“Kultureller Austausch ist essenziell wichtig, um eine Welt zu behaupten, in der man überhaupt noch leben will
Es gibt nicht viele Festivals in Deutschland oder gar Europa, deren Namen in so unterschiedlichen Ländern wie Australien, Japan, den USA oder Finnland als positiv besetzter Schlüsselreiz für experimentelle Musik zwischen Jazz, Noise, elektronischer Musik und Post-Krautrock fungiert wie moers. 1974 gegründet findet es 2024 bereits zum 53. Mal statt.
Thomas Venker hat im Vorfeld des Festivals der Geschäftsführerin Jeanne-Marie Varain und dem Künstlerischen Leiter Tim Isfort ein paar Fragen zum diesjährigen Gastland Japan gestellt.
Was verbindet ihr beide mit Japan generell – und mit der Musikszene des Landes?
Jeanne-Marie Varain: Mit der Musikszene des Landes verbinde ich viele Menschen und Künstler:innen, die ich sehr schätze. Beispielsweise Damo Suzuki, Yumi Hara, Nisennenmondai, Sawada, Miwatzu … Allen vorweg sicherlich Keiji Haino, in ihn habe ich mich 1994 im Death Valley in den USA ihn verliebt, eine Liebe, die für immer bestehen bleiben wird!
Mit Japan generell verbinde ich leider weniger Positives. Das, was in der Musik zu fantastischen Dingen führt, empfinde ich in der Gesellschaft als kompliziert und nicht sonderlich glorreich – irgendwas zwischen Disziplin, Fanatismus, Nationalstolz, Verschlossenheit und Leistung.
Ich habe mich im Rahmen meines Studiums im Bereich Urbanismus-Theorie und -Forschung mit Japan auseinandergesetzt und kriege da heute noch Gänsehaut. Im Laufe meiner Recherchereise habe ich nun aber auch viele Dinge entdeckt, die so unfassbar eigen sind, dass ich diese jetzt ständig vermisse und irgendwie auch doch wieder hin möchte.
Tim Isfort: Tolle, alte Filme – als Kindheitserinnerungen. Fremdes geheimnisvolles Land, diffuse geschichtliche Verwirrungen. Hiroshima. Nagasaki. Der erste Manga „Barfuss durch Hiroshima“ – unendliches Leid.
In den 80ern: Achtung, die Japaner überholen die deutsche Wirtschaft… Das sind alles die Schlaglichter, die ich während meines Heranwachsens mit Japan assoziert habe.
Und dann plötzlich: japanische Gruppen in Moers, fremde Klänge, verrückte und schräge Vögel. Ganz anders, als ich es bis dahin erwartet hätte.
Wie kommen solche Entscheidungen für einen Länderschwerpunkt zu stände?
Jeanne-Marie Varain: Im Fall von Japan ist es eine lange Verbundenheit von Moers nach Japan und umgekehrt. So war zum Beispiel Teruto Soejima schon in den frühen 70ern in Moers zu Gastund hat wirklich großartige Filme gedreht. Wir hatten das große Glück, dass wir im Rahmen unseres 50. Jubiläum die Filme ausfindig gemacht haben und seitdem für die Besucher*innen in unserer moersland VR bereit halten – es lohnt sich!
Es gab schon einige Anläufe Japan in den Fokus zu nehmen, aber jetzt “nach Corona” sind wir es ernsthaft angegangen.
Bei anderen Länderschwerpunkten verhält es sich anders. So nehmen wir jedes Jahr ein Land des afrikanischen Kontinents in den Fokus. Aus voller Überzeugung, dass das absolut notwendig ist!
Als durch Mittel des Bundes, Landes-, der Kommune und aus weiteren Fördertöpfen gefördertes Festival sehen wir es als unsere Aufgabe nicht aufzugeben. Warum spreche ich von Aufgeben: Viele Kulturproduzent*innen haben nicht (mehr) die Kapazitäten sich mit den deutschen Botschaften, Visa-Diskriminierungen, Vorurteilen und anderen strukturellen Schrecklichkeiten auseinanderzusetzen. Kultur und kultureller Austausch sind aber essenziell wichtig, um eine Welt zu behaupten und schlussendlich auch zu kreieren, in der man überhaupt noch leben will.
