Record of the Week

FKA twigs “Magdalene” (Young Turks)

FKA twigs
“Magdalene”
(Young Turks / Beggars Group)

Kaum eine historische Frauenfigur ist als Motiv so sehr in den popkulturellen Kanon eingegangen wie Maria Magdalena: die – mutmaßliche – Gefährtin von Jesus verkörpert die Archetypen Hure und Heilige, bietet also viel Interpretationsspielraum (besonders erfolgreich anno 1985 für Michael Cretu & Sandra, wir erinnern uns).

Auch Tahliah Debrett Barnett alias FKA twigs fand Hoffnung in Maria Magdalena: Nach einer Erkrankung, die sie für längere Zeit zum Pausieren zwang und einem einschneidenden Beziehungsende beschäftigte sich die Künstlerin ausführlich mit dem Magdalenen-Mythos. Auf ihrem neuen Album, produziert wie immer von ihr selbst, zusätzlich Skrillex und Jack Antonohoff, legt FKA twigs alle Emotionen offen, bis zur Schmerzgrenze und darüber hinaus: Maria Magdalena ist für sie die eindeutig feministisch konnotierte Heilige der Liebenden, derer, die sich ganz aufgeben und aus Trümmern wieder aufstehen.

Klingt pathetisch?
Ist es auch, aber bei FKA twigs wird große Kunst daraus: Standen ihre konstruktivistisch betitelten „EP 1“, „EP 2“ und „LP1“ mit den zersplitterten Beats und außergewöhnlichen Vocals für einen Neubeginn im R’n’B, reicht „Magdalene“ weit über den Popkontext hinaus, vergleichbar mit Kate Bush oder Björk, nur eben mit Beats. Denn die gibt es weiterhin, aber twigs erinnert sich auch ihrer klassischen Ballett- und Gesangsausbildung, setzt Tanz und Stimme stärker ein, baut Stücke wie „Home With You“ dramatisch auf wie Mini-Opern, im Opener „Thousand Eyes“ klingt ihr Gesang wie ein gregorianischer Choral, während sie in den Lyrics der Kraft weiblicher Magie huldigt.

„Fallen Alien“ ist ein so kraftvoller wie verletzlicher Track über Entfremdung und Ausgrenzung, die Ballade „Sad Day“ beginnt mit einem vibrierenden Piano, die Vocals flirrend wie Schmetterlingsflügel, dann setzen dunkle Bässe, fiepsende Synthies und 80er-Drumpads ein; im Quasi-Titeltrack „Mary Magdalene“ schichtet Barnett ihre Stimme zu einem vielschichtigen Chor, der „a woman’s work / a woman’s prerogative“ beschwört, dazu düstere Geigen, Klavier – es ist ein überwiegend klassisches Instrumentarium, mit dem twigs arbeitet, kombiniert mit ihrem avantgardistischen elektronischen Ansatz, sie liebt artifiziellen Drumcomputer-Sound, Sub-Bässe, die eine/n ins Schlingern bringen, Knarzen, Knacken, Störgeräusche: Die „Arbeit einer Frau“ ist eben nicht harmonisch und „schön“, sie tut weh.
Die Single „Cellophane“ rief in diesem Zusammenhang schon Kritik auf den Plan, es sei doch schade, dass eine große Künstlerin wie twigs so tief und hemmungslos in Selbstaufgabe und Verletzung bade:

„When you’re gone I have no one to tell / And I, just want to feel you’re there / And I don’t want to have to share our love / I try but I get overwhelmed“

Tja, wer jemals aus Liebe gelitten hat, wird twigs’ Lyrics nachvollziehen können…

Auf dem Trap-HipHop-Track „Holy Terrain“ ist Rapper Future aus Atlanta zu hören, der hier vielleicht zum ersten Mal Schwäche zeigt – eine sehr moderne Version von Männlichkeit (die übrigens gar nicht weh tut).
Aus der unverbrämten Präsentation von Schwäche und Verletzbarkeit zieht „Magdalene“ ihre große Kraft – wie eine Porzellanballerina, die sich selbst in Zellophan einpackt.

 

 

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