„In letzter Zeit habe ich öfter mal schreckliche Albträume, in denen jemand die alte Spex wieder zum Leben erwecken will. Mir graust davor, dass das passieren könnte.“

Erika Thomalla
„Gegenwart machen – Eine Oral History des Popjournalismus“
(Schöffling Verlag)
Mit „Gegenwart machen – Eine Oral History des Popjournalismus“ begibt sich Erika Thomalla auf eine Zeitreise zurück in die 80er und 90er Jahre – eine Ära, als die Zäune zwischen Journalismus und Literatur weicher wurden, Autor:innen „Pop-Produzenten im eigenen Recht“ sein wollten, wie es der Freund des Hauses Kaput Hans Nieswandt so treffend bilanziert. „Es ging darum, nicht über Pop zu schreiben, sondern Pop zu schreiben.“
Pop-Journalismus löste sich vom Paradigma der reinen Berichterstattung, wurde selbst zur ästhetischen Praxis. Lauter, subjektiver, modisch im Ton und subversiv im Stil.
Die Kulturwissenschaftlerin Erika Thomalla befragte für „Gegenwart machen – Eine Oral History des Popjournalismus“ Redakteur:innen, Autor:innen und Akteur:innen jener Tage und formt aus diesen Innenansichten von Medien wie SPEX, Tempo, Wiener, SZ Magazin oder Neon die Studie eines Milieus, in dem sich die Grenzen zwischen Journalismus, Literatur und Pop-Kultur auflösten.
Wir freuen uns sehr, heute auf Kaput – Magazin für Insolvenz & Pop einen exklusiven „Vorabdruck“ aus dem Kapitel „Eine Zeitschrift, die uns fehlte“ zu bringen, in dem unter anderen Kersty Grether, Sandra Grether, Sebastian Zabel, Diedrich Diederichsen, Hans Nieswandt, Christoph Gurk, Mark Terkessidis, Jutta Koether und sensationellerweise Clara Drechsler Einblicke in die SPEX Redaktion jener wichtigen Epochen geben.

Spex Editors 1984. vlnr/fltr: Rüdiger Pracht, Gerald Hündgen, Peter Bömmels, Dirk Scheuring, Clara Drechsler, Jutta Koether, Lothar Gorris, Willi Rütten, Ralf Niemczyck, Gerd Gummersbach, Wolfgang Burat. (Copyright © Wolfgang Burat / Verlag Schöffling & Co.)
(…)
Sebastian Zabel: Ich habe es in dieser Form nie wieder erlebt, dass Leute gemeinsam am Tisch sitzen, Texte diskutieren und es einander schonungslos ehrlich sagen, wenn sie etwas scheiße finden. Es gab keine Hierarchien, alle waren gleichberechtigt. Das hatte manchmal fast etwas K-Gruppen-haftes. Man musste sich rechtfertigen und die eigenen Positionen erklären. Ich mochte das sehr, auch wenn ich manchmal darunter gelitten habe. Mit diesen Menschen zusammenzuarbeiten war eine riesige Freude und ein großes Privileg.
Tom Holert: Manchmal wurde mir zugetragen, dass ein Text von jemandem aus dem Redaktions- oder Herausgeber:innenkreis kritisiert wurde. Bei einigen, wie Michael Ruff, gab es heftige Vorbehalte gegenüber einer auch an theoretischen Fragen interessierten, nicht nur auf Fragen der musikalischen Textur beschränkten Herangehensweise. Andere mochten genau das.
Andreas Dorau: Ab Anfang der 1990er-Jahre fand ich Spex schwer lesbar. Ich kaufte es natürlich immer noch, fand es aber sehr bemüht. Alle versuchten, Diedrich oberschülerhaft nachzueifern.
Diedrich Diederichsen: Verständlichkeit tauchte als Thema auf, als wir nach 1988 die Spex-Produktion auf Schreiben am Computer umstellten und unsere Texte nicht mehr zu Ende redigierten, sondern ein offenes Schreiben betrieben mit Versionen und noch mehr Versionen, wo einem immer noch etwas einfiel, bevor man den Text in den Satz gab. Es gab nicht mehr das, was es früher einmal gab, dass jeweils der eine Redakteur den Text des anderen las – oder das gab es zwar, aber man machte immer weiter, und es gab unglaublich lange Sätze. Das Jahr 1989 ist eins, wo ich sagen würde, dass es da viele Texte mit unverständlichen Momenten gibt.