Tim Isfort: Beim Moers Festival gab es – seit ich denken kann – immer spezielle Schlaglichter auf Länder, Metropolen und spezifische Szenen. Nicht dogmatisch und in jedem Jahr, aber es gab immer wieder interessante Schwerpunkte, bei denen eine Musikszene, ein Trend, eine zentrale Person näher unter die Hörlupe genommen wurde. Mal geplant, mal zufällig.
Ich selbst besuche zum Beispiel nur wenig die gängigen und bekannten Festivals der Szene (falls es so etwas heute überhaupt noch glaubhaft gibt) sondern reise lieber ganz bewusst in Regionen, wo noch nicht alles „musikalisch vermessen“ ist. Eher durch Zufall bin ich 2010 zum ersten Mal in Myanmar gewesen, dann im Kongo, in Belarus, Äthiopien, Nordkorea, Indien oder zuletzt in Namibia. Als Musiker höre ich vielleicht die Musik der Länder anders, als als „Promoter“ oder Festivalmacher. Vielleicht kann ich auf diese Weise die Energie der Musik anders aufspüren, als wenn ich sie nachher im „Westen“ vermarkten wollen würde.
Was gab den Ausschlag für Japan?
Tim Isfort: Seit 1974 sind und waren japanische Gruppen und Künstler:innen in Moers zu Gast. Wenn man so will, war das „who is who“ der Freejazzszene, der Avantgarde und der experimentellen Künstler:innen schon am linken Niederrhein. Das ging fast konstant bis Anfang der 2000er. Dann eher einzelne Band und Spotlights. Zuletzt hatten wir 2019 einen kleineren Japan-Schwerpunkt, den wir fortsetzen wollten – doch 2020 kam die Pandemie und seither sind – wie wir alle wissen – die Karten neu gemischt. Für 2024 war es uns also ein erklärtes Anliegen, den Faden wieder aufzunehmen in Richtung Japan.
Wie seid ihr vorgegangen? Ich weiß ja, dass ihr mehrfach nach Japan gereist seid zur Recherche. Inwieweit gab es vorher eine Longlist – und haben sich diese Musiker:innen dann auch am Ende durchgesetzt? Oder hat die Reise nochmals alles in eine neue Perspektive gerückt? Ich bin an Eurem kuratorischen Auswahlprozess interessiert?
Jeanne-Marie Varain: Tim hatte in der Vorbereitung auf den Länderschwerpunkt einen regen Austausch mit Kazue Yokoi (Musikjournalistin aus Tokyo), gemeinsam kamen sie auf die Idee, dass zwei Festivals in Japan besucht werden sollten. Als klar wurde, dass ich zu dem Festival nach Atami fliegen würde, startete ich meine eigene und vertieftende Recherche.
Eine Wishlist/Longlist von Musiker*innen habe ich wahrscheinlich für fast jedes Land im Kopf, aber das ist mein Ding und nicht unbedingt „Moers“. Aus Moerser Sicht gab es zum einen Künstler*innen, die schon in Moers aufgetreten sind – da ging es darum, herauszufinden, an was für Projekten sie aktuell dran sind oder wen sie uns empfehlen möchten. Zum anderen gab es Bewerbungen, Spuren und Musiker*innen aus dem Moers-Kosmos, die uns kontaktierten. Definitiv auf der Longlist standen schon lange goat (jp). Die probiert das moers festival schon seit 2018 auf die Bühne zu holen und jetzt hat es endlich geklappt!
Der kuratorischen Auswahlprozess liegt bei Tim. Ich war als Scout unterwegs, habe Fährten aufgespürt und verfolgt. Ab dem Moment, wo ich weiß, dass ich eine Aufgabe habe (wie in diesem Fall Recherche) kriege ich einen Hyperfokus, vertiefe mich und lasse nicht mehr los – von einem Social-Media-Post oder Artikel zu privaten Kontakten, weiter zu einzelne Musiker*innen und ihrem Umfeld, Clubs, Venues, Labels, jeder Hinweis und jeder Schnipsel werden genauestens untersucht und abgeklappert.
