Buchbesprechung

Befreite Musik – befreiter Mensch: Der Kühnfaktor, Joachim Kühn zum 80.

Schon auf dem Titelbild der unlängst anlässlich seines 80. Geburtstages erschienenen Autobiographie wird eine gewisse Vorliebe des Jazz-Musiker Joachim Kühn für Sonnenbrillen deutlich, die ersten Seiten zeigen dann, dass Bescheidenheit nicht unbedingt seine Stärke ist. Aber wäre die denn im Falle dieses Ausnahme-Pianisten überhaupt angebracht?

Aufgezeichnet, redigiert und um äußerst detaillierte Anmerkungen ergänzt wurden die „Streifzüge durch das Leben von Joachim Kühn“ durch den Musikautor und Impresario Michael Brüning. Hinzu kommen gelegentliche ergänzende „Zwischenrufe“ Kühns, zahlreiche gut zusammengestellte Fotos und nahezu hundert Seiten mit Grußadressen zum Geburtstag von Kühn, die zugleich einen nicht unbedeutenden Ausschnitt aus dem „Who is Who“ des Jazz darstellen. Obwohl man in diesem Genre allzu gerne eine Grenze zum Bereich des „Populären“ zieht, hat es offensichtlich dann doch seine eigenen Starinszenierungen; dass der Star Joachim Kühn, trotz durchaus Rock affiner Sonnenbrillen und einst wallender Haarpracht, außerhalb der Szene wenig bekannt ist, ist fraglos dem bevorzugten Feld seines virtuosen Spiels auf und mit den Tasten geschuldet, dem befreiten Jazz.

Joachim Kühn hat um seine hoch verdienten musikalischen Meriten herum und auch darüber hinaus viel zu erzählen. Da ist zunächst die heimliche Geburt als Sohn einer jüdischen Mutter in der Endphase des glücklicherweise dann doch nicht 1000-jährigen Nazireiches, die frühe musikalische Förderung durch die Eltern, das Vorbild seines 14 Jahre älteren und im Jahre 2022 verstorbenen Bruders Rolf, der zu einem international renommierten Jazz-Klarinettisten wurde. Auch Joachim zog es schon im Zuge seiner klassischen Ausbildung zur improvisierten Musik. Es waren Platten, oftmals von Rolf Kühn per Post gesendete, die in der kulturell und politisch gen Westen zunehmend abgeschotteten DDR von einer anderen Welt zeugten und zu denen der heranwachsende Joachim begeistert und fleißig jammte.

Zu diesen Scheiben zählten die ersten Alben von Ornette Coleman, dem wohl wirkungsmächtigsten Befreier des Jazz. Joachim Kühn fand zunächst in Leipzig, dann auch in der Tschechoslowakei und Polen Gleichgesinnte, das DDR-Label Amiga veröffentlichte 1965 das Album Solarius, eine ostdeutsch- osteuropäische Kooperation mit dem seinerzeit bereits in den USA ansässigen Rolf Kühn (und unter dessen Namen veröffentlicht), das heute zurecht als wichtiger Meilenstein des europäischen Jazz gilt. Aber trotz derartiger Freiräume und kurzzeitiger Phasen des Tauwetters blieben sowohl die Realitäten von Mauer und Eisernem Vorhang als auch des ideologisch-piefigen Ost-Kulturbetriebs bestehen. Der musikalischen Befreiung des Joachim Kühn mithilfe von Ornette Coleman und anderen Vorbildern, folgte sein „Türmen“ in den Westen.

Auch über das, was dann geschah, die weitere musikalische wie geographische Wanderschaft des Joachim Kühn, unter anderem zwei Phasen der Kooperation mit Coleman und ein kurzzeitiger Ausflug mit Synthesizern in Richtung Kalifornien und Fusion/ Rock, wird in Der Kühnfaktor berichtet. Die Autobiographie überzeugt dabei durch ihre Aura der Authentizität: Da erzählt jemand, der wahrlich etwas zu erzählen hat! Ko-Autor Michael Brüning hat ebenso beharrlich wie fachkundig weiter recherchiert, manches bestätigen können, anderes in Frage gestellt, eine Vielzahl weiterführender Informationen gegeben. Aber, und das ist gut so, im autobiographischen Hauptteil bleibt er empathisch zurückgenommener Chronist der Vita des Zeitzeugen Kühn.

Der gebürtige Leipziger ist aber auch jemand, der sich nicht anpasste, nicht in sein vermeintliches Schicksal fügte, sondern immer wieder sein Leben in die eigene Hand nahm, den Mut zu Aufbruch oder gar Ausbruch hatte. Dies dann wohl, trotz aller gegebenen Unterstützung und einiger Glücksfälle im Laufe seiner langen und äußerst erfolgreichen Karriere, der individualistische „Kühnfaktor“; in den 1960er-und 70er Jahren vielfach gehegte und deutlich weitergehende Hoffnungen, dass der Befreiung der Musik die generelle der Menschen folgen würde, bleiben bekanntlich aus. Wer den Spuren des Pianisten und Gelegenheits-Saxophonisten Joachim Kühn von seiner Heimatstadt über Prag, Warschau, Berlin und Paris bis New York und L.A. und dann wieder zurück gen Europa ein Stück weit nachgehen möchte, eventuell mittels der Anmerkungen und Links von Brüning auch der zeitweise korrelierenden und ebenfalls spannenden Geschichte der Befreiung des Jazz in Ost und West, dem sei Der Kühnfaktor empfohlen.

Der Kühnfaktor. Frei und unabhängig: No Limits im Jazz von Joachim Kühn und Michael Brüning ist im Verlag Alfred Music erschienen (320 Seiten, Softcover, Preis € 24,95, ISBN 978-3-947998-59-3).

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