Vorabdruck

Can, eine Art Erinnerungsruine

Der Schriftsteller, Musiker, Künstler, Dozent für Kreatives Schreiben und langjährige Freund des Hauses Kaput Hendrik Otremba hat sich für den Wallstein Verlag tief in das Werk der Kölner Krautrockband CAN hineinbegeben, um „Essays zu Werk und Ästhetik“, so der Untertitel des Buchs zu verfassen.

Neben diesen acht Essays, deren Titel sich wie Spuren einer Schnitzeljagd lesen, die man sich nicht entgehen lassen möchte („Ruinen“, „Geistesgegenwart“, „Kintopp“, „Collage“, „Alien Singers“, „Liebezeit“, „Kontinuitäten“, „Rhapsodie“), teilt Hendrik noch „Stille (Gedicht)“ mit uns sowie ein einführendes und sehr erleuchtendes und unterhaltsames Gespräch mit Irmin Schmidt.

Wir freuen uns sehr heute das erste Essay „Ruinen“ als Vorabdruck teilweise mit Euch teilen zu dürfen. „CAN“ erscheint am 9. Oktober und bekommt von uns das #prädikatkaput verliehen. In anderen Worten: Pflichtlektüre 😊

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»Man bringt an Erinnerungen aus der Vergangenheit immer nur Fetzen mit. Das heißt, man erinnert sich in Einzelbildern. Dieses Bewusstsein war wichtig für Can, dass nämlich viel musikalische Vergangenheit in der Musik steckt. Nicht im romantischen Sinne einer Ruine, sondern in Form einer Art Erinnerungsruine, als Erinnerungsfetzen. Fetzen aus der Musikgeschichte!« (Irmin Schmidt)

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Es muss eine aufregende Zeit sein im Deutschland der 1960er Jahre, gerade in Köln. Die Ruinen sind noch sichtbar, noch spürbar. Im Wiederaufbau entsteht für viele junge Menschen ein Schwung, der ihnen einen Aufbruch ermöglicht. Irmin Schmidt, Holger Czukay und Jaki Liebezeit sind alle drei in den ausgehenden 1930ern geboren. Dementsprechend wirkt eine noch aus der Zeit vor den 1960er-Jahren stammende musikalische Tradition in ihnen nach, als sie mit jenseits der zwanzig, zumindest in der Popzeitrechnung untypisch alt, Can gründen. Sie haben, und das ist für Can außerordentlich wichtig, eine ästhetische Vorgeschichte: Irmin Schmidt, dessen Mutter die Oper liebt und ihren Sohn musisch erzieht, absolviert in jungen Jahren seine Ausbildung zum Klavierlehrer am Dortmunder Konservatorium und schließt dann ein Studium an der Folkwang Schule Essen an, wo er unter anderem bei György Ligeti Komposition sowie das Dirigieren bei Heinz Dressel lernt und mit Glanzleistungen abschließt. Mitte der 1960er-Jahre studiert er dann – nach einem Zwischenhalt am Salzburger Mozarteum – zusammen mit Czukay Komposition bei Stockhausen an der Musikhochschule Köln und unternimmt in diesem Zusammenhang bereits mit Erfolg seine ersten musikalischen Gehversuche. Schmidt gründet das Dortmunder Ensemble für Neue Musik, komponiert, dirigiert und arbeitet für Bühne und Rundfunk. Sein Vater will, dass der Sohn Architekt wird – und auf indirekte Art geht dieser Wunsch in Erfüllung: Bald wächst Irmin Schmidt zum Mitbegründer einer neuen Musikarchitektur heran, gebaut auf Ruinen. Die Grundsteinlegung findet 1966 statt. Während eines USA-Aufenthalts lernt Schmidt im Chelsea-Hotel die New Yorker Szene der Neuen Musik kennen, saugt auf, was Steve Reich, Terry Riley und John Cage an Impulsen freisetzen – und bringt dieses neue Bewusstsein mit nach Europa, wo er sich, wieder daheim, gleich bei Holger Czukay meldet. Der aus Danzig stammende Czukay hat mittlerweile seinen Job als Musiklehrer in der Schweiz, wo er in einem St. Gallener Internat auch den da gerade 18-jährigen Gitarristen Michael Karoli unterrichtet, wegen Aufsässigkeit verloren, arbeitet nun strafversetzt im selben Metier in Norddeutschland. Schmidt schreibt ihm und fragt ihn, ob sie gemeinsam eine Band gründen wollen. Holger Czukay, der wie Schmidt im Sinne eines konventionellen Musikdenkens ausgebildet ist, dabei aber von Anfang an immer auch nach dem Experiment sucht, ist der ideale Partner. Mit seinen epischen Klangcollagen unter dem Namen Canaxis bzw. Technical Space Composer’s Crew bringt er in der Zeit um die Can-Gründung mit Rolf Dammers bereits einige radikale Schnittarbeiten hervor, die auf dem 1969er-Album Canaxis 5 das ankündigen, was er Zeit seines konsequenten Klangkünstlerlebens verfolgen soll: Die potenzielle Integration eines jeden Geräuschs.