Tim Isfort: Wir Niederrheiner glauben, dass sowieso alles miteinander synaptisch verbunden ist. Natürlich macht man Pläne, hört sich Platten und Gruppen an, schaut, wer gerade aktiv ist. Ich muss gestehen, dass jetzt bei dem fertigen Schwerpunkt höchstens ein Drittel der Gruppen und Projekte dem entspricht, was zu Beginn noch geplant war. Die Reisen nach Atami und Tokio haben jede Menge Neues gebracht – aber auch danach kamen noch ganz andere Fährten auf, die nun durch Moers führen und wer weiß, wohin?
Aber natürlich: an Goat, Koshiro Hino und seinen innovativen Projekten sind wir seit 2018 dran, toll, dass es jetzt klappt!
Was hat Euch an Japan am meisten beeindruckt?
Jeanne-Marie Varain: Die Noise-Szene! Ich hatte einen guten Abend im Oriental Force in Tokio. Wild, ehrlich und radikal.
Außerhalb der Musik: Die Kaffeehäuser – totale Entschleunigung und Nostalgie bei schwarzem Kaffee, Eiersandwich und Zigarette.
Und (natürlich) die Listening Bars, ich verstehe nicht, warum sich das nicht global durchsetzt und auch nicht, warum es in Japan „vom aussterben bedroht ist“. Schlicht und einfach, das beste Konzept: gute Anlage, gute Musik, gute Drinks.
Tim Isfort: Die Zurückhaltung der Leute im öffentlichen Raum. Das wirklich gute Essen.
Ich war selbst nur in Tokio und das leider auch viel zu kurz. Nächstes Mal kann ich vielleicht besser darauf antworten.
Wie würdet ihr den Status Quo der japanischen Musikszene im Vergleich zur deutschen Musikszene beschreiben?
Jeanne-Marie Varain: Das kann ich gar nicht. Ich bin jedoch mit gewissen Eindrücken aus Japan zurück gekommen, die möglicherweise aber haltlos sind. Es scheint mir so, als gäbe es mehr Raum für Sub- (und Sub-Sub-Sub-)Kulturen in Japan.Es gibt viel mehr Nischenmusik, Spezialisierungen in alle denkbaren Soundrichtungen. Immer verbunden mit physischen Orten des Zusammenkommens und Austausches.
In meinem Kopf schwirren gemeine Vorurteile und mögliche Unterstellungen rum – „japanische Produktionen/Bands brillieren mit absoluter Exzellenz und perfekter Ausführung und in Deutschland fehlt es an Mut, alles ist irgendwie gähn!“
Aber sind Musikszenen nicht eh schon längst globalisiert? Die Frage scheint mir veraltet – deswegen finde ich sicherlich nicht die richtigen Worte
Tim Isfort: Hm, die Musikszene eines Landes? Ich glaube eher, es gibt in den unterschiedlichen Genres sehr großes Parallelen und Unterschiede. Und supernette Kolleg:innen oder Arschgeigen gibt es auch in jeder Szene. Was die Szene für frei improvisierte Musik im Ballungsraum Tokio angeht, war ich leicht enttäuscht, wie wenig Zuschauer den Weg zu den Veranstaltungen finden. Aber auch das scheint global wiederum mit der Pandemie zusammenzuhängen.
Nun zeichnet das Moers Festival ja aus, dass es nicht in einer der klassischen großen Festivalstädte stattfindet.
Zunächst würde mich interessieren, wie ihr das generell empfindet, was sind die Vor- und eventuell auch Nachteile davon?
Jeanne-Marie Varain: Vorteile sehe ich keine. Natürlich gehört das moers festival nach Moers und kann auch nirgendwo anders stattfinden!
Bestimmte Eigenarten und das „moersige“ sind nur möglich, da es eben nicht in einer der großen Festivalstädte stattfindet. Alle Besucher*innen, die einmal zu uns finden, sind dann auch begeistert und kommen wieder. Für eine Produktion in dieser Größenordnung ist es aber nicht ganz einfach – Personal, Infrastruktur, Gäst*innen, alles nicht vorhanden.
