Record of the Week

múm „History of Silence”

múm
„History of Silence”
(Morr Music/Indigo)

Meeresassoziationen begleiten und intensivieren bereits den ersten quallenartig umherschwebenden Songtrack oder Tracksong „Miss You Dance“. Das Driften wird dann durch ein Pianothema eingefangen. Einst stießen múm in den Zwischenraum zwischen ihren isländischen Brachialüberwältigungsnachbarn Sigur Rós, den gerneübergreifenden Indietümlern The Notwist, den nur scheinbar niedlichen Lali Puna, Indie Pop, Postrocky und intelligenten elektronischen Musiken à la Boards of Canada, Supercollider oder Frickelbumms von Jean-Michel beziehungsweise dunkel-melancholischen Filmscore-Ambient des Bersarin Quartett. Weswegen der damals sehr geschätzte Mitjournalist Jan-Ole Jöhnk der lange schon verwehten avancierten Musikzeitschrift „De:Bug“ um die Jahrtausendwende herum den Begriff ‚Indietronics‘ dafür erfand.

Das war vor Jahrzehnten. So wie reflektierter (Musik-)Journalismus heute wichtiger denn je ist, wenngleich sich die Funktion und Mechanik stark verändert hat, so ist das Kollektiv múm nie wirklich abgetaucht. Aufgetaucht waren sie in Reykjavik genau zu der Zeit, eventuell meinte Jan-Ole sogar sie genau, das weiß ich gerade nicht mehr. Das letzte, sechste Studioalbum „Smilewound“ erschien 2013, mittlerweile ohne die Schwestern Valtýsdóttir und um den Kern von Örvar Þóreyjarson Smárason und Gunnar Örn Tynes herum, seither um diverse neue Musiker*innen und Gäste ergänzt.

Nun also die Geschichte der Stille. Deren Klang die – wenig verwunderlich – auch Filmmusik veröffentlichende Band hörbar macht, sanft und gewaltig, wie der Ozean. Zwei Jahre lang wurden die Stücke überarbeitet, auseinandergenommen, wieder zusammengesetzt. Ähnlich wie die Bandmitglieder jahrelang quer über den Globus gereist und gezogen sind. Aufgenommen im Wesentlichen gemeinsam in einem Studio in Süditalien, wurde auch in Reykjavik, Berlin, Athen, Helsinki, New York und Prag an den acht Songs gewerkelt. „Avignon“ zeigt, dass sich múm freilich weg aus minimalistischeren Musikgefilden hin zu durchaus orchestralen und opulenten Arrangements und Produktionen bewegt haben. Loops, Brüche, Minikrach, Folkschnippsel und kleine Obskuritäten bleiben bestehen, fast als anti-K.I. sozusagen, wenn auch Musik-K.I. längst Glitches und Fehler miteingefüttert bekommen hat. Mal sehen, was daraus so wird.

Sympathische Spookyness wie auf „Only Songbirds Have a Sweet Tooth“ lässt múm irgendwie geisterhaft und positiv unreal wirken. Dann rumpelt, pluckert und zuckt es sich zurecht. Zu Recht. Das Überthema ihres neuen Albums scheint sowieso das Einspielen zwischen Intimität, Nähe, Luft, Ruhe, Stille und somit Raum zu sein. Durch diesen bewegen sich wundervoll verwinkelt und doch ganz leicht amöbenhaft beinahe fließende Dinger wie „A Dry Heart Needs No Winding“ (nomen est omen!) und nehmen uns mit. Der Klang und Rhythmus der Stille. Fast kann ich sie sogar riechen und schmecken, wie das Salz der See oder die stinkenden Kormorane, um nicht nur harmonisch sein zu wollen. „I Like to Shake“ vorläufig schließlich könnte auch ein Home Recording aus frühen Tagen von Smog oder verschütteten eigenen Recordings sein. Und lässt einen daher angenehm und in Zeitlupe schütteln. Das heißt dann wohl Gänsehaut über den Rücken zu bekommen vor Liebe inmitten wilder Stürme und Wirbel. Oder mit „Kill The Light“ an den Klippen von Ponta do Sol auf Madeira zu stehen und (nicht ganz) in sich hinein zu weinen. Ohne esoterischer Eskapismus zu sein. Ganz im Hier und Jetzt. Und doch entrückt und seltsam beeindruckend vergänglich. Aber dann wiederum auch nicht hauntologisch.

Ich spende jetzt monatlich für „Greenpeace“. Und sah vor Stralsund im Hafen die „Arctic Sunrise“ liegen. Etwas verbeult, kleiner als ich dachte und doch mächtig, voller Mythen, Aktionen, guter Vorsätze und Ausstrahlung. Ihren Sound könnte ich mir wie von múm verfasst vorstellen.

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