pavlović zählt zur Black Wave Jugoslawiens, der Bewegung der 1960er Jahre, die in der Folge der Nouvelle Vague mit schwarzem Humor die Armen und Außenseiter des kommunistischen Landes porträtierte. Sprunghaft und ungestüm tobt die Hauptfigur durch die Landschaft: Als Saisonarbeiter, als gejagter Dieb, als Schwerenöter. Als Volkssänger erlangt er sogar ein wenig Ruhm. Doch als er sein Glück in Belgrad versucht, landet er auf einem Gesangswettbewerb für Beatmusik und wird von der Bühne gejagt. Witzig und wild, anarchisch und lebendig, hat der punkige Film auch viele dokumentarische Qualitäten, so wie er das Leben der armen Landbevölkerung skizziert. Der Film gilt als Meisterwerk des jugoslawischen Kinos, sein vor zwei Jahren gestorbener Hauptdarsteller Dragan Nikolic wurde nach diesem Film in Jugoslawien ein Fernsehstar.

Ein wenig ausruhen können sich die Augen bei „11 x 14“. Das Debüt des Experimentalfilmers James Benning von 1977 ist sehr klar strukturiert, aber noch nicht dem strengen Strukturalismus seiner späteren Werke verpflichtet. Szenen in rauen Working Class-Areas, in weiten Landschaften, im Auto, in der Küche oder vor einsamen Häusern zeigen fiktive Miniaturen, die man nur bedingt zusammensetzten kann zu einem Ganzen. Trotzdem versucht man es natürlich immer wieder, weil der Mensch zur Narration neigt. Und tatsächlich tauchen einzelne Figuren auch an anderer Stelle wieder auf. Eine Geschichte wird es dann doch nicht, aber ein Streifzug durch die us-amerikanische Gegenwart von 1977, die heute wahrscheinlich interessanter anzuschauen ist als damals, denn die Patina der Autos, Häuser, Kleidung ist toll anzusehen.

Und zum Schluss dieses langen Tages noch ein Forum-Film: „Los débiles“ („The weak Ones“) ist das gut einstündige Debüt der Mexikaner Raúl Rico und Eduardo Giralt Brun und war eigentlich als Kurzfilm geplant, wie man beim anschließenden Q & A erfährt. Das merkt man dem Film an, und vor allem die Pointe schmeckt sehr nach kurzem Format. Dazwischen reisen wir mit dem wortkargen Protagonisten, der den Mörder seiner Hunde sucht, durch ein armes und absonderliches Mexiko der Peripherie. Gewalt ist überall spürbar – in den Andeutungen und Posen der Figuren oder den Nachrichten aus dem Radio. Überraschenderweise kommt die Gewalt in diesem Film konkret aber nicht vor.

Für mich ist der Berlinale Freitag der letzte Tag (und nicht der Samstag). Sechs Filme wie am Donnerstag – das hinterlässt seine Spuren. Heute gibt es nur noch die beiden Wettbewerbsfilme „Twarz“ der Polin Małgorzata Szumowska und „In den Gängen“ von Thomas Stuber sowie „Ága“ des Bulgaren Milko Lazarov.

„Twarz“ führt mit Jacek einen sympathischen Außenseiter vor: In Metal-Kutte jagt er mit seinem ollen Mini-Auto über die Landstraßen, dreht Metallica auf und will nach London – am liebsten mit seiner Flamme Dagmara. Doch während der Bauarbeiten an der weltweit höchsten Jesus-Statur hat er einen Unfall und ist von da an im Gesicht entstellt – verständlich reden kann er auch nicht mehr. Für ihn ändert sich alles, für den Film auch: Heldenverehrung, bigotter Katholizismus und Spott gegenüber dem Entstellten lassen die polnische Entwicklung der letzten Jahre Revue passieren.

“In den Gängen“ ist Franz Rogowskis zweiter Auftritt im Wettbewerb. Hier ist er neben Sandra Hüller in einer zarten Liebesgeschichte zu sehen, die fast komplett zwischen Gabelstaplern in einem Großmarkt angesiedelt ist. Thomas Stuber findet nach seinem Porträt „Herbert“ über einen ehemaligen Boxer hier auch mal humorvolle Töne, ohne seinen sozialen Realismus in der Figurenzeichnung aufzugeben. Sein auf engem Raum sehr offen inszeniertes Drama nach einer Kurzgeschichte von Clemens Meyer ist klug gebaut, die beiden großartigen Hauptdarsteller und ihr Partner Peter Kurth, der bereits in „Herbert“ die Hauptrolle spielte, füllen das Kammerspiel mit Leben.

Eigentlich wäre “In den Gängen“ nach 8 Tagen und 29 Filmen und einem sehr durchwachsenem Wettbewerb ein wunderbarer Schlusspunkt, aber es steht noch „Ága“ auf dem Programm. Fast dokumentarisch und in klarer Tradition des Dokumentarfilmklassikers „Nanook of the North“ von Robert J. Flaherty aus dem Jahr 1922 stehend – auch in „Ága“ heißt die männliche Hauptfigur Nanook –, begleiten wir in „Ága“ ein altes Paar in der Eiswüste. Das Wild ist rar, die Frau ist krank und die Kinder sind längst in der Stadt. Der Film zieht einen tief in dieses harte Leben, die Aufnahmen sind im Vergleich dazu fast zu schön.

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