Es ist fast logisch, dass sich die Wege der beiden Gleichgesinnten schon im Studium bei Karlheinz Stockhausen gekreuzt haben. Dessen Kurse im Kölner Studio für Elektronische Musik des WDRs, der nach dem Kriegsende den britischen Sektor beschallt, haben sie geprägt. Schmidt und Czukay sind in diesen Kursen nicht nur Empfänger, sondern treten ohne Zweifel gleichsam als Sender eigener weitreichender, neuer Ideen auf, die auch Stockhausen in seine Praxis zu integrieren weiß. Sie befinden sich im Dialog mit ihrem Meister, nehmen ihn ernst. Auch dort, wo sie opponieren. Gemeinsam erkunden sie die schier endlose Variation und Bearbeitung des physikalischen Minimalkörpers eines Geräuschs, einer akustischen Information: Die Sinuskurve zieht in die Kompositionstechnik ein und revolutioniert als variable Minimalfrequenz, die via Oszillator und Synthesizer ein schier endloses akustisches Spektrum eröffnet, den Schaffensprozess kommender Generationen Musikschaffender. So wird die Musik virtuell, wird flächig sichtbar als Frequenz. Neuschnee, wie dann auch ein Stück von Neu! aus Düsseldorf heißt, die ähnlich historisch unberührte Landschaften betreten. Auch der Schlagzeuger Jaki Liebezeit befindet sich dicht an jenen spürbaren musikalischen Umbrüchen, erfährt seine Prägung jedoch im sich formierenden Freejazz, wo er bereits in den 1960er-Jahren in Zusammenarbeit mit dem Trompeter Manfred Schoof durch seine kompromisslose Handschrift für Aufsehen sorgt. Er hat zu diesem Zeitpunkt vor allem herausgefunden, was er alles nicht will, ist da schon geprägt von Einflüssen anderer Musikkulturen, die er auf seinen Reisen kennengelernt und studiert hat. Für Can wird er nach der Empfehlung eines Schlagzeugers gefragt – und erscheint kurzerhand selbst.

Alle sind sie als Musiker auf der Suche nach eigenen Formen, nach einer Neuerfindung, die nichts leugnet vom Gewesenen, musikalisch wie historisch, und auch weitherkommende Einflüsse von außen aufgreifen will – ohne dabei jedoch in der bloßen Nachahmung zu verharren. Eine Musik mit Anspruch. Sie steht dem Credo des bürgerlichen Zeitgeistes entgegen, der im Optimismus das Glatte und Angepasste sucht, verweigert sich aber auch der Adaption zeitgeistiger Vorbilder aus England und Amerika. Abgrenzung also von überzeichneter Lebensfreude, Sentimentalität und Zuversicht, die Caterina Valente, Rex Guildo und Peter Alexander in ihren Schlagern verbreiten – zugleich wollen sie aber auch ganz dezidiert nicht den Versuch eines deutschen Woodstock wagen.
Die Idee einer Band entsteht, in der durch die personelle Besetzung Faktoren zusammenkommen sollen, die dann im postmodernen Sinne etwas Neues zu perspektivieren vermögen. Etwas, das um Vergangenheit und Gegenwart weiß, sich aber einer noch ungeschriebenen Zukunft verpflichtet. Aus dieser Perspektive interessieren sie sich neben der Musikgeschichte der Romantik genauso für jene aus der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg und brennen auch für die angloamerikanisch geprägte und damals heiß gehandelte Rockmusik, die in ihrer bald konstanten Viererkonstellation schließlich vor allem durch den 1948 geborenen Michael Karoli vertreten wird. Der glaubt jedoch zum Zeitpunkt der Bandgründung noch als einziger, wie Czukay einmal schmunzelnd berichtet, hier solle eine neue Rockband auf den Weg gebracht werden. Nun, irgendwie sind Can ja Rockband – aber eben eine einzigartige! Sie fordern auf, genau hinzuhören. So passt das limitierende Etikett Rockmusik nicht wirklich auf Karoli, auch wenn diese Herkunft für Can überaus wirksam wird: Der 20-jährige, attraktive Bayer blickt musikalisch nach Westen, greift jedoch auch Harmonien aus osteuropäischer Musik und dem Gypsy auf.

Als sich die Band dann 1968 in der Wohnung von Irmin und Hildegard Schmidt, zunächst noch mit dem Stockhausen-Assistenten David Johnson, einem New Yorker Visionär, formiert, wird das alles in The Can, in eine Blechdose geworfen (auch wenn der Name zunächst noch bezeichnend Inner Space lautet): klassische Komposition, das Wissen schulischer Musiklehre, ein sich selbst erfindender Jazz auf der Suche nach dem möglichst Maschinellen im menschlichen Spiel, Karolis weltoffene Beataffinität. Als Gruppe stehen sie intellektuell im Einflussbereich Neuer Musik und den Potenzialen von Stockhausens künstlicher Klangerzeugung, sind aber ebenso angetan vom florierenden Fluxus und gegenwärtiger Rockmusik. So stehen die vier Musiker als Keimzelle von Can, geprägt vom Zeitgeist der 1960er-Jahre, im Zentrum einer vielversprechenden Kreuzung, deren Wegweiser in all jene Richtungen weisen, die den Groove zum Ziel haben – Cans zentrales Kriterium. Und dort bleiben sie auch, zwischen den besten Stühlen ihrer Generation, um aus den personell versammelten Möglichkeiten etwas gänzlich Neues zu erfinden. Dieses Neue, das ist der erklärte Anspruch, soll zwar die Spuren all dieser Einflüsse nicht tilgen, darf zugleich aber nur sich selbst verpflichtet sein. Anschlussfähigkeit wird nicht bedacht. Can sind bewusst antimodisch. In ihrer Konstellation bedeuten sie dabei in mehrfacher Hinsicht ein Spannungsverhältnis zwischen gestern und heute, insbesondere was das Musikalische betrifft – und aus diesem Neuen, den Schnitten nämlich, die sie an Genres und Traditionen, an Spielweisen und Hierarchien und bald auch ganz konkret an ihre Tonbänder ansetzen, wird die Zukunft hörbar…“

 

 

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