Mark Terkessidis: In den 1990er-Jahren stand Spex kurz vor dem Schisma. Das betraf zwei Themen, die sich beide an mir aufhingen: einerseits die Frage, wie intellektuell Spex sein soll und darf. Das hatte eigentlich eine gute Tradition, schon Richard Meltzer arbeitete in dem Buch The Aesthetics of Rock mit Friedrich Nietzsche, Martin Buber und Susan Sontag. Die interessanteste intellektuelle Strömung zu unserer Zeit waren die Cultural Studies, aber auch die französische Theorie spielte weiterhin eine wichtige Rolle. Die Cultural Studies waren auch deshalb attraktiv, weil sie von den Gegenständen und der Begeisterung für popkulturelle Phänomene ausgingen.
Tom Holert: Marks Eintritt in die Redaktion war ein Signal. Seine Texte markierten eine neue Richtung. Das führte mittelfristig zu nicht unerheblichen Spannungen, aber trug entscheidend dazu bei, dass die Zeitschrift anders gedacht und politische und kulturtheoretische Themen noch stärker gewichtet wurden.
Christoph Gurk: Die Cultural Studies waren während der 1990er-Jahre wichtig für Spex. Das hatte natürlich viel mit dem Einfluss von Diedrich zu tun, der seine berufliche Zukunft zunehmend in einem akademischen Milieu und auch im Kunstmilieu suchte und fand. Kunstgeschichte und Kunstkritik, auch wie sie von der damals ebenfalls in Köln ansässigen und kollegial mit der Spex verbundenen Zeitschrift Texte zur Kunst betrieben wurden, waren damals schon viel weiter, was die theoretische und begriffliche Erschließung ihres Gegenstands betrifft. Fast gleichzeitig entstand eine junge Generation von Leuten, für die es ganz selbstverständlich wurde, zwischen Theorie und gegenkulturellen Zusammenhängen auch innerhalb der Popkultur zu navigieren. Mark war da ein Vorreiter und später auch Kerstin.
Mark Terkessidis: Die zweite Frage, die kontrovers diskutiert wurde, war die Politik. Nach Hoyerswerda und ähnlichen Anschlägen entstand der Eindruck, dass wir die Zeitschrift politisch neu ausrichten müssen.

Büro Nieswandt (Copyright © Hans Nieswandt /Verlag Schöffling & Co.)
Hans Nieswandt: In der Sounds– und Spex-Welt der frühen 1980er hat sich keiner Gedanken gemacht, dass jemand anders diese Zeitschriften lesen könnte als ein paar weiße Männer und vielleicht noch ein paar weiße Frauen. Das N-Wort fiel notorisch, auch über Schwule wurde teilweise sehr abfällig geschrieben. Mir war es deshalb sehr wichtig, dass ich in Spex Musik reinbringe, die emanzipatorischen Charakter hat. Das war Hip-Hop genauso wie House.
Lothar Gorris: Es gab viele Konflikte in der damaligen Redaktion: darüber, für wen wir schreiben, wie politisch und akademisch wir sind, ob wir Underground bleiben oder nicht. Es zeigte sich auch in musikalischen Fragen. Am Ende jedes Jahres veröffentlichten wir eine Liste der besten Platten. 1988 ging es darum, ob Henry Rollins oder Public Enemys »It Takes a Nation of Millions to Hold Us Back« zur Platte des Jahres wird. Alle hatten schon ihr Votum abgegeben, es war sehr knapp. Fehlte nur noch Dirk Scheuring, der ein wahnsinnig guter Schreiber war, aber immer ein bisschen schwer greifbar. Irgendwann tauchte er auf und entschied sich für Public Enemy. Ich weiß noch, dass ich zu Diedrich ins Büro ging und ihm sagte: »Dirk hat entschieden, die beste Platte des Jahres ist Public Enemy.« Da ist Diedrich total ausgeflippt: »Das kann nicht sein! Wir sind Spex!« Ziemlich interessante Reaktion. Zumal aus heutiger Perspektive das PE-Album immer noch eins der ganz wichtigen Alben der Schwarzen Musik ist. Selbst the GOAT konnte mal irren. Hip-Hop hat er erst später entdeckt.