Dafür ist aber eine ganze Region die Generationen hinweg mit dem Festival verbunden. Der Charm des Festivals steckt sicherlich in der Mischung aus Professionalität und liebevollem Dilettantismus / DIY.
Tim Isfort: Jeanne-Marie, ich sehe nur Vorteile! Kein blödes Getue und Gelaber, weil man irgendwie mit Gott und den wichtigen Promotern und Journalist:innen der Welt irgendwas vorspielen muss.
Ok, im Ernst: Jeanne-Marie hat die Nachteile und Probleme klar benannt, aber Moers ist eben genau dadaurch eine Singularität in der Festivallandschaft. Das besondere Lebensgefühl „moers“ ist über Jahrzehnte herangewachsen, durch die Pubertät gegangen und ist heute vielleicht reflektierter denn je – was übrigens durchaus anstrengend sein kann!
Was bedeutet das für die Herangehensweise an die Auswahl von Künstler:innen für ein Gastland?
Ist es Euch besonders wichtig dabei nicht nur die Metropolen abzubilden? Also im Fall von Japan eben Musiker:innen aus Osaka udn Tokyo einzuladen, sondern auch explizit in der Periphere oder abgelgenenen Gegenden zu suchen?
Jeanne-Marie Varain: Darüber habe ich noch nie nachgedacht! Man erschafft ja so etwas wie ein Parallel-Universum, in das im Idealfall alle eintauchen und nach vier Tagen verwundert den Kopf wieder rausziehen. Wuuush!
Tim Isfort: Ich persönlich stehe mit dem direkten Kontakt nach Japan am Anfang; bis dato hat er sich auf sechs Tage Tokio beschränkt. Beim nächsten Mal möchte ich mehr Zeit damit verbringen, auch in spezifische Szenen im Land zu lünkern. Aber jetzt schauen wir erst mal, wie unser aktueller Schwerpunkt Japan sich so einlöst.
moers 2024 Japan-Tipps
Jeanne-Marie Varain:
DJ Scotch Egg
Pures Entzücken darüber, dass er kommt.
Auf sein @thesametime mit Blipvert freue ich mich extrem – @thesametime ist ein aus der Pandemie heraus entwickeltes Format, bei dem Musiker*innen über In-Ear-Monitoring miteinander spielen, jeweils aufgeteilt auf unsere beiden Hauptbühne, also räumlich getrennt (erst in unserer VR kommt der Sound und das Bild für Betrachter*innen zusammen) –; das spielt er als ScotchRolex.
Samstagnacht im Bollwerk werden Gwyn Wurst und er uns allen eine prächtige Afterhour bescheren.
Miyama McQueen-Tokita
Koto-Dynastie Reloaded, Impro/Fusion und ein feiner Geist. Für mich von der ersten Begegnung an sofortiger Bestandteil des Moers-Kosmos. Sie wird zwei Projekte vorstellen, eins davon Unknown Mirror. Zudem ein interdisziplinäres Projekt mit einer Tänzerin und einer Videokünstlerin; zudem ist sie an diversen anderen Projekten beteiligt – sie lässt sich alle vier Tage auf die Reise ein.
Masayo Koketsu
Tim und ich haben sie auf den beiden Festivals in Japan gesehen, die wir besucht haben. Sie schafft es, aus einer ganzen Schar von Musiker*innen herauszustechen, im positivsten Sinne! Besonders gespannt bin ich auf ihre Beteiligung bei dem Projekt Brözzfrau beim diesjährigen moers festival.
Tim Isfort: Sorry, das sprengt bei mir gerade den Rahmen, zeitlich und konzeptionell. Ich könnte ein halbes Buch darüber schreiben, warum nun wer für Moers interessant ist oder sein könnte, und wen wir alles zu Sonderprojekten „überredet“ haben, wer total nett, offen, kooperativ war und bei wem wir Riesenrespekt hatten. Ich bin ja selbst total gespannt darauf, wie nun die vielen Konzerte mit japanischen Gruppen und unter japanischer Beteiligung dieses Jahr das moers festival prägen, Menschen verzaubern, verwundern oder begeistern.