Hans Nieswandt: Irgendwann fing ich an, Clubnächte im Rose Club zu organisieren. Das hatte auch damit zu tun, dass das Gehalt, das man bei Spex bekam, sehr gering war. Was ich an House und der DJ-Kultur sehr gerne mochte, war die Durchmischung der Milieus. Davor gab es immer sehr klar abgegrenzte Milieus, die dieselbe Musik hörten. Auf Techno und House fuhren all diese Künstler ab, aber auch Kids, schwule Friseurlehrlinge und so weiter. Diese instrumentale Musik führte dazu, dass sich alles noch einmal stärker durchmischte.
Christoph Gurk: Die rechtsradikalen Anschläge in Rostock-Lichtenhagen und Hoyerswerda waren einschneidende Ereignisse. Als ich noch in Hamburg war, gründeten wir den Wohlfahrtsausschuss. Roberto Ohrt, Daniel Richter, Jan Distelmeyer oder Ted Gaier waren da treibende Kräfte, leider kaum Frauen. Ungefähr zur gleichen Zeit bildeten sich auch in Köln und in Frankfurt solche Zusammenhänge. In mehreren Städten gab es Kongresse und politische Aktionen gegen das »gegenrevolutionäre Übel«, wie es im Untertitel zu einer Veranstaltung damals hieß. Im Sommer 1993 fuhren wir – ein Bündnis aus Musiker:innen, Journalist:innen und gewaltbereiter Antifa – mit mehreren Bussen in den Osten und organisierten dort gemeinsam mit lokalen Leuten und selbstverwalteten Kultureinrichtungen eine Reihe von Konzerten und Diskussionen. Über diese Zusammenhänge hatte ich schon vorher, 1992, Diedrich und Mark kennengelernt. Ungefähr zur gleichen Zeit hörte Hans Nieswandt als Chefredakteur bei der Spex auf. Die beiden fragten mich, ob ich nicht meinen Hut in den Ring werfen möchte.

Büro Diedrich Diederichsen, 2/1988 (Copyright © Wolfgang Burat / Verlag Schöffling & Co.)
Diedrich Diederichsen: Der Wohlfahrtsausschuss hatte sehr große Auswirkungen auf Spex. Diejenigen, die daran beteiligt waren – ungefähr die Hälfte der Redakteur:innen und freien Mitarbeitenden –, nahmen das mit in ihre Spex-Arbeit. Die anderen waren davon ausgeschlossen. Die Antirassismusdiskussionen, die dann im Heft stattfanden, trugen wiederum zur Akademisierung beziehungsweise zur Cultural-Studies-Phase bei, denn in welcher Sprache hätte man denn über diese Dinge sprechen sollen? Viele unserer Beiträger:innen waren ohnehin an Unis oder in diesen Diskussionen drin. Gleichzeitig war klar, dass immer wieder eine Figur wie GG Allin oder irgendetwas anderes Punkiges, Schmutziges dort stattfinden muss. Diejenigen, die beim Wohlfahrtsausschuss und anderen Aktivitäten mitmachten, waren nicht der Meinung, dass das nicht mehr sein darf. Aber sie brachten etwas Neues in die Zeitschrift, und das übte Druck auf die anderen aus.
Mark Terkessidis: Bei den Wohlfahrtsausschüssen kamen alle zusammen. Ralf Niemczyk, Hans Nieswandt und Sebastian Zabel waren aber sehr gegen eine politische Ausrichtung des Hefts. Sie hatten eine andere Idee davon. Heute kann ich mit allen sehr gut darüber reden, aber damals war das nicht der Fall. Irgendwann machten sie bei einer Gesellschaftersitzung sogar das Angebot, mich rauszuwerfen und den Laden zu übernehmen. Daraufhin sagte Diedrich: »Wenn ihr das macht, schenke ich meine Anteile dem Penner, der hier immer vor der Tür steht.« Es wurde mit harten Bandagen gekämpft.
Sebastian Zabel: Dass Spex politisch war und sich politisch positionierte, entsprach auch meinem Selbstverständnis. Ich hatte Ende der 1980er-Jahre sogar eine Politikkolumne, die »motör/head« hieß und in der ich Dinge aufgriff, die in anderen Medien vorkamen, und sie kommentierte. Ich fand schade, dass Anfang der 1990er-Jahre nach meinem Empfinden die Leichtigkeit verloren ging. Manche Artikel kamen mit einer Getragenheit und einem akademischen Duktus daher, die für mich wenig zu tun hatten mit dem, was den popkulturellen Diskurs vorher bei Spex ausgemacht hatte. Es waren eher Differenzen mit Blick auf die ästhetische Form.
Peter Bömmels: Die Ereignisse von Rostock-Lichtenhagen und Hoyerswerda bewirkten einen unglaublichen Einbruch von Wirklichkeit. Danach war es schwer möglich, zu sagen: »Pop ist immer toll.« Aus dieser Situation entstand Diederichsens wichtiger Text: »The Kids Are Not Alright«. Aber some kids are still alright. Ich fand es wichtig, auch das zu sehen.
Hans Nieswandt: Als ich mit Justus Köhncke und Eric D. Clark Whirlpool Productions gründete und die erste Platte herauskam, war klar, dass es mit Spex nicht mehr ging. Ich empfahl Christoph Gurk als meinen Nachfolger. Tom Holert und Wolfgang Tillmans stiegen etwas später als Gesellschafter ein.
Jutta Koether: In den 1990er-Jahren kam eine neue Generation, die erstmals eine Politisierung erlebte. Spex war immer politisch, aber in der ersten Generation vielleicht etwas indirekter. Wir waren politisch durch das, was wir taten. Gerald Hündgen, der sich für Northern Soul interessierte, kannte sich zum Beispiel sehr gut mit der Geschichte der Schwarzen Musik in England aus. Dieses Wissen zu vermitteln war mit einer politischen Haltung verbunden. In den 1990er-Jahren gab es die erste Welle der Identitätspolitik. Da waren andere Protagonisten wirksam.
Christoph Gurk: Nach der Wende gab es einen Konsens, dass in dem Moment, wo sich das Land zum Schlechteren verändert, auch Spex darauf reagieren muss. In dieser Zeit wurde gesellschaftlich der Grundstein für alles gelegt, was heute passiert, vom allgegenwärtigen Rassismus über die heraufziehende Hegemonie der Technologiekonzerne bis hin zu den Wahlerfolgen der AfD. Vom Bemühen, im Bereich der Popkultur ein publizistisches Gegengewicht zu sein, war Spex in der Zeit geprägt, als ich die Leitung übernahm. Da war sich auch die Redaktion einig, Mark sowieso, genauso wie Ralph Christoph, der von der politisch engagierten und im Selbstverlag erscheinenden Stadtrevue ins Team gestoßen war. Christian Storms hielt sich aus den bald folgenden Grabenkämpfen eher heraus. Er kam mehr aus dem Umfeld der Titanic und stieg später zu einer wichtigen Figur im Thinktank von Harald Schmidt auf.
Mark Terkessidis: Hoyerswerda war ein einschneidendes Ereignis. Ich habe diese Zeit sehr anders wahrgenommen als der Rest der Redaktion. Das war der Moment, in dem mir deutlich klar wurde, dass ich sozusagen anders bin als die anderen kleinen Kinder. Die Erlebnisse davor arbeitete ich rückwirkend auf. In der Redaktion führte das zu Konflikten, weil damals die Idee existierte, dass der »Ausländer« eher jemand ist, der ungebildet und im Arbeitermilieu verortet ist. Als ich einwandte, dass es für alle mit Migrationshintergrund gerade ungemütlich wird in Deutschland, wurde mir abgesprochen, dass ich etwas damit zu tun habe. Es gab aber zu dieser Zeit jeden Tag Angriffe. Niemand, der eine Migrationsgeschichte hatte, nahm das unbeschadet wahr. Ich war in der Redaktion der Einzige und hatte es schwer, meine Position deutlich zu machen. Als das Thema Rassismus näher kam und nicht mehr nur abstrakt behandelt wurde, gab es große Widerstände und Diskussionen.
Sebastian Zabel: Mark hat viel früher als der Rest der Redaktion verstanden, was Alltagsrassismus bedeutet und dass das nicht erst in Hoyerswerda anfängt. Das war ein Lernprozess, den wir alle gemeinsam durchlaufen haben. Wir haben wahnsinnig viel gestritten.
(…)
Clara Drechsler: In letzter Zeit habe ich öfter mal schreckliche Albträume, in denen jemand die alte Spex wieder zum Leben erwecken will. Mir graust davor, dass das passieren könnte.








